URI: 
       # taz.de -- Fluchtgeschichte eines syrischen Kurden: „Ich dachte, jetzt ist es vorbei“
       
       > Azads Flucht beginnt, als das Krankenhaus, in dem er arbeitet,
       > bombarbiert wird. Er versuchte es erst in der Türkei, gab dort auf und
       > ist nun in Berlin.
       
   IMG Bild: Menschen auf der Flucht, wie hier in Ungarn im September 2015
       
       Ein Krankenhaus in Aleppo, im Jahr 2012. Ein Vater bringt seinen 8- oder
       9-jährigen Sohn, der in eine Decke gehüllt ist. Er richtet seine
       Kalaschnikow auf Azad*. “Als ich die Decke abnahm, sah ich, dass das Kind
       nur noch aus einem Oberkörper bestand. Ihn hatte wohl eine Bombe getroffen.
       Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Als der Vater schrie, ich solle etwas
       machen, habe ich mich überwunden und gesagt, es gäbe Hoffnung, wenn er die
       andere Hälfte des Kindes findet. Er rannte los. Aber das Kind war längst
       tot.“
       
       Als der Syrische Bürgerkrieg ausbricht, ist der Gesundheitstechniker und
       Krankenpfleger Azad 20 Jahre alt. “Wenn Krieg ausbricht,“ erzählt er,
       “werden zuallererst die Krankenhäuser bombardiert“. Als auch das
       Krankenhaus zerstört wird, in dem Azad arbeitet, beginnt seine
       Fluchtgeschichte, die sich bis nach Berlin erstrecken wird. Zuerst zieht
       Azad zu seiner Familie nach Afrin, 65 Kilometer nordwestlich von Aleppo.
       
       Von dort überquert er die Grenze zur Türkei zu Fuß und fährt nach Istanbul
       weiter. Danach zahlte er irgendwelchen Schleppern das Geld für einen
       Übertritt über die türkische Grenze. Morgens um 8 macht er sich zu Fuß auf,
       die Schlepper geben den Ort vor, wo ein Wagen auf ihn wartet und und ihn
       nach Kilis, einer Stadt an der türkisch-syrischen Grenze bringt. Dort
       steigt er in den Bus nach Istanbul.
       
       ## Flucht verwandelt sich in Arbeitsmigration
       
       Azad ist einer von Millionen Menschen weltweit, die aufgrund von Krieg,
       Gewalt und Verfolgung aus ihrer Heimat vertrieben wurden. Allein im Jahr
       2016 mussten laut dem UN-Flüchtlingskomissariat 68 Millionen Menschen ihr
       zu Hause verlassen. Viele von ihnen fliehen mit der Hoffnung auf ein Leben
       in Sicherheit. Ihr nächster Zufluchtsort hängt kaum von freien
       Entscheidungen, sondern von informellen Netzwerken ab.
       
       Warum er nach Istanbul fährt? Der Grund dafür liegt in der Summe, die er
       den Schleppern zahlt, die ihn über die türkische Grenze bringen. Denn der
       Deal war ursprünglich: sichere Überfahrt plus ein Job in Istanbul.
       Unabhängig davon ob sie innerhalb eines Landes verläuft oder ins Ausland
       führt, Flucht verwandelt sich früher oder später in Arbeitsmigration.
       
       In seiner ersten Woche in Istanbul schläft Azad in Parks, danach wohnt er
       in einem Keller mit 35 weiteren Personen. Jeden Monat zahlt er dafür 100
       Türkische Lira (etwa 25 Euro) Ein gleichaltriger Mitbewohner aus Syrien
       bittet ihn um Rat: “Du bist doch Krankenpfleger Azad, ich brauche dringend
       Geld. Sie geben uns 35.000 Lira, meine Frau und ich haben uns entschieden.
       Eine Niere reicht doch aus, um weiterzuleben, oder?“
       
       ## Fließend Türkisch in einem Jahr
       
       Azad spricht zu diesem Zeitpunkt noch kein türkisch. “Ich habe einen Tag
       bei einem Bäcker gearbeitet, 12 Stunden,“ sagt er. “Als ich meinen
       Tageslohn wollte, sagte der Chef: ‚Die erste Woche ist nur Ausbildung.‘ Ich
       konnte ihm nicht widersprechen. Aber ich bin nie wieder dorthin gegangen.“
       Ein kurdischer Freund vermittelt ihm einen Job auf der Intensivstation
       einer privaten Klinik. Nach den Nachtschichten muss er den Zustand der
       Patienten in die Akten eintragen. Er schreibt immerzu das Wort, das er in
       der Türkei am häufigsten hört: “Aynen“. (deutsch: “Genauso.“)
       
       Nachdem Azad im Krankenhaus ein paar Leuten “siktir git“ (zu deutsch: “fick
       dich“) zugerufen hat, weil er dachte, dies bedeute auf türkisch “auf
       Wiedersehen“, lernt er innerhalb eines Jahres mithilfe des Internets
       fließend türkisch sprechen. Sein Lieblingslied ist “Bangır Bangır“ von der
       Popsängerin Gülşen. Im Sprachtest erzielt Azad 98 von 100 Punkten, doch er
       erhält kein Zertifikat, weil er die Testgebühren nicht bezahlen kann. “Im
       Krieg habe ich sowieso all meine Zeugnisse verloren,“ sagt er. “Auf dieses
       Zertifikat kann ich dann auch verzichten.“
       
       ## Meistens im Krankenhaus übernachtet
       
       Auf der Suche nach Schutz und einer sicheren Zukunft treffen Geflüchete
       nach ihrer Ankunft häufig auf Einheimische, deren ökonomische Situation
       sich von der ihren nicht wesentlich unterscheidet. So verwandeln sich
       Geflüchtete für die wirtschaftlich benachteiligten Einheimischen nicht
       selten in Konkurrenten auf dem Arbeitsmarkt.
       
