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       # taz.de -- Vor Referendum in Katalonien: Zwischen Hoffnung und Nationalismus
       
       > In Badalona, der drittgrößten Stadt Kataloniens, sind nicht alle für eine
       > Loslösung. Indes geht die spanische Polizei gegen die Autonomieregierung
       > vor.
       
   IMG Bild: Nicht alle wollen die Unabhängigkeit; manche sorgen sich wegen der hohen Verschuldung Kataloniens
       
       Ricardo Abelán ist zufrieden. Dass die katalanische Regierung am kommenden
       1. Oktober überhaupt über die Unabhängigkeit abstimmen lassen will, sieht
       der 53-jährige Versicherungskaufmann auch ein bisschen als seinen Erfolg.
       
       Abelán sitzt im Vorstand des „Orféo“ von Badalona, einer Industriestadt an
       der Mittelmeerküste 20 Autominuten nördlich von Barcelona. „Wir bewahren
       und verbreiten hier seit knapp 100 Jahren katalanische Kultur und
       Traditionen“, erklärt er. „Damit haben wir Einwanderer integriert und vor
       allem erreicht, dass unsere Traditionen nicht ausgelöscht wurden – obwohl
       das Orféo mehrmals geschlossen wurde, zuletzt unter der Franco-Diktatur.“
       Die Arbeit des Vereins habe den Wunsch nach Unabhängigkeit wachgehalten, da
       ist sich Abelán sicher.
       
       Das Orféo befindet sich in einem Jugendstilhaus in der Altstadt. Überall an
       den Fassaden hängen katalanische Unabhängigkeitsfahnen, gelb-rot gestreift
       mit einem Stern in einem blauen Eck. „Mir wurde die Unabhängigkeit in die
       Wiege gelegt“, sagt Abelán. Madrid würde Katalonien ungerecht behandeln. Er
       führt die Verfassungsklage der Konservativen in der Hauptstadt Spaniens
       gegen die Reform des Autonomiestatutes an und spricht von Steuern: „Hier
       wird nicht investiert, während in Extremadura im Südwesten alle Autobahnen
       in hervorragendem Zustand sind.“
       
       Pilar Bueso, Tochter eines Vaters aus Badalona und einer Mutter aus
       Valencia, ist eine derer, die im Orféo die katalanischen Traditionen besser
       kennengelernt hat. „Ich stimme für die Unabhängigkeit“, sagt die 43-jährige
       Bankkauffrau. „Für mich hat das weniger mit Nationalismus zu tun als mit
       der Empörung über die sozialen Zustände.“ Vor der Krise habe sie dreimal so
       viel verdient wie heute. Die Unabhängigkeit böte die Chance für einen
       Neuanfang – „ohne Monarchie, mit mehr demokratischer Kontrolle und Kampf
       gegen die Korruption“.
       
       ## Rekordzahl an Privatisierungen in Katalonien
       
       „Katalonien ist Vorreiter bei Privatisierungen und Sozialkürzungen“,
       beschwert sich auch Rafa Segovia. Nur noch wenige Krankenhäuser seien in
       öffentlicher Hand. „Die in Barcelona regierende Katalanische Europäische
       Demokratische Partei hat die Arbeitsmarktreform der konservativen Regierung
       in Madrid mitgetragen“, weiß der als Kind südspanischer Einwanderer in
       einem der Arbeiterviertel Badalonas Aufgewachsene. Heute sitzt der
       33-jährige Arbeitslosenberater für die Linkspartei Podemos im „Bündnis für
       das Referendum“.
       
       Laut Umfragen wollen über 70 Prozent der Bevölkerung Kataloniens ein
       Referendum, egal ob sie für oder gegen die Unabhängigkeit sind. „Hätten sie
       uns wählen lassen, als 2009 erstmals kommunale Volksabstimmungen abgehalten
       wurden, hätte die Unabhängigkeit höchstens 30 Prozent erzielt. Jetzt sind
       es wesentlich mehr“, sagt Segovia. Selbst er überlege mit Ja zu stimmen –
       in der Hoffnung auf einen Neuanfang.
       
