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       # taz.de -- Chris Dercon und die Berliner Volksbühne: Neues Kapitel der Feindschaft
       
       > Die Volksbühne wurde von der Polizei geräumt, die Besetzer mussten gehen.
       > Doch sie werden auch jetzt nicht einfach wieder verschwinden.
       
   IMG Bild: Die Besetzung erhöht den Druck auf den ohnehin schon gebeutelten Intendanten
       
       Es gibt auch Erleichterung. Am Tag nach der Räumung der Volksbühne. Die
       Hoffnung, dass jetzt womöglich keiner der Kollegen mehr auf mich,
       Redakteurin für Theater in der taz, zutreten wird mit der Frage: Muss Chris
       Dercon als Intendant jetzt nicht gehen?
       
       [1][Eine Woche lang war die Volksbühne besetzt], zwei Wochen zuvor hatte
       das Theater [2][seine ersten Projekte in Tempelhof] gezeigt, zum Start der
       Spielzeit. Alle großen Häuser in Berlin brachten ihre ersten Premieren.
       Dass Chris Dercon als Intendant der Volksbühne und Oliver Reese als
       Intendant des Berliner Ensembles neu am Start sind, führte zu großen
       Erwartungen, aber noch hat keine der Produktionen die wirklich erfüllt. Die
       Theaterkritiker hatten volle Terminkalender, nicht für jede Premiere fand
       sich ein Besprechungsplatz – da stiehlt die Besetzung der Volksbühne diesem
       ganzen Theater die Show. Das ist, zugegeben, auch ein Grund für die
       Genervtheit.
       
       In den Reportagen über die Besetzer, die gleich ein großes Medienecho
       fanden, tauchen ihre Anliegen in kurzen Schlagworten auf.
       Gentrifizierungskritisch sind sie, es geht um Teilhabe, das Freihalten von
       Kulturräumen. Die Kritik an Chris Dercon als umstrittener Nachfolger von
       Frank Castorf steht nie an erster Stelle, stadtpolitische Ziele werden in
       den Vordergrund gerückt. Teilhabe, Verteidigung öffentlicher Räume,
       Auflösung der Grenzen zwischen Kunst und Leben. Klingt das nicht vertraut?
       War das nicht genau der Überbau, den auch die drei Eröffnungsstücke der
       Volksbühne, von Boris Charmatz am Flughafen Tempelhof inszeniert, für sich
       beanspruchten? Doch, das war es.
       
       Aber diese Nähe theoretischer Anliegen und eines weit gedehnten
       Kunstbegriffes hat wenig genützt, sie blieb eher unbeachtet. Dabei hat ein
       kritischer Blick auf die Performances von Charmatz auch gezeigt, wie leicht
       die Geste der Öffnung auch zu einem artifiziellen Konstrukt werden kann,
       wie leicht der Wunsch nach Teilhabe zur Vereinnahmung von allem werden
       kann. Du bist jetzt Teil der Performance, erfuhren die Besucher der
       besetzen Volksbühne, selbst die Polizisten. Du bist jetzt Teil der
       Performance, das erfuhr auch das Publikum auf Tempelhof und wird es auch
       weiter bei einigen der Projekte erfahren, die Chris Dercon für die
       Volksbühne am Rosa Luxemburg Platz ausgesucht hat.
       
       Die Besetzer, meistenteils als jung, studentisch, enthusiastisch und nicht
       aggressiv geschildert, waren nicht unbedingt identisch mit den Leuten, die
       zuvor Chris Dercon und der Programmdirektorin vor die Tür gekackt haben.
       Auch nicht mit der Initiative, die 40.000 Unterschriften sammelte, um die
       Berliner Politik aufzufordern, Dercon abzuwickeln. Aber sie haben in der
       Geschichte der Dercon-Gegnerschaft ein weiteres Kapitel aufgeschlagen. Und
       sie werden nach der Räumung nicht einfach wieder verschwinden.
       
       Das erhöht den Druck, unter dem dessen Intendanz steht, das verengt die
       Räume der Kritik. Jedes Urteil über Kunst und Performances dort erhält ein
       falsches Gewicht, wird als für oder gegen den Intendanten gelesen. Nicht
       der differenzierte Blick wird ermutigt, sondern das pauschale Urteil. Das
       ist keine gute Entwicklung.
       
       ## Eine gute Form finden
       
       In der Süddeutschen Zeitung vom Donnerstag wurde Frank Castorf, der gerade
       in Zürich inszeniert hat, zur Besetzung interviewt. Er sah die Besetzung
       so: „Eine andere Form der Volksabstimmung und erst mal hundertprozentig zu
       begrüßen.“ Und schob gleich hinterher: „Erst danach kommt der Regisseur in
       mir, der weiß, was für ein hochprofessionelles Kunstinstitut die Volksbühne
       ist. Und dass Theater, wie ich es mache, vergleichbar mit Leistungssport
       ist. Ich schicke ja auch nicht Turbine Potsdam in die Champions League,
       sondern eben Bayern München. Ich befürchte daher einen schrankenlosen
       Dilettantismus, was das Künstlerische dort anbelangt.“ Eine Befürchtung,
       die von vielen geteilt wurde, die es deshalb auch gar nicht erst zur
       besetzten Volksbühne in der letzten Woche hingezogen hat.
       
       Versuche in der Kunst, die Räume von Kunst und Politik miteinander zu
       verschränken, gab es viele seit Joseph Beuys und seit Schlingensief: in den
       Performances von Rimini Protokoll, in den Prozessinszenierungen von Milo
       Rau, aber auch in vielen Arbeiten längst nicht so bekannter Gruppen. Das
       Thema klingt oft politisch sehr brisant, aber eine gute Form zu finden, die
       es dann inhaltlich über das Predigen zu den schon Bekehrten hinausgehen
       lässt, das geschieht eher selten. Wie sich an einigen der vielen kleinen
       Berliner Spielstätten studieren lässt. Noch ein Grund, nicht in
       Begeisterung über die Volksbühnenbesetzung einzustimmen.
       
       29 Sep 2017
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Katrin Bettina Müller
       
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