       Nach drei Jahren besitzt Azad in der Türkei immer noch keine
       Arbeitserlaubnis. “Einen Tag pro Woche durfte ich das Krankenhaus
       verlassen, die meiste Zeit habe ich im Krankenhaus übernachtet“, erzählt
       er. Wenn es zu Problemen zwischen seinen Kollegen und der Klinikleitung
       kommt, betont die Leitung immerzu, wie vorbildlich Azad sei. Als eine
       Kollegin sich gegen ihre ungerechten Arbeitsbedingungen wehrt, wird sie
       entlassen. Daraufhin zeigt sie die Klinik an, weil sie auf der
       Intensivstation Flüchtlinge, also Azad, beschäftigt. Noch bevor die Beamten
       zur Kontrolle kommen, wird Azad gewarnt. Er geht raus, kommt nach der
       Kontrolle wieder zurück und arbeitet weiter.
       
       Einmal fragt Azad den Chef der Intensivstation, ob Menschen in der Türkei
       tatsächlich ihre Niere verkaufen können. Der Chef antwortet, wenn Azad
       jemanden kenne, der sich dazu entschlossen habe, könne er ihm eine
       Kommission anbieten.
       
       ## Nach Betrug beschließt er die Türkei zu verlassen
       
       “Das sind doch Patienten auf der Intensivstation, was sollen Medikamente
       schon daran ändern“, bekommt Azad von Vorgesetzten des Öfteren zu hören.
       Patienten ohne Krankenversicherung soll er direkt wegschicken. Und den
       Versicherten soll er keine Medikamente geben, sondern nur so tun als ob. Es
       gibt ein Unternehmen, bei dem das Krankenhaus leere Arzneiverpackungen
       kauft, die den Versicherungen vorgezeigt werden können. “Der Preis von zwei
       Albumin (Plasmaprotein) ist so hoch wie mein Monatsgehalt“, rechnet Azad
       vor sich hin.
       
       Einen Teil des Geldes, das er während dieser drei Jahre angespart hat,
       verliert Azad. Ein Patient der Klinik namens Halit verspricht ihm: “Ich
       kann dir eine Arbeitserlaubnis besorgen, ich habe Bekannte bei der Polizei.
       Aber das kostet 1500 Dollar.“ Azad gibt ihm das Geld und hört nie wieder
       von Halit. Danach gibt er endgültig auf. Er beschließt, die Türkei zu
       verlassen.
       
       ## Auf Wohnungssuche in Berlin
       
       Er findet ein Boot, dass ihn illegal nach Griechenland bringt. Um vier Uhr
       morgens soll es von Çanakkale starten. Der Schlepper verlangt 800 Dollar
       pro Person. “Ein sehr sicheres Boot, für 15 Personen“, heißt es. Doch statt
       15, sind es 45 Personen, die von bewaffneten vier Männern ins Boot gezwängt
       werden. Sie schicken das Boot aufs Meer, den Weg sollen die Passagiere
       selbst finden. Azad kann nicht schwimmen. “An dem Tag dachte ich, jetzt ist
       es vorbei“, sagt Azad später.
       
       Nun lebt Azad seit eineinhalb Jahren in Berlin und ist arbeitslos. Doch
       sein Problem besteht nicht allein daraus, eine Arbeit zu finden und Geld zu
       verdienen. Azad ist Kurde. Er gehörte in Syrien einer Minderheit an, in der
       Türkei war er ein Flüchtling, in Deutschland ist er Asylsuchender.
       Vergeblich sucht er seit Monaten eine Wohnung für 400 Euro. Er kann nicht
       lange ausgehen, weil er sich nicht traut, nachts mit der U-Bahn zu seiner
       Containerunterkunft in Berlin-Hellersdorf zu fahren. Er sagt: “Wenn die
       Nazis mich erwischen, bekomme ich Schläge.“
       
       *Name von der Redaktion geändert
       
       4 Oct 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Samil Sarikaya
   DIR Şamil Sarıkaya
       
       ## TAGS
       
   DIR taz.gazete
   DIR Fluchtursachen
   DIR Schwerpunkt Syrien
   DIR taz.gazete
   DIR taz.gazete
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Die EU und die „Flüchtlingskrise“: „Eine neue Form von Kolonisation“
       
       Von der Afrika-Politik Europas halten die drei nach Berlin geflüchteten
       Afrikaner Mouhamed Tanko, Oussman Dawarda und Adam Mohamed gar nichts.
       
   DIR Assads Strategie für Syrien: Schöne Pläne, langer Krieg
       
       Das Konzept der Deeskalationszonen für Syrien klingt gut. Doch es
       funktioniert nicht. Assad will das Land demografisch „säubern“.
       
   DIR Weiterer Giftgasangriff in Syrien: Mehr Zeit für Chemiewaffen-Kontrolle
       
       Frankreich und die USA wollen den Einsatz von UN-Ermittlern verlängern, um
       den Angriff aufzuklären. Ihr Mandat gilt nur bis zum 17. November.
       
   DIR Halep'ten Berlin'e: Bir göç hikayesi
       
       Bir Kürt olan Azad, göç etmeden önce Suriye'de azınlıktı, Türkiye’de
       göçmendi, Berlin'de ise sığınmacı.