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       # taz.de -- Menschenrechtlerin über Russland: „Putin konnte liebenswürdig sein“
       
       > Im russischen Menschenrechtsrat hat Swetlana Gannuschkina Putin beraten
       > und auf Gesetze eingewirkt. Warum sie sich 2012 von ihm abwandte, erklärt
       > sie hier.
       
   IMG Bild: Der Mann hat sie beeindruckt: Svetlana Gannuschkina hat Putin beraten
       
       Swetlana Gannuschkina sitzt auf dem Rücksitz eines Taxis irgendwo zwischen
       dem Flughafen der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku und dem Stadtzentrum.
       Es ist eines der vor einigen Jahren in Baku in Mode gekommenen
       London-Taxis. Vieles habe sich in Baku, der Stadt, in der ihre Mutter
       aufgewachsen ist und zu der sie seit ihrer Kindheit eine besondere Liebe
       hat, in den vergangenen Jahren geändert. Baku hat für ihr Leben wichtige
       Weichen gestellt, hier hatte sie noch zu Zeiten von Präsident Gorbatschow
       erstmalig als Korrespondentin für eine Dissidentenzeitung gearbeitet, von
       hier waren zur Zeit des Berg-Karabach-Konflikts die ersten armenischen
       Flüchtlinge nach Moskau gekommen. Nun ist sie wieder hier. 
       
       taz.am wochenende: Frau Gannuschkina, Sie waren Ihr gesamtes berufliches
       Leben Mathematikerin. Hat Ihnen das irgendwann in Ihrem Leben mal geholfen? 
       
       Swetlana Gannuschkina: Nun, mal im Spaß jetzt, 65 Jahre später: Ich bin
       Mathematikerin geworden, weil ich mich als 12-jähriges Mädchen in meiner
       Klasse selbst beweisen wollte. In der ersten Klasse war ich krank, konnte
       wegen meiner Herzattacken drei Jahre lang nicht in die Schule gehen. In
       dieser Zeit bin ich sehr dick geworden. Als ich dann in die Schule kam,
       haben mich meine Klassenkameradinnen ausgelacht.
       
       Und da hat dann Mathematik geholfen? 
       
       Irgendwann kamen Jungs in unsere Klasse. Das waren Jungs, die haben auf der
       Straße gelebt. Ihre Väter waren im Krieg gefallen, ihre unglücklichen
       Mütter tranken, weil sie von den Nächten in den Bombenkellern traumatisiert
       waren. Irgendwer musste diesen Jungs helfen, ihr Klassenziel zu erreichen.
       Das habe ich getan. Und im Gegenzug haben sie mich beschützt.
       
       Es hat doch sicher auch ernsthaftere Gründe gegeben, warum Sie
       Mathematikerin geworden sind? 
       
       Ja, sicher. Schon in der Zeit, in der ich krank zu Hause war, habe ich
       immer wieder spannende Aufgaben gelöst, war fasziniert von der Schönheit
       der Logik und der Mathematik. Und auch Mathematik zu lehren macht Spaß. Man
       bringt den Menschen das Denken bei.
       
       Es gab auch eine Phase in Ihrem Leben, in dem Sie Hausfrau und Mutter waren
       – hat Sie das erfüllt? 
       
       Ich war eigentlich nie nur Hausfrau. Kurz nach meiner Heirat mit meinem
       Kommilitonen Schenja ist die bezaubernde und lustige Anka auf die Welt
       gekommen. Doch ich habe nicht aufgehört zu arbeiten, habe mich dann eben
       abends an den Schreibtisch gesetzt. Und als Petja auf die Welt kam, habe
       ich meine Lehrtätigkeit nur für drei Monate eingestellt. Das war das Schöne
       am Unterrichten: Ich konnte abends und am Samstag arbeiten und tagsüber bei
       den Kindern sein. Kindererziehung gehört für mich zur Selbstverwirklichung
       als Frau. Ich habe immer Komplexe gehabt, mich als Frau nicht besonders
       hoch eingeschätzt. Dass ich heiraten konnte, Kinder bekam, das war ein
       großes Glück. Es war so schön für mich zu sehen, wie sie groß werden.
       Tagsüber war ich Hausfrau, habe geputzt, gekocht, gewaschen – ohne
       Waschmaschine übrigens. Und damals, als es in den Geschäften kaum etwas
       gab, war Kochen noch eine Kunst.
       
