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       # taz.de -- Sticht! Die Künstlerin Roswitha Baumeister sammelt alles, was mit Nadel und Faden zusammenhängt: Die Nadelschau
       
   IMG Bild: Guckt durchs Nadelöhr: Roswitha Baumeister
       
       von Nora Belghaus
       
       Wie lange gibt es die Archäologie schon? In Europa etwa seit der
       Renaissance, die sich auf die griechische Kultur besann. Damals wollten
       Künstler und Gelehrte Quellen finden für die geschilderten Ereignisse aus
       der Antike. Ab Mitte des 16. Jahrhunderts wurden erstmals historische
       Denkmäler katalogisiert, im 17. Jahrhundert gab es den ersten Lehrstuhl an
       der Universität in Uppsala für Altertumskunde, und in Nordfrankreich wurde
       erstmals eine neolithische Grabkammer ausgegraben. Sie gilt als die älteste
       archäologische Grabung.
       
       Warum die Aufzählung? Um auf eine grandiose Neuerung aufmerksam zu machen:
       Nach 500 Jahren Archäologie hat Hermann Parzinger, der Präsident der
       Stiftung Preußischer Kulturbesitz in Berlin, auch die Nadel in die Reihe
       der Kulturrelikte aufgenommen. Weil in der Schwäbischen Alb 40.000 Jahre
       alte Nadeln gefunden wurden. „Bis dahin galten vor allem Waffen als
       Kulturzeichen“, sagt Roswitha Baumeister, „also nicht am Werkzeug fürs
       Gestalten, sondern am Werkzeug fürs Zerstören wurde Kultur bemessen.“
       
       Baumeister ist Künstlerin und Sammlerin. 1971, als sie 16 war, war sie die
       Nadelprinzessin von Trier. Damals nähte sie mit einer Singer-Nähmaschine
       mit anderen um die Wette und gewann. Ein halbes Jahrhundert später fand sie
       den Preis, den sie damals bekam, wieder: ein Nadelmäppchen. Darauf ist eine
       Zeichnung mit drei Mädchen, zwei davon nähen. „Nesthäkchens Nadelmappe“
       steht darauf.
       
       Wenn Roswitha Baumeister ein Thema findet, auch, um es künstlerisch
       umzusetzen, beginnt sie zu recherchieren. Sie gräbt aus, will alles wissen,
       betreibt künstlerische Archäologie. So hat sie es in früheren Projekten
       schon gemacht, wenn sie Filme über vergessene Frauen drehte, wenn sie sich
       in Kalligrafie, Siebdruck, japanische Dichtkunst versenkte oder wenn sie
       Geschichten mittels selbst gefertigter Scherenschnitte auf riesige
       Hausfassaden projizierte, weltweit.
       
       Jetzt also Nadeln. Baumeister zieht über Flohmärkte, erforscht das Objekt,
       das Material, die Verpackung. Mittlerweile hat sie eine Sammlung von
       mehreren hundert Relikten, kleinere und größere Nadeln, zum Nähen und
       Einfädeln, zum Sticken und Stopfen. Verpackt in Mäppchen, die ihrerseits
       klein sind. Die Nadeln sortiert sie in ein Briefmarkenalbum, beschriftet
       sie nach dem Zweck, für den sie gefertigt wurden. „Für die Reise“ oder
       „Fluchtgeschichten“ oder „Militär“ oder „Prinzessinnen“, das sind
       Überschriften.
       
       Sie sammelt nicht nur Nadeln, sondern auch die Geschichten dazu. Und
       manchmal plant sie ein Event, auf dem sie zeigt, was sie gefunden hat.
       „Rückkehr der Nadelprinzessin“ nennt sie die Veranstaltungen.
       
       Die Herstellung von Nadeln sei ein arbeitsteiliger Prozess, der bis zu 20
       Arbeitsschritte enthält, erzählt sie. Hochwertige Nadeln werden nur noch in
       England und Tschechien hergestellt. Niemand würde sich eine billige
       Bohrmaschine kaufen, die nichts aushält. Aber bei Nadeln werde kaum in
       Betracht gezogen, dass billig nix taugt. Heute sei das Grundmaterial
       Stahldraht, früher war es Elfenbein oder Holz. Und noch früher wurden
       Nadeln aus Knochen gemacht. „Vielleicht geht die Idee der Nähnadel
       ursprünglich auf eine zerbrochene Flöte zurück“, sagt Baumeister. Eine
       Flöte, mit der dann Felle zusammengenäht werden konnten. Das könnte auch
       erklären, wie die Menschen die Eiszeit überstanden hätten.
       
