URI: 
       # taz.de -- Wen wählen bei der Bundestagswahl?: Ganz im Ernst
       
       > SPD zu unsozial, Linke außenpolitisch indiskutabel, Grüne auch falsch.
       > Warum ein taz-Redakteur für die Satirepartei Die PARTEI stimmt.
       
   IMG Bild: Wählen heißt, ins Parlament Stellvertreter zu entsenden, die die eigenen Interessen vertreten
       
       Deutschland hat eine konservative Partei, die nicht mehr konservativ ist,
       eine sozialdemokratische, die nicht mehr sozialdemokratisch ist und eine
       Satire-Partei, die nicht sonderlich komisch ist. Trotzdem werde ich am 24.
       September die PARTEI wählen. Sie ist mein kleineres Übel.
       
       Warum nicht SPD, Grüne oder Linkspartei? Oder die FDP, die anonymen
       Umfragen zufolge selbst in der taz inzwischen WählerInnen haben soll? Oder
       die liberale Merkel-CDU?
       
       Mein Vater ist klassischer Bildungsaufsteiger der 60er Jahre. Begonnen hat
       er als Hilfsarbeiter, später, mit über 30, wurde er Hauptschullehrer. Meine
       Mutter war Hausfrau. Ein nennenswertes Erbe habe ich nicht zu erwarten.
       Damit gehöre ich zu den 40 Prozent der Bevölkerung, die über kein Vermögen
       verfügen.
       
       Das taz-Gehalt liegt unter dem üblichen Journalisten-Tarif, etwa auf Höhe
       von dem, was Alten- oder KrankenpflegerInnen verdienen. Ein paar prekäre
       Jahre nach meinem Studium mitberücksichtigt, ist das Ergebnis – falls ich
       nicht den Job wechsle – wie für viele Angehörige der unteren Mittelschicht:
       Altersarmut.
       
       ## Gebraucht: klassisch sozialdemokratische Politik
       
       In Berlin ist zwar nach langen Jahren der Austerität endlich der Aufschwung
       angekommen. Aber davon habe ich nichts – im Gegenteil: Die Mieten steigen
       aufgrund des großen Zuzugs und der höheren Durchschnittseinkommen. Früher
       konnte man mit einem taz- oder KrankenpflegerInnengehalt in Berlin gut
       auskommen, jetzt nicht mehr. Wie die jetzige Miethöhe mit meiner absehbaren
       Rente zusammengehen soll, ist nicht zu sehen.
       
       Was ich – ebenso wie viele andere Angehörige der unteren Mittelschicht –
       also bräuchte, wäre eine klassisch sozialdemokratische Politik: eine, die
       entweder die Renten so erhöht, dass sie für die steigenden Mieten reicht.
       Oder eine wirksame Mietpreisbremse und massiven öffentlichen Neubau, die
       die Mieten so senken, dass sie mit den jetzigen Gehältern und der Rente
       bezahlbar bleiben.
       
       ## SPD nicht, Grüne nicht, Linke nicht
       
       Wählen heißt, ins Parlament Stellvertreter zu entsenden, die die eigenen
       Interessen vertreten. Die Wahl der Grünen, die diesmal auf das E-Auto als
       Wahlkampfschlager setzen, kommt daher für mich nicht in Frage.
       
       Rätselhafter ist, warum die SPD das Thema Mieten nicht in den Fokus stellt,
       obwohl es einen bedeutenden Teil ihrer Wählerschaft umtreibt. Im Wahlkampf
       spielte es kaum eine Rolle, auch unter den Knackpunkten, die Martin Schulz
       für Koalitionsverhandlungen aufgestellt hat, taucht es nicht auf.
       
       Die Linkspartei wäre sicher die konsequenteste Vertreterin meiner
       Interessen. Sie fordert umfangreiche Investitionen in den sozialen
       Wohnungsbau und einen neuen gemeinnützigen Wohnungsbau. Bekäme sie 8 oder 9
       Prozent und es käme wider Erwarten zu Rot-Rot-Grün, könnte sie gegen die
       SPD aber nicht viel durchsetzen.
       
       Erhielte die Linkspartei hingegen 15 oder 16 Prozent, würde sie auch in der
       Außenpolitik durchsetzungsfähiger. Sie würde zu russischen Bombern über
       syrischen Städten ebenso schweigen wie zu Menschenrechtsverletzungen in
       Venezuela. Und falls die Linkspartei das Entwicklungsministerium in ihre
       Hand bekäme, dürfte die kubanische Diktatur jubeln.
       
       SPD und Grüne wähle ich nicht, weil sie meine wichtigsten Interessen nicht
       vertreten. Die Linkspartei wähle ich nicht, weil ich meine Interessen nicht
       auf Kosten von kubanischen und syrischen Oppositionellen vertreten sehen
       möchte.
       
       ## Die SPD kann nicht sozialer sein
       
       Und warum nun die PARTEI – und nicht einfach Nichtwählen oder eine der
       anderen kleinen Parteien wählen? Eine bessere SPD wird es nicht geben, ohne
       dass die Agenda-Generation endlich abtritt.
       
       „Ich bin im fliegenden Wechsel im Februar an den Start gegangen und habe
       den Auftrag, diese Partei als relevante Kraft zu erhalten. Dazu gehört ein
       integrativer Führungsstil“, sagte SPD-Chef Martin Schulz [1][im
       taz-Interview.] Mit anderen Worten: Die SPD konnte nicht sozialer sein,
       weil noch immer dieselbe Generation am Ruder ist, die schon zu Schröders
       Zeiten Verantwortung innehatte.
       