       Es war die Zeit der Sowjetunion. 
       
       Ja. Aufgrund meiner Erkrankung war ich als Kind nicht bei den Pionieren. So
       wurde ich von der Ideologie weitgehend verschont. Freunde unter
       Gleichaltrigen habe ich eigentlich erst in der Universität gehabt. Da habe
       ich auch Sport gemacht – und sechzehn Kilo abgenommen.
       
       Was haben Sie über den Staat gedacht? 
       
       Gerne hätte ich geglaubt, was man uns im Radio erzählt hat. Doch das reale
       Leben sah anders aus. Zu Hause wurde das Thema Politik gemieden. Lediglich
       mein Opa hatte – immer wenn er von Baku aus zu Besuch war – die Dinge beim
       Namen genannt. So hatte ich am Ende der Universität alle Illusionen über
       die Sowjetunion verloren. Verstärkt hat sich diese Ablehnung 1968 nach dem
       sowjetischen Einmarsch in die Tschechoslowakei. Für meinen Mann und mich
       war das eine Tragödie.
       
       Heute sind Sie eine der aktivsten Frauen Russlands. Wie war das damals? 
       
       Da war ich eher Einzelkämpferin. Mal habe ich einer Freundin geholfen, weil
       sie entlassen worden ist, dann einem Kollegen, weil er aufgrund seines
       Jüdischseins gehen musste. Überhaupt war Antisemitismus ein Problem, gerade
       an der mathematischen Fakultät der Moskauer Uni, meiner Alma Mater. Auch am
       Institut für Geschichte und Archivwesen, wo ich Dozentin war, gab es
       Antisemitismus. Ich fühlte mich insgesamt eher den Dissidenten nah.
       
       Wie haben Sie das Ende der Sowjetunion erlebt? 
       
       Die ersten Monate der Perestroika waren eine schöne Zeit. Es wehte ein
       frischer Wind. Wir konnten uns nun ohne Angst treffen, Organisationen
       gründen. Statt der langweiligen Parteitage der KPdSU gab es einen
       spannenden Kongress der Volksdeputierten. Doch es entstanden auch neue
       Probleme – es waren ja nicht nur gute Kräfte vom Joch befreit worden. Auch
       die bisher unterdrückten Konflikte zwischen den Ethnien brachen nun wieder
       auf. Gorbatschow, so scheint mir, hatte dies nicht erwartet. Er hatte
       geglaubt, dass das Volk seine „sozialistische Entscheidung“ getroffen habe
       und dass sich das alles schnell wieder legen werde. Doch er hatte sich
       getäuscht. Nach den Pogromen an den Mescheten im usbekischen Fergana-Tal
       ist dann der armenisch-aserbaidschanische Konflikt ausgebrochen.
       
       Und Baku in Aserbaidschan, die Geburtsstadt ihrer Mutter, stand plötzlich
       im Zentrum der Ereignisse. 
       
       In den Dissidentenkreisen, in denen ich verkehrte, hatten wir bei einem
       unserer ersten Treffen über den armenisch-aserbaidschanischen Konflikt zu
       Nagorni Karabach gesprochen. Aus Armenien waren eigens Aktivisten
       angereist, die für eine Herausnahme von Nagorni Karabach aus der
       Aserbaidschanischen Sowjetrepublik und deren Übergabe an die Armenische
       Sowjetrepublik kämpften.
       
       Und dann haben Sie sich selbst aufgemacht nach Baku? 
       
       Wir waren alle der Auffassung, dass die Armenier die Opfer seien. Und so
       wollte ich zu einem Meeting nach Armenien reisen. Doch dann habe ich mich
       umentschieden, machte mich im Januar 1989 auf den Weg nach Baku.
       
       Warum dann aber Baku und nicht Eriwan? Weil Ihre Mutter von dort stammt? 
       
       Wahrscheinlich. Und diese Reise hat mein Leben verändert. Damals, im Januar
       1989, habe ich das erste Mal Flüchtlinge gesehen. Flüchtlinge, die aus
       Armenien vertrieben worden sind. Es waren Aserbaidschaner, die im Winter zu
       Fuß über die Berge nach Aserbaidschan hatten marschieren müssen. Eine Frau
       kann ich nicht vergessen: Sie irrte mit einem zwei Monate alten Kind in
       ihren Armen umher. Das Kind war in Windeln eingewickelt – und bei der
       Flucht erfroren. Beim Anblick dieses Kindes habe ich begriffen, dass es am
       Ende nicht so wichtig ist zu begreifen, wie sich dieser ganze Konflikt
       historisch entwickelt hat. Jede Seite hat irgendwo recht. Aber da waren
       Flüchtlinge, auf beiden Seiten des Konfliktes. Und denen musste geholfen
       werden.
       
