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       # taz.de -- Die Wahrheit: Kanzler der Herzen
       
       > Die Woche der verschwundenen Politiker (1): Horst Ehmke, Willy Brandt und
       > die Sache mit den heimlichen Mintplättchen.
       
   IMG Bild: Still ward es um Ehmke (hier in Bonn), als er in den finalen Ruhestand ging
       
       Anlässlich der Wahl zum 19. Deutschen Bundestag hat sich die Wahrheit
       entschlossen, per Serie akribisch ausgewählte Urgesteine der Politik in
       Text und Bild wiederaufleben zu lassen. 
       
       Horst Paul August Ehmke (SPD) wird am 4. Februar 1927 in Danzig geboren. Er
       stammt aus einer uralten Dynastie des Bürgertums. In seiner direkten
       Nachbarschaft wohnen Leute, die ebenfalls dem Bürgertum entstammen und ein
       Hausboot besitzen, auf das sie die befreundete Familie Ehmke regelmäßig an
       den Wochenenden einladen. Der kleine Horst spielt bei diesen Gelegenheiten
       schon als Kind von vier Jahren mit seinen elf Brüdern und den Kindern der
       Nachbarn „Fangen“, „Verstecken“ und „Mensch ärgere Dich nicht“. Glückliche
       Zeiten . . .
       
       Ironie des Schicksals: Als Ehmke auf die fünf Jahre zugeht, ärgert er sich
       doch einmal über etwas, aber das ist schnell vergessen. Jahre später: Das
       Abitur hat er mit Bravour bestanden und im Krieg gedient, das hat ihm aber
       nicht so gut gefallen. Später studiert er wie ein Weltmeister und erwirbt
       rechtmäßig diverse Doktortitel. Er hat verschiedene Lehraufträge an den
       besten Universitäten der jungen Bundesrepublik erfüllt und ist mittlerweile
       Professor für Philosophie, Juristerei und Medizin.
       
       Bald darauf bewirbt er sich beim damaligen Bundeskanzler Willy Brandt als
       „Experte für alles“ – und wird auch prompt genommen. Willy Brandt und Horst
       Ehmke werden schnell zum Dreamteam der erst vor Kurzem erneuerten Republik.
       Oft sieht man die beiden bis tief in die Nacht am Kabinettstisch sitzen und
       über Politik nachdenken.
       
       Es gibt kein Halten mehr: Ehmke wird erst Justiz-, dann Postminister, was
       er nicht so gut findet, bald darauf Minister für Forschung, was er recht
       spannend findet, und schließlich Minister für besondere Aufgaben, was ihm
       besonders gut gefällt, denn nun kann er seine zahlreichen Interessen
       wirklich ausleben. Er liebt es, nach anstrengenden Verhandlungen mit
       besonderen Verhandlungspartnern, allein in einer abgelegenen Kammer unter
       der Treppe des Bonner Bundestags politische Kriminalromane zu lesen,
       abseits vom diplomatischen Parkett in alten Büchern zu schmökern und
       versunken in Science-Fiction-Romanen von einer besseren Welt zu träumen.
       
       ## Ein verflixter Spion hatte sich eingeschlichen
       
       Fast jeden Morgen – außer sonntags – tapst er um sechs Uhr mit einer Tasse
       Kaffee aus der abgelegenen Kammer unter der Bundestagstreppe hinaus, um an
       Willy Brandts Schlafzimmertür zu klopfen: „Wach auf, Willy!“, ruft er stets
       fröhlich, „Wir müssen heute wieder regieren!“ Horst ist immer hellwach und
       ausgeschlafen und sprüht täglich voller neuer toller Ideen!
       
       Bundeskanzler Willy Brandt muss irgendwann gehen, denn ein verflixter Spion
       hatte sich bei ihm eingeschlichen – aber Horst Ehmke dient seiner Partei
       weiterhin selbstlos, großherzig und bescheiden als „Vertreter der linken
       Mitte“, wie er später manchmal schmunzelnd erzählt, während er sich über
       seinen formidablen Bart streicht.
       
       Doch dann kommt der Tag, vor dem sich jeder gefürchtet hat und der doch so
       unabwendbar ist: Es ist ein grauer und verregneter Herbstmorgen im Jahre
       1991, an dem sich Horst Ehmke mit einer Träne im Knopfloch und seinen
       privaten Sachen in einer Schachtel unter dem Arm aus seinem Büro unter der
       Treppe in den Ruhestand verabschiedet. Menschen aus aller Welt pilgern
       scharenweise nach Bonn, um vor dem Bundestag Blumen abzulegen. Es sind
       Meere von Blumen, in denen die Trauernden zu ertrinken scheinen. Viele
       weinen, andere wirken verbittert, ratlos oder verzweifelt.
       
       ## Ehmke ist Harry-Potter-Roman-Verfasser
       
       Doch es soll noch nicht still um Ehmke werden. Als im Jahre 1998 ein
       anonymer Informant aus England gegenüber der internationalen Yellow Press
       durchsickern lässt, dass Ehmke der eigentliche Verfasser des umjubelten
       ersten Harry-Potter-Romans „Harry Potter und der Stein der Weisen“ sei,
       steht die Welt kopf. Auch für sämtliche folgenden Harry-Potter-Romane
       betätigt sich der groß gewachsene und attraktive Mann in seiner Freizeit
       als wohltätiger Ghostwriter für Joanne K. Rowling. Eine Sensation, die bis
       zum Jahre 2016, als das letzte Buch der Reihe erscheint, die Öffentlichkeit
       in Atem hält.
       
       Für die Weltpresse wird er zu einem Magneten. Einmal behauptet ein freier
       Journalist, er habe Horst Ehmke im Urlaub in London einen Tee trinken
       sehen. Die Boulevardpresse überschlägt sich natürlich, obwohl auf den
       verschwommenen Fotos dieser aufsehenerregenden Szene nichts zu erkennen
       ist. Es wird gar darüber spekuliert, ob Ehmke die Londoner Teestunde
       bewusst inszeniert habe, um sich beim Publikum beliebt zu machen.
       
       ## Körbeweise Fanpost
       
       Eine Spekulation, die völlig unsinnig ist, denn Ehmke hat solch ein Manöver
       gar nicht nötig. Im Gegenteil, er schätzt seinen idyllischen Garten, den
       Schwatz mit dem Postboten, der ihm täglich körbeweise Fanpost ins Haus
       trägt, und hier und da ein Plättchen „After Eight“, mit dem Ehmke kichernd
       dem strengen Pfefferminzverbot seines Arztes ein Schnippchen schlägt.
       Abends hämmert er leidenschaftlich gern bei einem Gläschen Rotwein auf
       seiner alten Corona-Schreibmaschine politische Kriminalromane in die
       Tasten, die uns noch heute einen Hauch von seiner lebhaften Vergangenheit
       vermitteln.
       
       Am 12. März 2017 geht Horst Ehmke in seinen endgültigen Ruhestand. Er wird
       nie wieder politische Kriminalromane lesen oder schreiben und keine
       Mintplättchen mehr heimlich knabbern. Es ist so unendlich traurig. Warum
       bloß musste dieser große Mann so früh sterben? Sein Tod ist sinnlos und
       lässt uns bis heute erschüttert und erstarrt zurück. Wenn Willy Brandt
       vielleicht auch ein echter Bundeskanzler war, so bleibt doch Horst Ehmke
       für immer unser Bundeskanzler der Herzen.
       
       Wir werden dich nie vergessen, Kanzler Ehmke!
       
       18 Sep 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Corinna Stegemann
       
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