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       # taz.de -- Essay Zukunft der Europäischen Union: Nationalstaaten als Hindernis
       
       > Auf den einen Markt, die eine Währung muss die eine Demokratie folgen.
       > Sie muss europäisiert werden, soll das Projekt Europa nicht scheitern.
       
   IMG Bild: Huch, ein Bundestoast
       
       Es geht ihm nicht gut derzeit, dem Nationalstaat in Europa. Er wird arg in
       die Zange genommen. Von oben fummelt die EU an ihm herum, die sich derzeit
       mit Vertragsverletzungsverfahren in die nationalen Demokratien zum Beispiel
       [1][von Ungarn] oder [2][Polen] einmischt. Von unten begehren [3][die
       Katalanen], die Schotten oder auch die Bayern auf, die es vermeintlich
       allein können. Wobei unklar bleibt, was sie allein „können“: einen eigenen
       Staat haben und eine eigene Währung oder Armee dazu? Oder nur eine Art
       autonomen Staat ohne Letzteres?
       
       Fest steht, dass der europäische Nationalstaat in einer ziemlichen
       Sandwichposition ist. Was eine Nation ist und zugleich was sie darf,
       verschwimmt zunehmend. Die Nation wird heute zwischen europäischer und
       regionaler Ebene zerrieben. Ob zum Beispiel die Schotten oder die Katalanen
       nur „Region“ oder doch „Nation“ sind, geht immer mehr durcheinander;
       genauer: ob sie Ersteres bleiben müssen oder Letzteres werden dürfen. In
       welcher historischen Formation eine Nation gerade auftritt, ist historisch
       kontingent. Was zu einer gegebenen Zeit als Nationalstaat bezeichnet wird,
       ist ein Artefakt menschlichen Handelns. Nationalstaaten wurden und werden
       gemacht.
       
       Es gibt also keine „nationalstaatliche Ontologie“, sondern es ist immer
       eine Bewegung. Das vorerst letzte Stück dieser historischen Bewegung konnte
       man zum Beispiel in Europa vor rund zehn Jahren im Kosovo bewundern, das zu
       einem „Nationalstaat“ gemacht wurde, der inzwischen von 115 Staaten
       offiziell als solcher anerkannt wird, nicht etwa weil es einen
       „kosovarischen Demos“ gab, sondern weil vor allem die USA das damals so
       wollten.
       
       Schon 1963 hat der berühmte (und im Übrigen konservative) Historiker
       Theodor Schieder in einem kleinen Essay den Nationalstaat als historisches
       Phänomen bezeichnet und darauf hingewiesen, dass die
       Nationalstaatsgründungen in Europa in der jüngeren Geschichte eine
       dreistufige Bewegung waren: In der ersten Etappe bildete sich die moderne
       Nation in England und Frankreich durch innerstaatliche Revolution, in der
       die staatliche Gemeinschaft auf den Volkswillen, die volonté générale,
       übertragen wurde. Die englische Monarchie bekam ein Parlament, Frankreich
       wurde sogar zur Republik.
       
       Das subjektive Bekenntnis der Bürger zum nationalen Staat wurde das
       einigende Kriterium, nicht etwa Sprache, Volksgeist oder Nationalcharakter.
       Nation war in erster Linie Staatsbürgergemeinschaft – mit gleichen Rechten
       für gleiche Bürger, und zwar unabhängig von deren ethnischer Herkunft. Der
       homogene Nationalstaat, um den heute scheinbar wieder gerungen wird, war
       schon damals eine Schimäre: Basken und Elsässer sprachen nicht die gleiche
       Sprache.
       
       Die zweite Phase bringt vor allem in Westeuropa – deutscher Vormärz und
       italienisches Risorgimento – die Entstehung von Nationalstaaten aus bis
       dato in staatlicher Hinsicht getrennten Teilen von (Kultur-)Nationen. Es
       ist die Stunde der nationalen Einigungsbewegungen, denen vor allem im
       deutschen Idealismus, etwa bei Herder, die zunächst unpolitisch verstandene
       Idee eines Volkes zugrunde liegt, das noch nicht in einer übergreifenden
       Staatlichkeit mit geschlossenem Staatsbürgerverband geeint ist. Genau dies
       hat Garibaldi in Italien und Bismarck in Deutschland im 19. Jahrhundert
       dann gemacht: aus den Hessen, Bayern, Franken und Pfälzern wurden
       dieDeutschen. Heute ist vergessen, dass sich die deutschen Truppen im
       Deutsch-Französischen Krieg von 1870 bis 1872 wegen der Sprachenvielfalt
       und der Dialekte kaum untereinander verständigen konnten, sodass es zum
       Problem für den Generalstab wurde.
       
       Ein zentrales Element der nationalstaatlichen Einigung waren freie, gleiche
       und geheime Wahlen. Die Wirkung des Gleichheitsversprechens auf
       Gesellschaften steht am Ursprung jeder demokratischen Revolution. Das
       rechtliche Prinzip hat eine symbolische Wirkung und entfaltet
       universalistische Integrationsmacht. Die Einheit der deutschen Nation wurde
       also nach dem Paulskirchenprozess im Wesentlichen über Wahlrechtsgleichheit
       herbeigeführt.
       
