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       # taz.de -- Nachruf auf Holger Czukay: Die Wut der Jugend
       
       > Holger Czukay, Bassist und Komponist der Kölner Band Can, ist mit 79
       > Jahren gestorben. Seine Musik ist in vielerlei Hinsicht herausragend.
       
   IMG Bild: Holger Czukay 2009 in Berlin
       
       Als der Westen noch recht übersichtlich war, Ende der Sechziger, gab es
       zwei Fernsehsender, die bundesweit zu empfangen waren: ARD und ZDF. Für
       beide komponierte Can, die Kölner Rockband, Soundtracks und Titelthemen.
       Ihre von der E-Musik und vom Freejazz abgeleiteten improvisatorischen Songs
       überführten das Technicolor-Zeitalter der Fernseh-Bilderwelten in einen
       neuen Klang. Zu hören etwa in der Musik für den Straßenfeger „Das Messer“
       (1971), ein Krimi nach Francis Durbridge, für den „Tatort“ „Tote Tauben in
       der Beethovenstraße“ (1974) und der Erkennungsmelodie für das Kulturmagazin
       „Aspekte“ (1977).
       
       Die besten Connections zum Fernsehen hatte Holger Czukay – Bassist, und
       zusammen mit dem Keyboarder Irmin Schmidt, Mitgründer der Band Can, die
       1968 in Köln durch den Schweizer Gitarristen Michael Karoli und den vom
       Jazz kommenden Drummer Jaki Liebezeit komplettiert wurde. Schmidt und
       Czukay waren Schüler von Karlheinz Stockhausen und arbeiteten auch im
       Studio für elektronische Musik des WDR. Can war von Anfang an synästhetisch
       orientiert. Bei weitem interessanter und weit weniger epigonal als etwa die
       Bands der westdeutschen Beatszene, schuf Can von Anfang an eigenes
       Material.
       
       Bei den frühen Konzerten liefen im Hintergrund Filme, die der
       Experimentalfilmer (und zeitweiliges Bandmitglied) David Johnson während
       der Demonstrationen im Pariser Mai 1968 gedreht hatte. Die Turbulenzen
       jener Zeit traten im Sound von Can hörbar hervor, der raffiniert, aber auch
       brachial collagierte und kontrastierte.
       
       Nie wieder Faschismus hieß bei ihnen: Formensprachen von Blues und
       außereuropäischer Folklore auf Traditionen der europäischen Avantgarde zu
       werfen und die Unzufriedenheit und Wut der Jugend in ausufernde
       Klangkaskaden zu verwandeln.
       
       „Wir verweigern ein Urteil über die Schönheit von Musik“, erklärte Holger
       Czukay 1972. „Wir spielen einfach und bedienen uns an ihrer immensen
       Klangpalette. Wir sind universelle Dilettanten.“ Eine freche Behauptung –
       speziell Czukay hatte damit zu kämpfen, seine akademische Bildung durch
       Rock ’n’ Roll „zu verlernen“.
       
       ## Gut gepflegtes Band-Erbe
       
       Obwohl Can als Band reflektiert und theoretisch bewandert zu Werke gingen,
       befreiten sich ihre Songs aus der Falle der Abstraktion, sie floateten,
       aber gerieten nie zu hippiesk verdaddelt. Stilbildend wurden sie eher
       nebenher: Ihr viertes Album „Ege Bamyasi“ (1972) gilt als Blaupause für
       Drum ’n’ Bass, ein britisches Dancefloor-Genre, das rund 20 Jahre später
       die visionäre Vorarbeit von Can im Zeitalter von Computern und Samplern
       weiterführte.
       
       Can waren von allen Akteuren des sogenannten Krautrock diejenigen, die am
       stärksten am Austausch mit dem Ausland interessiert waren. Nicht nur, weil
       Can mit dem Afroamerikaner Malcolm Mooney (1968–1970) und dem Japaner Damo
       Suzuki (1970–1973) zwei Künstler beschäftigten, die Englisch und
       Dada-Kauderwelsch sangen. Can tourten auch intensiv durch Europa und
       feierte vor allem in Großbritannien und Frankreich große Erfolge.
       
       Nach der vorläufigen Auflösung der Gruppe, 1978, war es Holger Czukay, dem
       am leichtesten eine Solokarriere gelang. Sein Soloalbum „On the Way to the
       Peak of Normal“ (1981) besitzt mit „Ode to Perfume“ einen der schönsten
       Vocodersongs, die je erschienen sind.
       
       Mitte der Achtziger produzierte und komponierte er auch für andere
       Künstler, darunter Trio, Annie Lennox und David Sylvian. Zusammen mit den
       anderen Can-Mitgliedern pflegte er das Erbe der Band behutsam, so, dass
       Reunion-Alben und Konzerte in den späten Neunzigern nie zu altherrenmäßig
       gerieten. Außerdem nahm er im ehemaligen Studio der Band, nahe Köln weiter
       auf, wo er auch zusammen mit seiner Lebensgefährtin Ursula lebte.
       
       2017 war ein schwieriges Jahr für Czukay: Im Januar ist Jaki Liebezeit
       gestorben; seine Lebensgefährtin starb an ihrem 55. Geburtstag Ende Juli.
       Am Dienstag fand ihn sein Nachbar leblos im Studio, nachdem Bauarbeiter ihn
       aufmerksam gemacht hatten. Wann genau der 79-Jährige gestorben ist und
       unter welchen Umständen, ist bislang ungeklärt.
       
       6 Sep 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Julian Weber
       
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