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       # taz.de -- TV-Duell zur Bundestagswahl 2017: Merkel routiniert, Schulz angespannt
       
       > Merkel entdeckt das Dankeschön, Schulz trifft nicht und manche Frage
       > wirkt wie von der AfD aufgeschrieben. Das TV-Duell im Überblick.
       
   IMG Bild: Schulz wollte Merkel stellen – doch sie lässt ihn routiniert abtropfen
       
       Berlin taz | Angela Merkel übernimmt am Ende auch noch den Job der
       Regisseurin. Das TV-Duell ist zuende, die Kanzlerin spricht ihr Schlusswort
       – und landet einen Coup. Merkel bedankt sich höflich bei den Zuschauern,
       dass sie sich Zeit genommen haben. Sie zählt Themen auf, die nicht
       besprochen wurden, die Digitalisierung und die Bildung, das Herzensthema
       ihres Konkurrenten. Dann wünscht sie den Zuschauern freundlich lächelnd
       „noch einen schönen Abend“.
       
       Das dürfte die Stimmung vieler der Millionen ZuschauerInnen treffen, die
       nach diesen 95 Minuten erschöpft zu Hause auf der Couch zusammensacken.
       Merkel und SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz lieferten sich einen
       faktenreichen Fight, wie bei diesem Format üblich galoppierten die
       Moderatoren durch dutzende Themen. Flüchtlinge, Europa, Türkei, Nordkorea,
       Gerechtigkeit. Pro Antwort bitte nur 60 bis 90 Sekunden, gerne auch nur ein
       Ja oder Nein.
       
       Bringt das TV-Duell neue Dynamik in den Wahlkampf? Schulz' SPD liegt in
       Umfragen 14 Prozentpunkte hinter Merkels Union, das scheint uneinholbar.
       Vor allem die Sozialdemokraten hatten deshalb Hoffnungen in das Duell
       gesetzt. Das einzige Aufeinandertreffen der Kanzlerin und ihres
       Herausforderers im Wahlkampf ([1][taz-Vorbericht]) könnte die SPD aus einer
       aussichtslosen Lage heraus wieder ins Spiel bringen, hieß es in der Partei.
       
       Das Duell biete Chancen: Schulz könne Merkel endlich stellen, die sich
       gerne wegduckt und ihren Konkurrenten am liebsten gar nicht erwähnt. Und,
       betonten SPDler, Schulz könne in dem langen Format die durchbuchstabierten
       Inhalte direkt an den Mann und die Frau bringen. Einen „Meilenstein“ im
       Wahlkampfmarathon nannte Manuela Schwesig, Mecklenburg-Vorpommerns
       Regierungschefin, das mit Spannung erwartete Duell kurz vor dem Start im
       Pressezentrum vor dem Studio in Berlin-Adlershof.
       
       ## Merkel routiniert, Schulz angespannt
       
       Um es gleich zu sagen: Schulz schaffte es nicht, die schimmernde Rüstung
       Merkels zu durchbrechen. In den entscheidenden Momenten wirkte Merkel
       faktensicherer und routinierter, während man Schulz den Druck und die
       Anspannung manchmal deutlich anmerkte.
       
       Das Los hat ihm die erste Frage zugeteilt, und schon sein Start ist
       defensiv. Auf dem SPD-Parteitag im Juni hatte er Merkel wegen ihrer
       einschläfernden Wahlkämpfe einen „Anschlag auf die Demokratie“ vorgeworfen.
       Einen so zugespitzten Satz, sagt er jetzt, würde er nicht noch einmal
       sagen. Aber: „Man kann die Demokratie nicht im Schlafwagen voranbringen.“
       Irgendwie ist sein Satz also okay, irgendwie aber auch nicht.
       
       ## Ausführlich: Flüchtlingspolitik
       
       Dann geht es ausführlich um die Flüchtlingspolitik. Merkel verteidigt
       einmal mehr ihre Entscheidung aus dem Herbst 2015, Flüchtlinge aus Ungarn
       in Deutschland aufzunehmen. Damals wanderten verzweifelte Menschen in
       Ungarn über die Autobahn auf Österreichs Grenze zu. Ziel: Deutschland. Sie
       habe in sehr dramatischen Situationen Entscheidungen getroffen, sagt sie.
       Es sei um Menschen gegangen. Wasserwerfer gegen Tausende seien keine
       Lösung.
       
