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       # taz.de -- Opernpremiere in Bochum: Die aus dem Wald kam
       
       > Krzysztof Warlikowski sorgt mit Debussys symbolistischer Oper „Pelléas et
       > Mélisande“ für einen grandiosen Auftakt der Ruhrtriennale.
       
   IMG Bild: Barbara Hannigan spielt Mélisande unergründlich
       
       Am Beginn fällt noch Tageslicht in die Bochumer Jahrhunderthalle und lässt
       den sparsam möblierten Riesenraum nüchtern industriell wirken. Parallel mit
       dem Unheil auf der Bühne verdunkelt sich die Halle, und wenn nach fast vier
       Stunden tiefe Nacht herrscht, ist das Zeitgefühl aus dem Takt.
       
       Der polnische Regisseur Krzysztof Warlikowski, Zeremonienmeister des
       abgründig Dekadenten, setzt ganz auf radikale Reduktion. Er nutzt die Weite
       des Raums für kühne Konstellationen und Spiegelungen, die den
       Kammerspielhorror der großbürgerlichen Familie in „Pelléas und Melisande“
       von Debussy ins Monströse vergrößert.
       
       Małgorzata Szczęśniak hat an die rechte Wand eine lange Holzvertäfelung
       gezimmert, wie sie nebenan in der Essener Industriellenvilla der Krupps
       zu finden ist. Weit hinten windet sich eine repräsentative Treppe um das
       Orchester, darüber eine breite Videowand. Links erinnert eine Reihe von
       Waschbecken an die Kauen der Bergwerke, davor ist eine verspiegelte Bar
       aufgebaut, auf der das Geschehen seinen beiläufigen – und hinzuerfundenen –
       Anfang nimmt.
       
       ## Wechsel zwischen Close-Up und Vogelperspektive
       
       Mélisande sitzt alkoholisiert und fahrig rauchend am Tresen, neben ihr
       beginnt Golaud ein banales Gespräch, das nicht recht vom Fleck kommen will.
       Dann erst kommt das restliche Personal auf die Bühne, applaudiert dem
       Orchester und Sylvain Cambreling hebt den Taktstock.
       
       Aber auch im Folgenden zeigt Krzysztof Warlikowski weder Schloss noch Wald,
       sondern spitzt die psychologischen Konstellationen zwischen Bar, Waschkaue
       und Salon unbarmherzig zu. Dazu setzt er äußerst effektvoll Kameras ein:
       Über dem Orchester zeigt er das Geschehen abwechselnd aus der
       Vogelperspektive oder holt einzelne Details ganz nah heran.
       
       Der virtuose Wechsel der Videobilder zwischen Close-ups und Totalen macht
       den ganzen Raum zu einem Hochspannungsfeld. Dabei hütet Warlikowski sich
       vor Aktionismus als Kontrapunkt zum ruhigen Fluss von Debussys Partitur,
       vielmehr verstärkt er den Sog der Klangspur mit zeitlupenartiger
       Konzentration.
       
       Warlikowski deutet die Geschichte der geheimnisvollen Mélisande, die
       Golaud im Wald findet und mit auf sein verwunschenes Schloss nimmt, wo ihre
       seltsame Anziehungskraft tödliches Unheil auslöst, als ein Panorama
       heutiger Einsamkeit und als Protokoll familiärer Gewaltzusammenhänge.
       Gestaute Gewalt lauert bei Warlikowski hinter jeder Geste, keiner ist
       unschuldig in dieser verstrickten Familie, die durch Mélisande aus ihrer
       fragilen Balance gerät.
       
       ## Ihr höhnisches Lächeln
       
       Die Sänger agieren wie Filmschauspieler, keine einzige Operngeste schleicht
       sich ein. Warlikowski lenkt den Blick vor allem auf Mélisande, die von der
       kanadischen Sopranistin Barbara Hannigan mit irritierender Vieldeutigkeit
       gespielt wird, eine zwischen Todestrieb, Lüsternheit und Verzweiflung
       schillernde Figur. Die Sopranistin spielt diese Mélisande wie eine
       Süchtige, mit undurchschaubarem Mienenspiel. Wenn das Unheil unausweichlich
       wird, lächelt sie triumphal und höhnisch, wie sonst nur Isabelle Huppert
       lächeln kann.
       
       Ihr leicht ansprechender, heller Sopran scheint keinerlei Mühen zu kennen.
       Alle weiteren Rollen sind ebenbürtig besetzt: Leigh Melrose ist ein
       zerrissener, vor Aggression bebender Golaud von imponierender Stimmkraft,
       Phillip Addis gibt dessen heimlichen Nebenbuhler Pelléas eine verträumt
       androgyne Note.
       
       Debussys Partitur verweigert sich opernhaften Höhepunkten, aber in ihrem
       scheinbar ruhigen Fluss brodelt es, das Drama wütet subkutan. Diese Tiefen
       und Untiefen lotet Sylvain Cambreling mit den Bochumer Symphonikern präzise
       aus und sorgt für höchste Transparenz und Klarheit.
       
       21 Aug 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Regine Müller
       
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