       In Moskau sahen das seinerzeit nicht alle so. 
       
       In Moskau angekommen habe ich berichtet. Und ich kann mich noch an die
       Zwischenrufer erinnern, die mich mit Worten wie „Sie verwechseln den Henker
       mit dem Opfer. Die Aserbaidschaner haben Sie gekauft“ unterbrachen. Ich
       habe ihnen entgegengehalten, dass ein zwei Monate altes Kind kein Henker
       sein könne. Und ich habe berichtet, dass aus Armenien Aserbaidschaner
       vertrieben worden seien, die nicht einmal wussten, wo Karabach eigentlich
       liegt. Das Einzige, was diese Aserbaidschaner wussten, war, wie man Gemüse
       anbaut.
       
       Menschen aus dem Kaukasus, die sich plötzlich in Moskau wiederfanden. 
       
       Ja. Wenig später, im Januar 1990, tauchten die ersten Flüchtlinge aus Baku
       in Moskau auf. Es waren Armenier, die seit Generationen in Aserbaidschan
       gelebt hatten. Und sie hatten berichtet, dass Baku immer eine sehr
       tolerante Stadt gewesen ist. Doch dann seien die Menschen dort verrückt
       geworden, Hunderttausende hätten fliehen müssen. Vierzigtausend davon waren
       in Moskau eingetroffen. Gemeinsam mit anderen, zumeist Frauen, hatte ich
       dann die Organisation „Zivile Unterstützung“ gegründet, mit der wir
       Flüchtlingen und Umsiedlern gezielt helfen wollten – die Moskauer Behörden
       blieben ja untätig. 1996 haben wir dann innerhalb der
       Menschenrechtsorganisation „Memorial“ ein juristisches Beratungsnetz
       aufgebaut, „Migration und Recht“. Wir leisten jedes Jahr 20.000 Beratungen.
       Wir hatten mal in über fünfzig russischen Städten Beratungsstellen, heute
       sind es nur noch zwanzig. Uns fehlen die Mittel.
       
       Und wie kamen Sie in Putins Menschenrechtsrat? 
       
       2001 hörte ich, dass Präsident Putin einen Menschenrechtsrat ins Leben
       rufen will, dessen Vorsitz sollte Ella Pamfilowa übernehmen.
       
       Sie war zu Jelzins Zeiten Ministerin … 
       
       … von ihr hatte ich immer eine gute Meinung. Ein weiterer Grund für meine
       Zusage war der Umstand, dass Putin auf die Forderung, dass wir nur als
       Gruppe von Menschenrechtlern in diesem Rat mitwirken werden, tatsächlich
       eingegangen war.
       
       Und Sie hatten auch mit Putin selbst gesprochen? 
       
       Ja. Zu diesem Zeitpunkt standen zwei Gesetzentwürfe auf der Tagesordnung:
       einer über ausländische Staatsbürger und einer über ein neues
       Staatsbürgerschaftsrecht. Das war mein Thema, und so bin ich am 10.
       Dezember 2002 bei dem ersten Treffen unseres Rates mit Putin aufgetreten.
       Die damals geplante Gesetzesvorlage zur russischen Staatsbürgerschaft war
       so streng, dass es eigentlich niemandem möglich gewesen wäre, auf der
       Grundlage dieses Gesetzes die russische Staatsbürgerschaft zu erhalten. Und
       so wären viele unserer Landsleute für immer von ihrer Heimat abgeschnitten
       gewesen. Nach meinem Vortrag konnte ich mit Putin persönlich sprechen. Und
       er hatte mir gesagt, dass er das Gesetz unterschreiben werde, obwohl es ihm
       eigentlich auch nicht gefallen habe. Wenn es nicht funktioniere, könne man
       es ja immer noch ändern.
       
       Tatsächlich? 
       