       Schulz steckt hier in einem Dilemma, das seine gesamte
       Herausfordererstrategie belastet. Er findet Merkels damaligen Entschluss im
       Kern richtig. So ist es auch bei anderen Themen. Seine SPD hat Merkels
       Flüchtlingskurs mitgetragen, die entscheidenen SPD-Minister Sigmar Gabriel
       und Frank-Walter Steinmeier waren eingeweiht. Deshalb attackiert Schulz
       Merkel lieber bei einem Nebenthema: Merkel habe sich nicht mit EU-Partnern
       abgestimmt, sagt er – deshalb hätten sich manche Staatschefs von
       Deutschland abgewendet.
       
       ## Fragen wie von der AfD
       
       Hätte die rechte Regierung Polens plötzlich ihr Herz für Geflüchtete
       entdeckt, wenn Merkel vor ihrer Entscheidung angerufen hätte? Das darf
       bezweifelt werden, Schulz‘ Kritik geht ins Leere. Das TV-Duell wirkt nun
       lange Minuten so, als hätten AfD-Politiker den Journalisten ein paar Fragen
       auf einem Zettel reingereicht. Sat.1-Mann Claus Strunz darf sich rühmen,
       mehrfach nachzuhaken. Hat Merkel einen schweren Fehler begangen? Warum
       werden ausreisepflichtige Flüchtlinge nicht effizienter abgeschoben?
       
       Dann, an den SPD-Kanzlerkandidaten gerichtet: Schulz habe mal gesagt, dass
       das, was die Flüchtlinge mitbrächten, wertvoller sei als Gold. Ob das eine
       Fehleinschätzung gewesen sei – angesichts der Straftaten von Flüchtlingen?
       Schulz korrigiert den Journalisten. Er habe gesagt, was die Flüchtlinge
       mitbrächten, sei wertvoller als Gold, nämlich der Glaube an Europa. Dass
       ein Journalist in einem so professionell vorbereiteten Format vor
       Millionenpublikum Zitate verfälscht, ist – das aber nur am Rande – mehr als
       peinlich.
       
       ## Schulz fremdelt, Merkel präsent
       
       Beim Entscheidenden aber scheut Schulz die Attacke. Als Merkel sich für den
       fragwürdigen Deal der EU mit der Türkei lobt, kommt keine Widerrede. Die
       SPD weiß ja auch keine bessere Lösung. Beim Duell wird immer wieder
       deutlich, dass manchmal schlicht keine Differenz zwischen beiden existiert.
       
       Dann die Optik, die bei solchen Duellen mehr entscheidet als das Gesagte.
       Schulz fremdelt sichtbar mit dem schnellen Hin- und Her. Er schaut oft
       schräg vor sich auf den Boden, also weder zu seiner Konkurrentin noch zu
       den Zuschauern in die Kamera. Mit dieser Blickrichtung sieht er seltsam
       geistesabwesend aus, während Merkel munter und präsent wirkt.
       
       Als es um muslimische Einwanderer geht, will Schulz Sätze eines
       schiitischen Philosophen zitieren, die er sich extra herausgesucht hat.
       Schulz denkt sekundenlang nach, verhaspelt sich, ist kaum verständlich.
       [2][Auf Twitter schreibt sein Sprecher, wie es korrekt heißen muss]:
       „Jenseits von richtig oder falsch gibt es einen Ort, dort treffen wir uns.“
       Das ist schlicht zu komplex für Fernsehen.
       
       Merkel ist da schlauer. Sie bedankt sich erstmal bei den Freiwilligen, die
       in der Flüchtlingskrise Unglaubliches geleistet hätte. Machtsicherung durch
       ein nettes Dankeschön, Merkel hat einen neuen Trick entdeckt. Immer wieder
       bringt sie konservative Reizwörter unter, die auch bei vielen SPD-Wählern
       gut ankommen dürften. „Moscheen schließen“, „Null Toleranz“. Das kommt an
       in der Eckkneipe, aber in der Sache sagt sie nichts Neues.
       
       ## Türkeifrage: Schulz prescht vor
       
       Bei der Türkeipolitik geht’s dann zur Sache. Wie kann Deutschland den
       türkischen Autokraten Recep Tayyip Erdoğan stoppen, der Unschuldige wegen
       unsinniger Terrorvorwürfe inhaftieren lässt? Schulz prescht vor. Als
       Kanzler werde er bei den EU-Partnern dafür werben, die
       Beitrittsverhandlungen mit der Türkei abzubrechen. „Wir würden jemanden in
       die EU aufnehmen, der erkennbar alle Werte in Frage stellt.“ Merkel bleibt
       softer. Wenn man deutsche Staatsbürger freibekommen wolle, müsse man im
       Gespräch bleiben.
       