       Die Arbeiterviertel liegen auf der anderen Seite der Autobahn. Alleine in
       Llefía wohnt ein Viertel der 215.000 Einwohner Badalonas.
       Unabhängigkeitsfahnen sieht man an den tristen Wohnblocks kaum. Wenn man
       eine andere Sprache als Spanisch hört, dann Arabisch oder Urdu – obwohl
       Katalanisch Unterrichtssprache an den Schulen ist. Wer hier die Wahlen
       gewinnt, stellt meist den Bürgermeister.
       
       Lange waren das die Sozialisten. Vor sechs Jahren wurde dann der
       Vorsitzende der in Madrid regierenden Partido Popular, Xavier García
       Albiol, gewählt. Mit seinem Motto „Badalona säubern!“ – von illegalen
       Einwanderern, Drogen und Prostitution – hatte er Erfolg in Vierteln wie
       Llefía. Doch vor zwei Jahren besiegte ihn ein Bürgerbündnis rund um
       Podemos.
       
       ## Laut Rating-Agenturen ist Katalonien „Ramsch“
       
       Luis Pérez lebt seit 50 Jahren in Llefía. „Klar geh ich wählen“, antwortet
       der 72-jährige Rentner bereitwillig. Aber wie er abstimmen werde, falle
       unter das Wahlgeheimnis, so der Tischler aus Andalusien. „Ich glaube nicht,
       dass wir wirklich unabhängig sein können. Katalonien ist hochverschuldet,
       die Rating-Agenturen führen uns als Ramsch“, erklärt er. Dann schweigt er
       kurz, als hätte er Bedenken, zu deutlich geworden zu sein. „Ich bin keiner
       dieser verbitterten Einwanderer“, setzt er erneut an: „Wenn ich aus dem
       Süden zurückkomme, sag ich jedes Mal zu meiner Frau: ‚Endlich wieder zu
       Hause‘.“
       
       Die „Verbitterten“ sitzen im Centro Manchego ein paar Straßen weiter und
       spielen Domino. Eine spanische Fahne und Fotos – unter anderem von König
       Felipe VI. und Ministerpräsident Mariano Rajoy – zieren die Wand. „Ich bin
       kein Einwanderer, sondern innerhalb von Spanien umgezogen“, sagt Pepe
       González verärgert. „Am 1. Oktober wähle ich nicht. Ist ja auch gar nicht
       legal“, fügt der 64-jährige ehemalige Arbeiter bei einem
       Automobilzulieferer hinzu.
       
       Sollte Katalonien je unabhängig werden, werde er gehen, doch so weit werde
       es nicht kommen, die Regierung in Madrid wisse das zu verhindern. Seine
       Kumpel nicken zustimmend. Alle begrüßen das harte Vorgehen Rajoys, die
       Strafandrohung gegen die Autonomieregierung und über 700 Bürgermeister.
       
       ## Keine Angst vor strafrechtlicher Verfolgung
       
       „Spanischer Nationalismus übelster Sorte“ ist das für Jordi Lleal. Der
       74-jährige Architekt gehört zu Òmnium, einer Kulturgruppe, die viele
       Referendumshelfer stellt. Deshalb wurde ihr Büro in der Altstadt mit dem
       Wort „Nein“ besprüht, Jugendliche drangen am helllichten Tag ein und
       zerstörten Einrichtungsgegenstände.
       
       Lleal ist von klein auf für die Unabhängigkeit. „Seit jenem Tag, als ein
       Franco-Faschist meinen Vater mit der Pistole bedrohte und als
       ‚katalanischen Hund‘ beschimpfte, weil er nicht Spanisch sprechen wollte“,
       erzählt er. „In Madrid regieren immer noch die Gleichen, nur mit anderem
       Hemd“, fügt er hinzu.
       
       Dass die Òmnium-Mitglieder Gefahr laufen, strafrechtlich verfolgt zu
       werden, wenn sie weiterhin den Wahltag vorbereiten? Lleal winkt ab. „Ich
       habe 35 Jahre unter der Franco-Diktatur gelebt. Kein Problem“, antwortet er
       betont selbstsicher.
       
       20 Sep 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Reiner Wandler
       
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