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       # taz.de -- Brief an die Integrationsbeauftragte: Sehr geehrte Frau Özoğuz!
       
       > Seit acht Jahren lebe ich in Deutschland. Ich schreibe, schimpfe und
       > denke auf Deutsch – und weiß nicht, wie lange ich hier bleiben darf.
       
   IMG Bild: Ihr Wort hat Gewicht: Staatsministerin für Integration Özoğuz mit Kanzlerin Merkel
       
       Sehr geehrte Frau Özoğuz,
       
       wir müssen uns dringend unterhalten.
       
       Ich bin 32 Jahre alt, arbeite als Autorin, schreibe feministische Texte,
       häufig über die politische Lage in der Türkei, die Frauen- und
       LGBTI*-Bewegung und die Situation der Minderheiten – ungefähr nach dieser
       Rangfolge.
       
       2009 bin ich aufgrund der dreifachen Diskriminierung als Frau, Alevitin und
       Kurdin, der ich tagtäglich ausgesetzt war, aus der Türkei nach Deutschland
       eingewandert. Als Schülerin habe ich zwar Deutsch gelernt, aber viel mehr
       als „Tomatensaft“ und „Wie alt bist du?“ konnte ich nicht sagen – unser
       Deutschlehrer Fikret Hoca sehnte sich nach seiner Pension und hat uns immer
       wieder gebeten, ihn doch in Ruhe zu lassen. Also habe ich, hier angekommen,
       zuerst einen Deutschkurs besucht und dann zwei Semester das Studienkolleg,
       um das Fachabi für ausländische Studierende zu machen.
       
       Jetzt kurz vor der Bundestagswahl wird wieder über Integration debattiert.
       Aber eigentlich kennen wir doch schon alles, was gesagt wird: Die sollen
       doch alle abhauen. Diese „Ausländer“, die sich nicht integrieren wollen.
       Diese Leute, die nach 40 Jahren noch immer kein Deutsch sprechen. Wo die
       Ursachen hierfür liegen, scheint niemanden zu interessieren. Und was ist
       bitte mit denen, die sich hier wohlfühlen, nicht mehr weg wollen, sich
       integrieren wollen oder schon integriert sind? Über sie wird kaum
       diskutiert.
       
       ## Deutschland ist mein Zuhause
       
       Seit 2016 schreibe ich für die taz. Und ich schreibe so gern, dass ich mir
       erst mal keinen anderen Beruf vorstellen kann. Ich bin stolz darauf, denn
       die Sprache, auf der ich schreibe, spreche ich erst seit acht Jahren. Bei
       der taz habe ich die künstlerische Freiheit, die ich als aggressive
       Feministin brauche, und nette Kolleg*innen, die mich als Autorin schätzen.
       
       Ich bin mittlerweile so sehr deutsch, dass ich mir nicht vor null Uhr
       gratulieren lasse, wenn ich in meinen Geburtstag hineinfeiere. Und ich
       achte so sehr auf Pünktlichkeit, dass ich mich mit Freund*innen und Dates
       anlege. Ich denke, träume und schimpfe auf Deutsch. Und obwohl das am
       Anfang sehr schwierig war, lache ich mittlerweile auch auf Deutsch. Ich
       habe nicht vor, in ein anderes Land zu gehen. Deutschland ist mein Zuhause.
       
       Aber ich weiß nicht, wie lange ich in meinem Zuhause bleiben darf, meine
       Aufenthaltsgenehmigung ist befristet.
       
       Wissen Sie, liebe Frau Özoğuz, wie viel Lebensenergie es einen Menschen
       kostet, ständig mit der Realität konfrontiert zu sein, jederzeit
       abgeschoben werden zu können? Jeder Mensch kann diese Energie anders
       umsetzen, ins Leben investieren, in die Zukunft. Doch die Sorgen fressen
       alles in ihrer Nähe wie ein schwarzes Loch. Die Kraft, die da reinfließt,
       verschwindet ins Nichts.
       
       ## Kein Wahlrecht, aber von der Politik betroffen
       
       Ich könnte viel bessere Beiträge schreiben, viel schneller arbeiten, mich
       weiterentwickeln. Ich kann viel mehr leisten als das, was mir erlaubt wird.
       Stattdessen stelle ich mir jeden Tag die Frage, was aus meiner nahen
       Zukunft wird.
       
       Sie, liebe Frau Aydan Özoğuz, legen mir Steine in den Weg. Sehr geehrte
       Frau Aydan Özoğuz, ich möchte heute mit Ihnen über mich sprechen. Die, die
       kein Wahlrecht hat, aber von der Politik betroffen ist. Außerdem möchte ich
       irgendwann selber in die Politik – ich habe so ein starkes Verlangen nach
       Gerechtigkeit, eines Tages möchte ich die erste feministische Kanzlerin
       Deutschlands werden, die auch noch eine Migrantin ist.
       
       Aber wie soll das gehen? Wissen Sie, wie viel Geld ich als eingeschriebene
       Studentin verdienen müsste, um die deutsche Staatsbürgerschaft zu bekommen?
       Dass ich als ausländische Studentin in den letzten drei Jahren eigentlich
       die Rentenversicherung hätte bezahlen müssen? Natürlich wissen Sie das.
       
       ## Ich verdiene die deutsche Staatsbürgerschaft
       
       Ich möchte meinen Beitrag leisten – glauben Sie mir, ich hätte es gern
       gezahlt. Aber die Rentenversicherung versichert nicht meine Zukunft, weil
       sie nicht die Staatsbürgerschaft versichert. Und sie ist teuer. Ich muss
       sie im Studium bezahlen, also während ich weniger verdiene als jemand mit
       abgeschlossener Berufsausbildung.
       
       Rentenversicherung zu zahlen und als freiberufliche Journalistin zu
       arbeiten, die noch in Ausbildung ist – sehen Sie den Teufelskreis? Kann ich
       die Rentenversicherung nicht nach meinem Studium zahlen, so wie alle
       einheimischen Student*innen?
       
       Sehr geehrte Frau Özoğuz, ich finde, dass ich die deutsche
       Staatsbürgerschaft verdiene und das Wahlrecht, damit ich die Gesellschaft,
       in der ich lebe, und die Politik, die eine zentrale Rolle auch in meinem
       Leben spielt, mitgestalten kann. Mit diesem offenen Brief möchte ich die
       deutsche Staatsbürgerschaft fordern, damit ich wachsen kann. Und auch Sie
       haben etwas davon – eine kluge, humorvolle, neugierige, kämpferische
       Journalistin, die ihr Bestes gibt.
       
       Was sagen Sie dazu? Ich freue mich auf Ihre Rückmeldung.
       
       Mit liebsten Grüßen,
       
       [1][ SIBEL SCHICK ]
       
       20 Sep 2017
       
       ## LINKS
       
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