       Das ist ein wichtiger Unterschied: Merkel ist im Korsett des Amtes
       gefangen, jedes Wort zu viel wäre eine diplomatische Krise. Schulz, der
       Herausforderer, kann gegen Erdogan frei vom Leder ziehen. Ein Kalkül der
       Sozialdemokraten geht bei diesem Duell nicht auf. Schulz hat darauf
       gehofft, in der Innenpolitik ausführlich punkten zu können. Die SPD hat
       ausgefeilte Konzepte entwickelt, etwa in der Bildungs- oder Steuerpolitik,
       die Leuten mit mittleren und kleinen Einkommen zugute kämen. Merkels CDU
       bietet in ihrem Programm vergleichsweise Wolkiges.
       
       ## Gut für Merkel, schlecht für Schulz
       
       Doch auch hier kann Schulz keine Treffer landen. Bei den Entlastungen für
       eine Durchschnittsfamilie wurstelt sich Merkel mit Kindergelderhöhungen
       durch. Sie lobt sich für die sinkenden Arbeitslosenzahlen, und die
       Bildungspolitik erwähnt sie in ihrem Schlusswort gönnerhaft als „große
       Aufgabe“. Vorher fällt zu dem Megathema, das Schulz in den Mittelpunkt
       seiner Kampagne gestellt hat, kein Wort. Viele Brot-und-Butter-Themen, die
       Menschen in ihrem Alltag betreffen, fehlen in den 90 Minuten. Gut für
       Merkel, schlecht für Schulz.
       
       Bei der Rente allerdings punktet er. Wenn nichts bei der Rente getan werde,
       sinke sie massiv ab, schießt Schulz. Und schiebt hinterher: Bei der Union
       müsse man dann noch bis 70 arbeiten. Merkel weiß, wie schlecht solche
       Botschaften ankommen, die manche Christdemokraten aus der zweiten Reihe
       herumtrompeten. Länger arbeiten? „Da ändert sich überhaupt nichts.“ Das ist
       ein glasklarer Ausschluss der Kanzlerin. Schulz hält ihr geistesgegenwärtig
       vor, dass sie 2013 auch die PKW-Maut ausschloss. Die Botschaft: Seid nicht
       sicher, vielleicht lässt sie euch doch bis 70 arbeiten.
       
       ## Die Deutungsmaschinerie läuft
       
       Bei den Zuschauern der Öffentlich-Rechtlichen kam Merkel besser an (siehe
       auch taz-Vorschau: [3][Sieben Gründe, warum die Kanzlerin wieder gewinnen
       wird]). Laut der Forschungsgruppe Wahlen sahen sie 32 Prozent der Zuschauer
       vorne. 29 Prozent fanden Martin Schulz (SPD) besser. Eine Mehrheit von 39
       Prozent sah zwischen der Kanzlerin und dem Herausforderer keinen großen
       Unterschied. Bei den Zuschauern der ARD fanden Merkel 55 Prozent der
       Befragten überzeugender, lediglich 35 Prozent sahen Schulz vorn.
       
       Im Pressecenter läuft am späten Abend die riesige Deutungsmaschinerie an.
       Die Journalisten sitzen an Tischen und tippen ihre Analysen. Der Saal ist
       in Schwarz gehalten, Kronleuchter hängen von der Decke, Klub-Cola und Gin
       gibt’s gratis. Die Parteien haben prominte Spindoctoren geschickt, um den
       Medienleuten zu erklären, warum ihre Kandidatin oder ihr Kandidat gewonnen
       hat. Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen ist für die CDU da,
       ebenso Armin Laschet, der neue Ministerpräsident in Nordrhein-Westfalen.
       Für den SPDler Schulz werben Justizminister Heiko Maas und
       Mecklenburg-Vorpommerns Regierungschefin Manuela Schwesig.
       
       Dann kommt Schulz mit schnellen Schritten in den Saal. Kameraleute und
       Journalisten drängeln sich um ihn, schubsen sich gegenseitig weg. Frau
       Merkel habe ganz sicher ihre Verdienste fürs Land, sagt Schulz in die
       Mikrophone. Aber jetzt gehe es darum, die Zukunft zu gestalten, nicht die
       Vergangenheit zu verwalten. Dass er dazu die Chance bekommen wird, ist nach
       diesem Duell unwahrscheinlicher als zuvor.
       
       4 Sep 2017
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /TV-Duell-Merkel-gegen-Schulz/!5441128
   DIR [2] https://twitter.com/TobiasDuenow/status/904413504278589440
   DIR [3] /Debatte-Ausgang-der-Bundestagswahl/!5441581
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ulrich Schulte
       
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