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       # taz.de -- Lutherjahr in Wittenberg: Zwölf Glaspaläste
       
       > Vor 500 Jahren schlug Martin Luther seine 95 Thesen an die Schlosskirche
       > in Wittenberg. Kunst und Wissenschaft erinnern dieses Jahr daran.
       
   IMG Bild: Krieg den Palästen? In Wittenberg erinnern die Glaspaläste zum Lutherjahr an die Reformation
       
       Anlässlich des 500. Jahrestags des Anschlags der 95 Thesen durch Martin
       Luther wird die Elbestadt Wittenberg von den evangelischen Kirchenoberen
       mit theologischen Harmlosigkeiten voller Volkscharakter geradezu überzogen.
       So gab es eine Segnung von Hunden im Besitz von Protestanten und von
       Flüchtlingsbooten im Schwanensee.
       
       Besonders fällt es bei dem in einem großen Kuppelbau gezeigten
       360-Grad-Panoramabild „Wittenberg 1517“ des auf „die größten Panoramen der
       Welt“ spezialisierten Künstlers Yadegar Asisi auf: Es ist serieller
       Kitsch. Man vergleiche dieses „Luther“-Bild nur mit dem „Müntzer“-Panorama
       im 360-Grad-Bauernkriegsdenkmal auf dem Schlachtberg in Frankenhausen. An
       diesem „größten Denkmal der Welt“ malte Altmeister Werner Tübke mit
       Assistenten sechs Jahre. Luthers radikaler Gegenspieler Müntzer kommt
       übrigens in Wittenberg gar nicht vor.
       
       Diese „Weltausstellung Reformation“ konterkarieren in der Wittenberger
       Altstadt zwölf „Glaspaläste“ auf Rädern, kuratiert von der bei Bazon Brock
       promovierten und an der Universität Wien lehrenden Künstlerin Michaela
       Rotsch zusammen mit der Soziologin Irmtraud Voglmayr von der Universität
       Wien. Jeder von ihnen ist so groß oder klein wie ein Wohnwagen. Darin – in
       dieser „interaktiven Raumstruktur zwischen Kunst und Wissenschaft“ –
       hinterließ eine internationale Gruppe von etwa 20 Wissenschaftlern und
       Künstlern mit verschiedenen Mitteln „Zeichen der Zeit“.
       
       Die Arbeit des Mikrobiologen Manfred Gödel etwa findet im
       „Epidemiology-Palast“ statt – und lebt: Sie besteht aus circa 60
       Petrischalen mit Bakterienkulturen in verschiedenen Farben und Formen, die
       an der Glasdecke hängen und zum Teil mit den Namen des Bakterienspenders
       beschriftet sind.
       
       Die „Spenden“ gewann der Wissenschaftler von den Betreffenden (unter
       anderem am Bahnhof der Lutherstadt), indem er kurz ein Tuch auf deren
       Gesicht gelegt und die daran haftenden Bakterien dann auf eine
       Agar-Nährlösung abgesetzt hatte, wo sie sich fortan vermehrten. Wenn ihre
       Nahrung in der Petrischale knapp wird, können sie laut Gödel über ein
       „chemisches Quorum Sensing“ (eine Art Vollversammlung) ihren
       Ressourcenverbrauch drosseln und ihren Stoffwechsel gegebenenfalls auch
       auf andere Stoffe ausdehnen.
       
       ## Wandernde Glaspaläste
       
       Den Bogen zur Reformation schlägt Gödel mit einer Statistik und einer
       Grafik, die wiederum in der Hängung der Petrischalen ihren Ausdruck findet.
       Sie zeigt, von links nach rechts, die Bakterienspender, die anonym bleiben
       wollen und die, die mit ihrer Petrischale so umgehen wie mit einem Selfie,
       das man auf Facebook postet. Im Übrigen breitete sich auch die Reformation
       einst „epidemisch“ aus, anders kann der Mikrobiologe sich ihren Erfolg
       nicht erklären (viele Sozialwissenschaftler ebenfalls nicht).
       