       Ja. Gleichzeitig hatte Putin eine Arbeitsgruppe ins Leben gerufen, die
       diesen Gesetzentwurf noch einmal überarbeiten sollte. Dank den von uns in
       dieser Arbeitsgruppe entwickelten Veränderungen konnten zwei Millionen
       Bürger der ehemaligen Sowjetunion die russische Staatsbürgerschaft
       erlangen.
       
       Die Zusammenarbeit mit Putin war damals effektiv? 
       
       Ja. Im gleichen Jahr war man in Inguschetien dabei, Flüchtlingslager
       abzureißen. Man wollte so die tschetschenischen Flüchtlinge zu einer
       Rückkehr nach Tschetschenien zwingen – dort sei für die Rückkehrer alles
       vorbereitet. Eine Lüge! Und das haben wir Putin im Menschenrechtsrat auch
       so gesagt. Und so fragte Putin, ob denn jemand vom Rat bereit wäre, nach
       Inguschetien zu fahren.
       
       Sie fuhren? 
       
       Gemeinsam mit Ella Pamfilowa, der Menschenrechtlerin Ljudmilla Alexejewa,
       dem Minister für Wiederaufbau Tschetscheniens und dem stellvertretenden
       Direktor der Migrationsbehörde fuhr ich nach Tschetschenien. Und vor Ort
       konnten wir den Staatsbediensteten zeigen, dass es nicht stimmte, dass für
       eine Rückkehr der Flüchtlinge nach Tschetschenien alles vorbereitet war.
       Zwar haben wir mit dieser Reise nicht verhindern können, dass die Lager
       abgerissen wurden, aber wir haben den Abriss der Lager zumindest um
       anderthalb Jahre verzögern können – und so verhindert, dass die Flüchtlinge
       einen Winter in der Kälte auf der Straße leben mussten.
       
       Wie wirkt Wladimir Putin als Mensch auf Sie? 
       
       Ich muss sagen, bei den ersten Treffen war ich beeindruckt. Im persönlichen
       Kontakt war er sehr lebendig, reagierte schnell, konnte sehr liebenswürdig
       sein. Er gab einem immer das Gefühl, verstanden zu haben und eigentlich
       auch so zu denken wie man selbst. Nur ein einziges Mal bei insgesamt sechs
       Treffen habe ich gesehen, dass seine Augen vereisten und er wütend wurde.
       Das war nach der Verhaftung von Michail Chodorkowski 2003. Immer wenn die
       Sprache auf Chodorkowski kam, war nichts mehr von seinem wohlwollenden
       Auftreten übrig. Man spürte, dass es hier um etwas sehr Persönliches ging.
       
       2012 haben Sie den Menschenrechtsrat verlassen. 
       
       Ja. Als er das zweite Mal an die Macht gekommen ist, hat er gegen die
       Verfassung gehandelt. Denn die sagt eindeutig, dass man nur zwei Perioden
       hintereinander Präsident Russlands sein kann, Punkt.
       
       War das auch das Ende des Kontaktes zu Wladimir Putin? 
       
       Nein. Danach hatte ich noch zwei Gespräche mit ihm. Das eine Mal war, als
       ich ihn beim Neujahrsempfang am 10. Dezember 2013 ansprach. Zu diesem
       Empfang waren Menschenrechtler eingeladen. Ich habe die Gelegenheit
       genutzt, ihn auf den Gesetzentwurf zu den sogenannten Gummiwohnungen
       anzusprechen.
       
       Gummiwohnungen? 
       
       So werden Wohnungen bezeichnet, in denen mehrere Personen unbefristet
       gemeldet sind, obwohl sie gar nicht dort leben. Mit diesem – inzwischen in
       Kraft getretenen Gesetz – werden Mieter und Vermieter von Gummiwohnungen
       strafrechtlich verfolgt. Ich habe damals schon gesehen, dass man mit diesem
       Gesetz gegen viele Unschuldige vorgehen wird.
       
       Und Sie haben Wladimir Putin dann direkt darauf angesprochen? 
       