       ## 2021 kann man wieder etwas Richtiges wählen
       
       Rutscht die SPD diesmal unter die 23 Prozent von 2009, könnte das Ende der
       Agenda-Generation besiegelt sein. Rücksicht auf vergangene Beschlüsse muss
       danach niemand mehr nehmen. Deshalb: Diesmal ist ein möglichst schlechtes
       Ergebnis für die SPD wichtig, Nichtwählen reicht nicht. In einer ihrer
       wenigen lustigen Aktionen hat die PARTEI das als Wahlziel ausgegeben: FDP
       und AfD unter 5 Prozent drücken – und „mit ein wenig Glück auch die SPD“.
       
       Allein für diesen Witz bekommt die PARTEI meine Stimme (und nicht eine der
       anderen kleinen Parteien). Und 2021, wenn Schulz, Oppermann und Gabriel weg
       sind, wenn die Grünen wieder mehr als Öko pur zu bieten haben und wenn die
       Linken endlich ihre Steinzeitkommunisten von der Außenpolitik fernhalten,
       kann man auch wieder etwas Richtiges wählen.
       
       *Auch bei der taz gilt das Wahlgeheimnis. Deshalb schreibt der Redakteur
       hier unter Pseudonym.
       
       12 Sep 2017
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Martin-Schulz-im-taz-Interview/!5443118
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jochen Rödder*
       
       ## TAGS
       
   DIR Lesestück Meinung und Analyse
   DIR Schwerpunkt Bundestagswahl 2025
   DIR Demokratie
   DIR Satire
   DIR Die Partei
   DIR Satire
   DIR Serdar Somuncu
   DIR Schwerpunkt Bundestagswahl 2025
   DIR Auf verlorenem Posten
   DIR Schwerpunkt Bundestagswahl 2025
   DIR Schwerpunkt Bundestagswahl 2025
   DIR Flüchtlinge
   DIR Türkei
   DIR Schwerpunkt Bundestagswahl 2025
   DIR Wahlkampf
   DIR Serdar Somuncu
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Medienwissenschaftler über Satire: „Eine politische Einstiegsdroge“
       
       Dennis Lichtenstein und Cordula Nitsch haben den politischen Inhalt von
       Satire-Sendungen verglichen. Bürger wollen Politik unterhaltsam
       konsumieren, sagt er.
       
   DIR Martin Kaul konnte sie nicht stoppen: Die Partei verfünffacht Ergebnis
       
       Die Satirepartei erhielt bundesweit genau 1,0 Prozent der Zweitstimmen.
       Über 450.000 Wähler votierten für sie. Finanziell lohnt sich das Ergebnis.
       
   DIR Urteil zu „Die Partei“: Konsequent gespielt
       
       „Die Partei“ muss für ihren Trick mit dem Geldhandel keine Strafe zahlen.
       Die Affäre war eine konstruktive Realsatirepolitik.
       
   DIR Bergpartei in Berlin: Irgendwann Anarchie
       
       Die Bergpartei stellt sich zur Wahl, will aber in kein Parlament rein. Was
       sie möchte: Zum Nachdenken anregen und das Parlament abschaffen.
       
   DIR Kolumne Lügenleser: Treibjagd an die Wahlurnen
       
       Alle Welt soll unbedingt wählen gehen. Vor allem die Erstwähler sind heiß
       umkämpft. Doch wozu? Ganz ehrlich: Keine Wahl ist auch eine Wahl.
       
   DIR PARTEI wählen ist das Letzte: Elitär, bourgeois und amoralisch
       
       Sie machen auf aufgeklärt, sind zynisch und wählen die PARTEI. Sie denken,
       das sei Protest. Mit diesen Schnupsis ist kein Staat zu machen.
       
   DIR SPD-Kandidat Martin Schulz beim ZDF: Gegen „hemmungslose Ausbeutung“
       
       In der ZDF-Sendung „Klartext“ spricht der SPD-Kandidat über Mieten, Pflege,
       Diesel und Flüchtlinge. Er will noch ein Duell mit Bundeskanzlerin Merkel,
       diese lehnt ab.
       
   DIR Rüstungsdeals mit der Türkei: Waffenexporte, mehr oder weniger
       
       Außenminister Gabriel verzögert Rüstungsexporte in die Türkei. Die richtig
       großen Geschäfte macht die Türkei aber eh mit Russland.
       
   DIR Satire im Wahlkampf: Die PARTEI macht Politik nicht besser
       
       Politik ist bieder, die Medien sind es auch – nur Satire kann die
       Verhältnisse noch kritisieren, so eine gängige These. Doch sie stimmt
       leider nicht.
       
   DIR Satire im Wahlkampf: Die einzige ernstzunehmende Politik
       
       Die verlogene Politik der AfD wird am besten mit Satire verarbeitet.
       Deshalb ist die „Spaßpartei“ Die PARTEI oft effektiver als die „ernsten“
       Parteien.
       
   DIR Serdar Somuncu über Politik und Satire: „Die reden über Mütter oder Ikea“
       
       Der Kabarettist Serdar Somuncu ist zur Bundestagswahl „Kançlerkandidat“ der
       Satirepartei „Die Partei“. Er will die Homoehepflicht für alle – und
       kritisiert seine Zunft.