       Szenenwechsel: Ein Dutzend Frauen und Männer sitzen in der Kulturwerkstatt
       in Berlin-Schöneberg im Kreis und spinnen Baumeisters Geschichten weiter.
       Alle suchen ihre Nadel in ihrem Heuhaufen, hören Stecknadeln auf den Boden
       fallen, erzählen von Müttern, die die Nadeln, die sie auf der Flucht im
       Gepäck hatten, wie Erbschmuck hüten. Nicht auszudenken, dass ein Sack, in
       dem das Hab und Gut verstaut war, riss.
       
       Um die Nadeln rankt sich viel: Märchen und Alltag, Kultur und Politik. Beim
       dänischen Märchenerzähler Hans Christian Andersen gibt es eine Geschichte,
       in der sich eine Stopfnadel verstellt und vorgibt, eine feine Nadel zu
       sein. In Japan wird zweimal im Jahr das Ritual der zerbrochenen Nadel
       begangen – und im Stasimuseum in Leipzig findet sich eine Abhörwanze, die
       mit einer Nadel aktiviert werden musste.
       
       Eine persische Besucherin zählt Sprichwörter aus dem Iran auf. Über manisch
       Depressive heißt es: „Manchmal passen sie durch ein Nadelöhr, manchmal
       durch kein Tor.“ Über Großzügige: „Eine nackte Nadel zieht Menschen an.“
       Dann wird noch die Geschichte von Nasreddin Hodscha erzählt. Der sucht
       etwas. „Was suchst du?“, fragt ein Freund. Nasreddin: „Ich habe eine Nadel
       im Stall verloren.“ Der Freund: „Warum suchst du dann nicht im Stall?“
       Nasreddin: „Dort ist es dunkel.“
       
       Das Nadelöhr habe dazu geführt, dass Besiedlung dauerhaft möglich war, sagt
       Baumeister. Aber heute seien die Nadelwelten am Vergehen. Heute durchsteche
       man das Material nicht mehr, sondern bleibe an der Oberfläche – digital.
       „Die Näh-Geste verschwindet, stattdessen kommt die Wisch-Geste.“
       
       Auf einem Tisch liegt eine Auswahl bunter Nadelmäppchen aus den 40er, 50er
       und 60er Jahren. „Für Mutti’s Nähkörbchen“ oder „Alles für Frauchen“ steht
       drauf. Auch „The Army and Navy Needle Book“. Auf einem steht „Meck Meck“ –
       samt Karikatur eines nähenden Schwarzen. Das Objekt spiegelt den Rassismus
       der Zeit.
       
       Die Nadel sei Indiz für gesellschaftliche Entwicklung, sagt Baumeister:
       Karl Marx hat in seinem Werk „Das Kapital“ anhand der Nadel den Übergang
       von der Manufaktur zur Industrieanfertigung aufgezeigt. Der Beruf des
       Schneiders verlor an Bedeutung. So fiel das Hantieren mit Nadel und Faden
       in die Tätigkeit der Hausfrau. Es wurden Hosen geflickt, Socken gestopft,
       Knöpfe angenäht. Im Nähkästchen fand alles seinen Platz – auch
       Frauengeheimnisse. Seither werde aus dem Nähkästchen geplaudert.
       
       Baumeister fällt immer noch etwas Neues ein. Eine letzte Anekdote: Jemand
       schenkte ihr ein Nähset aus dem Fünf-Sterne- Luxushotel Hyatt, die Nadeln
       schon eingefädelt. Im Hotel gibt es diese auf den Zimmern. „Aber wer im
       Hyatt näht denn noch? Da sind acht eingefädelte Nadeln, die niemand
       braucht.“ So sei das: „Die Welt bildet sich im Kleinen ab.“
       
       16 Sep 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Nora Belghaus
       
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