       Ich stand ihm gegenüber. Er antwortete: „Warum sollte ich mit Ihnen reden?
       Sie haben ja nicht mal einen Sekt in der Hand.“ Sofort haben sich alle
       Kellnerinnen auf mich gestürzt und mir Champagner angeboten. „Wladimir
       Wladimirowitsch. Ich gratuliere Ihnen zum neuen Jahr“, so habe ich das
       Gespräch angefangen. „Jetzt hören Sie mir aber erst mal zu“, habe ich dann
       gesagt. „Hat sich der Gesetzgeber mal Gedanken gemacht, wie es dazu kommt,
       dass sich Leute in Wohnungen unbefristet registrieren lassen wollen, in
       denen sie gar nicht wohnen?“ Ich wollte deutlich machen, dass Mieter in der
       Regel nur befristete Registrierungen erhalten.
       
       Und dann? 
       
       „Na ja“, hat er gesagt, „diese Omas, die da ihre Wohnungen fiktiv
       vermieten, die erhalten doch dafür Geld. Das ist Korruption.“ Nun, habe ich
       mir gedacht: Minister und andere haben Millionen an Bestechungsgeldern
       entgegengenommen. Und wenn dann mal eine Oma ein paar Rubel dazuverdient,
       weil sie jemanden fiktiv bei sich wohnen lässt, dann ist das gleich die
       große Korruption, die bekämpft werden muss. Ich hatte ihm dann erklärt, was
       man tun müsse, wenn man nicht wolle, dass irgendwelche Omas sich ein paar
       Groschen dazuverdienen.
       
       Putin sagen, was man tun muss. 
       
       „Ganz einfach“, habe ich ihm gesagt, „man muss nur die Vorschrift, eine
       unbefristete wohnbehördliche Anmeldung sei eine Voraussetzung zur Erlangung
       der russischen Staatsbürgerschaft, abschaffen. Und schon wird sich niemand
       um eine fiktive Adresse bemühen. Es ist doch bekannt, dass die Menschen
       eine fiktive unbefristete Anmeldung nur deswegen kaufen, weil sie anders
       keine Staatsbürgerschaft beantragen können. Im Gesetz heißt es sogar, dass
       eine wohnbehördliche Registrierung keine Voraussetzung für die Wahrnehmung
       eines Rechtes sein darf.“ „Ja“, sagte Putin, zu seinem Mitarbeiter gewandt,
       „ich glaube, sie hat recht. Wir sollten noch mal darüber nachdenken, bevor
       wir das Gesetz verabschieden.“
       
       Wieder hat er auf Sie gehört? 
       
       Nein. Drei Tage später ging der Gesetzentwurf in zweiter und dritter Lesung
       durch die Duma, und eine Woche später durch den Föderationsrat. Und am 25.
       Dezember unterschrieb Putin. Er hat das Gesetz so unterschrieben, wie es
       eingebracht worden war. Wie kann ich denn Beraterin von einem Menschen
       sein, der sich nicht beraten lassen will?
       
       Und Medwedjew, der Ministerpräsident? 
       
       Medwedjew ist wahrscheinlich kein schlechter Mensch. Er hätte diese vier
       Jahre nutzen sollen, um sich seine Mannschaft aufzubauen. Aber Medwedjew
       ist nun mal ein treuer Diener von Putin und deswegen keine eigenständig
       handelnde Figur.
       
       Und Nawalnij, der wichtigste Oppositionelle, was halten Sie von ihm? 
       
       Nawalnij ist für mich unakzeptabel. Er ist ein Nationalist. Er lügt
       ständig, spricht von angeblich hohen Kriminalitätsraten unter Migranten.
       Das Einzige, was ich von seinem Programm weiß, ist, dass er eine
       Visapflicht für Bürger aus Zentralasien einführen will. Und das war das
       Erste, worüber er in einem streitsüchtigen Ton gesprochen hat, als wir uns
       eigentlich aus einem ganz anderen Anlass getroffen haben. Wie kann man nur
       eine Visapflicht mit einem Land einführen, mit dem man keine echte Grenze
       hat? Dass führt doch dazu, dass noch mehr Menschen sich in Russland illegal
       aufhalten werden. Auch seine Art, wie er bei Demonstrationen Mengen
       aufheizt mit einem „Ja oder Nein“ weckt in mir unangenehme Assoziationen.
       