       Die zwölf „Glaspaläste“ wandern in Wittenberg. Dazu werden sie hinter einen
       Pkw gehängt. Bei einem gepflegten „Luther-Reformations-Pils“ erfuhr ich von
       der Veranstalterin Michaela Rotsch unter anderem, dass es sich bei den
       Worten, mit denen die Soziologin Natasha A. Kelly im „African Diaspora
       Palast“ ein Glas in Buchform beschrieben hat, um Zitate aus der
       philosophischen Doktorarbeit von Anton Wilhelm Amo an der Universität Halle
       handelt, der 1729 der erste afrikanische Privatdozent Europas wurde. Seine
       Dissertation handelte von der „Rechtsstellung der Mohren in Europa“.
       
       Im „Bagdad-Palast“ geht es um Grenzen und ihre Überwindung. Hier hat der
       irakische Künstler Kadir Fadhel sein unangenehmes Erlebnis in Mexiko, wo
       man ihn nicht ins Land lassen wollte, zeichnerisch dargestellt. In der
       ersten von drei Ausgaben des „Glaspaläste-Journals“ erzählt er jedoch auch
       von einer gelungenen Grenzüberwindung: „Eine deutsche Künstlerin sah meine
       Arbeit in Bagdad, kontaktierte eine Kunstinstitution, die mich als Künstler
       nach Deutschland einlud. So begann ich die Grenze der arabischen
       Gesellschaft zu überschreiten.“
       
       Die Soziologin Marina Klimchuk stellt in ihrem „Tel-Aviv-Palast“ viel Text
       aus, der von einem „Hinterhof der Globalisierung“ handelt: dem isolierten
       Migrantenviertel „Neve Shaanan Street“ in Tel Aviv, in dem unter anderem
       Eritreer wohnen. Klimchuk bearbeitete ihre sozialarbeiterischen Erfahrungen
       mit dortigen Flüchtlingskindern zusammen mit in Wittenberg lebenden
       Eritreern, wobei es – in Form eines Straßenfestes – um die Frage ging: „Was
       ist die Grenze zwischen dir und den Nachbarn/Zwischen Neve Shaanan und der
       Welt?“
       
       Von „Grenzen des Geschmacks“ handelt die Arbeit von Soziologiestudenten in
       ihrem „Wien-Palast“, in dem sie etwa einige Tomatenpflanzen pflegen statt
       der „Luther-Tomate“, die im Wittenberger Ortsteil Piesteritz im dortigen
       Stickstoffwerk mit Stickstoff aufgezogen wird. Hinzu kommen lokale Produkte
       wie die „Wikana“-Kekse und die Margarine aus der Unilever-Fabrik.
       
       ## Bleibendes Refugium
       
       Einen der Glaspaläste ließ die künstlerische Leiterin Michaela Rotsch
       einbetonieren – in Kontrast zu den mobilen Glaspalästen, die Wittenberg im
       September wieder verlassen werden – „als bleibendes Refugium für die
       Wittenberger,“ zumindest für ihre Jugend, die den grauen Kubus bereits mit
       Sprüchen bedacht hat (sie hatten bisher noch keine Wandzeitungsfläche in
       der Stadt).
       
       In der Wittenberger „Exerzierhalle“, vor der die zwölf Glaspaläste derzeit
       stehen, fand ein „Glaspaläste-Panel“ statt, auf dem die Wiener Soziologin
       und Mitorganisatorin Irmtraud Voglmayr, der für das Wittenberger
       „Citymarketing“ zuständige Johannes Winkelmann und der Hochschulforscher
       der Universität Halle-Wittenberg Peer Pasternack über
       „Festivalisierungspolitik“ diskutierten.
       
       Zuletzt guckte ich mir noch die üppig mit Blumen und Bäumen begrünte Stadt
       an. Auf dem Marktplatz steht ein Sockel, auf dem sich ein roter Würfel
       befindet mit der Aufschrift „Hier stehe ich“. Viele Wittenberg-Besucher
       lassen sich auf ihm stehend fotografieren.
       
       Im eintrittfreien Tierpark sah ich mir die Erdmännchen an. Eins davon
       schienen die Wittenberger gut zu kennen – den „Aufpasser“ nannten sie ihn:
       Er hält vorne auf einem Baumstumpf Wache, während die anderen hinten unter
       einer Wärmelampe schlafen. In der Thalia-Buchhandlung fand ich einen
       nachgedruckten DDR-„Mosaik“-Comic über die „Abenteuer mit Luther, Cranach &
       Co“ sowie ein Buch mit dem Titel „Das Erdmännchen-Prinzip. Aus Krisen als
       Gewinner hervorgehen“.
       
       30 Aug 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Helmut Höge
       
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