       In der dritten Phase schließlich ging es vor allem in Mittel- und Osteuropa
       im Wesentlichen um die Dekonstruktion zunächst der alten Imperien des
       19. Jahrhunderts – habsburgisch-österreichisch, russisch beziehungsweise
       osmanisch-türkisch –, die gleichsam zur ersten Runde der osteuropäischen
       Nationalstaatsbildung in der Zwischenkriegszeit geführt hat. Die zweite
       Runde der osteuropäischen Nationalstaatsbildung war dann die
       Dekonstruktion der damaligen UdSSR sowie Jugoslawiens, was der
       Weltgemeinschaft wieder ein paar Nationen mehr bescherte. Dieser Prozess –
       und er dürfte nicht zu Ende sein, beobachtet man aktuelle Ereignisse in
       Russland oder der Ukraine – war und ist ein Prozess der
       Nationalstaatsbildung durch Abtrennung oder Sezession.
       
       ## Souverän ist immer nur der Bürger
       
       Bei derlei Fluktuation von Nationalstaatlichkeit ist es nur verwunderlich,
       wie sich der derzeitige europäische Kurs am Nationalstaat festklammert.
       Kaum eine Diskussion zur EU und ihrer Krise vergeht, in der die –
       vermeintlich souveränen – Nationen im Gefüge der EU nicht als unabänderlich
       gesetzt werden und ihre Veränderung oder gar Auflösung als unmöglich und
       utopisch erscheint.
       
       Dabei führt an zwei Feststellungen kein Weg vorbei: Der EU-Rat als
       gleichsam „nationale Kammer“ im EU-System und die „intergouvernementale
       Basis“, auf der die Zusammenarbeit und Entscheidungsfindung in der
       Europäischen Union fußt, ist das wesentliche Hindernis bei der Lösung
       der europäischen Probleme. Die EU wird als Plattform zur Durchsetzung
       nationaler Interessen begriffen, was regelmäßig zu nächtlichen
       Verhandlungsmarathons führt. Und zweitens: Nationalstaaten sind nicht der
       Souverän, denn Souverän sind immer nur die Bürger.
       
       Daraus ergibt sich, dass wir den Nationalstaat innerhalb Europas nicht nur
       nicht mehr brauchen; sondern dass er das eigentliche Hindernis auf dem Weg
       zu einem demokratischen Europa ist. Weswegen die viel zitierten
       Gründungsväter der EU (Jean Monnet oder Walter Hallstein) übrigens immer
       davon sprachen, dass Europa die Überwindung der Nationalstaaten bedeutet,
       nur dass das heute keiner mehr hören will.
       
       Denn nichts spricht dagegen, dass wir als europäische Bürger in einem
       europäischen Vormärz, also einer europäischen Einigungsbewegung, genau das
       machen, was damals die Deutschen nach dem Hambacher Fest machten, nämlich
       dass wir über allgemeine, gleiche und geheime Wahl unabhängig von
       „nationaler Ethnie“ oder Demos zu einer europäischen Nation im Sinne
       einer Staatsbürgergemeinschaft werden. Für diese europäische
       Staatsbürgergemeinschaft müsste es ebenso unerheblich sein, Finne,
       Portugiese oder Grieche zu sein, wie es damals unerheblich war, Hesse oder
       Pfälzer zu sein.
       
       Es hieße nichts anders – und nichts Simpleres –, als dass perspektivisch
       alle europäischen Bürger gleiche Rechte genießen: gleiches Wahlrecht („eine
       Person, eine Stimme“), gleiche Steuern und gleiche soziale Rechte. Anders
       formuliert: Nach Euro und der europäischen IBAN kommt als Nächstes die
       europäische Steuernummer, dann die europäische
       Sozialversicherungsnummer und schließlich der europäische
       Personalausweis.
       
       ## Neues Gefäß finden
       
       Es geht hier also nicht um einen Frontalangriff auf die Nation im Sinne von
       gemeinsamer Geschichte, Tradition oder Identität. Sondern es geht um die
       Nation als einzig vorstellbares Gefäß für die Demokratie. Die Demokratie
       aber muss europäisiert werden, soll das europäische Projekt nicht vor die
       Wand gefahren werden. Auf den einen Markt und die eine Währung muss die
       eine Demokratie folgen, die auf der politischen Gleichheit ihrer souveränen
       Bürger, also einer europäischen Staatsbürgergemeinschaft beruht, statt auf
       einem zwar legalen, aber nur indirekt legitimierten EU-System, das ein
       erhebliches Demokratiedefizit aufweist und in dem die Bürger der einzelnen
       europäischen Nationalstaaten bei der Besteuerung oder bei sozialen Rechten
       stets gegeneinander ausgespielt oder zueinander in Konkurrenz gesetzt
       werden.
       
       Dies würde der Tatsache Rechnung tragen, dass eine Währungsunion de facto
       schon ein Gesellschaftsvertrag ist, der jetzt nur noch fiskalisch und
       sozialpolitisch eingebettet werden muss. In einer europäischen
       Staatsbürgergemeinschaft mag der Begriff der „Nation“ als
       identitätsstiftender Raum oder für den emotionalen Zusammenhalt noch
       wichtig sein und seine Bedeutung beibehalten. Als Faktor der normativen
       Ausgestaltung der europäischen Staatsbürgerrechte wäre die nationale
       Zugehörigkeit indes unerheblich. Und das wäre das Entscheidende für eine
       europäische Demokratie. Nein, innerhalb Europas brauchen wir den
       Nationalstaat nicht mehr!
       
       10 Sep 2017
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Ulrike Guérot
       
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