       Zu Anfang sprachen wir über Ihre Rolle als Frau und Mutter – inzwischen
       sind Sie ständig unterwegs, während Ihr Mann zu Hause auf Sie wartet … 
       
       … ja, heute ist es Schenja, der für uns kocht und den Haushalt macht! Er
       steht schon an der Türe, wenn er hört, dass ich nach Hause komme. Ich
       bedauere es sehr, dass ich so wenig Zeit mit ihm verbringen kann. Drei Mal
       in der Woche haben wir von der „Zivilen Unterstützung“ in unserem Büro auf
       dem Olimpiskij-Prospekt Migrantenberatung. Und an diesen drei Tagen komme
       ich selten vor 22 Uhr nach Hause. Dann essen Schenja und ich kurz zu Abend
       und anschließend erledige ich meine Korrespondenz, schreibe Berichte,
       organisiere Seminare …
       
       Auch solche auf der Krim, die Ihre Partner dort in russischer
       Rechtsprechung weiterbilden – obwohl sie die Annexion der Krim kritisiert
       haben. Ist das nicht ein Widerspruch? 
       
       Auf unseren Seminaren unterrichten Juristen unsere Mitarbeiter über die
       Möglichkeit einer Zusammenarbeit mit dem Europäischen Menschengerichtshof
       in Straßburg und über Geschworenengerichte. In der Ukraine gibt es keine
       Geschworenengerichte. Und der Europäische Menschenrechtsgerichtshof ist
       eine unserer letzten Hoffnungen. Das ist ein funktionierender Mechanismus.
       Und deswegen denke ich, dass jeder Jurist wissen muss, wie man mit dem
       Europäischen Menschenrechtsgerichtshof arbeiten kann. Ich denke daher, dass
       wir nichts Schlechtes tun, wenn wir Krim-Anwälte unterrichten, wie man mit
       dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof zusammenarbeiten kann. Da geht
       es ja um Klagen gegen Russland. Und es ist uns wichtig, dass unsere Anwälte
       verstehen, mit Geschworenengerichten zu arbeiten. Russische Gerichte
       sprechen in 0,48 Prozent aller Fälle frei. Bei Geschworenengerichten liegen
       die Chancen immerhin bei 13 Prozent.
       
       Haben Sie nicht schon mal daran gedacht, einfach aufzuhören? Andere haben
       mit 75 einen ruhigeren Tagesablauf. 
       
       Ach, machen Sie sich meinetwegen keine Sorgen. Ich habe meine
       Erfolgserlebnisse. Das Wissen, ganz konkreten Menschen geholfen zu haben,
       gibt mir viel Kraft. Kürzlich zum Beispiel hatte ich eine Tschetschenin bei
       uns in der Beratung. Sie ist 21 Jahre alt und lebt schon seit sechs Jahren
       in Deutschland, spricht besser Deutsch als Tschetschenisch oder Russisch.
       Mit ihrer Familie hatte sie gebrochen. Doch eines Tages hatte sie einen
       Anruf von ihrer Mutter erhalten, direkt aus Tschetschenien. Man habe große
       Sehnsucht nach ihr. Ob sie nicht einmal für zwei Wochen vorbeikommen wolle,
       bat die Mutter. Und die junge Frau hatte sich überreden lassen. Dort
       angekommen, nahmen Mutter und Brüder ihr den Pass ab und vernichteten
       diesen. Dann wurde sie in einem Zimmer eingesperrt. Sie habe durch ihr
       Verhalten das Ansehen der Familie geschändet, eröffneten Mutter und Brüder
       ihr. Sie habe die Ehre der Familie geschändet. Sie waren im Begriff, die
       Frau erneut zwangszuverheiraten oder sie zu töten.
       
       Und was haben Sie getan? 
       
       Wir haben dieser Frau geholfen, und so lebt sie inzwischen wieder in
       Deutschland. Durch unsere Arbeit ist sie noch am Leben, und das ist keine
       Übertreibung. Sie ist nicht die einzige Frau, die im Westen lebte, von
       ihren Verwandten entführt worden ist und sich dann an uns gewandt hat. In
       Deutschland werden derartige Eltern nicht verurteilt. Ich kann mich nur
       wundern, wie man so tolerant gegenüber Intoleranz sein kann.
       
       Ihre eigenen Kinder sind jetzt in Amerika. Sie leben ihr Leben, wie sie
       wollen … 
       
       Das macht mich sehr traurig. Ich habe bis heute ihre Ausreise innerlich
       nicht akzeptiert. Aber ich verurteile sie nicht, es war ihre Entscheidung.
       Nur, mir fällt es sehr schwer, diese Entscheidung zu akzeptieren.
       
       26 Sep 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Bernhard Clasen
       
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