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       # taz.de -- Die Wahrheit: Sachsen und seine Oasen
       
       > Viel herumgeschubst auf der Weltkarte: Das endgültige Porträt eines noch
       > weitgehend unbekannten Landes tief im Osten der deutschen Republik.
       
       Sachsen, das kleine Königreich am Rande der Karpaten, ist kürzlich ins
       Gerede gekommen: Die rückwirkende Bewerbung um die Ausrichtung der
       olympischen Segelwettbewerbe 1936 hat die Aufmerksamkeit der Welt wieder
       auf das selbstbewusste Bergvölkchen mit der offenen Schublade im
       Unterkiefer und der bewegten Geschichte gelenkt.
       
       Sachsen wurde viel herumgeschubst auf der Weltkarte. Im Erdmittelalter, dem
       Gleitial, drohte das Gebiet ins Meer abzurutschen; die Nieder- und die
       Angelsachsen waren bereits weit vorangekommen. Schließlich warf das
       Technische Hilfswerk eine Landmasse mit dem sprechenden Namen „Anhalt“
       dazwischen. Obwohl anfänglich dankbar, sind heute viele Sachsen der
       Meinung, sie seien vom THW „belogen und betrogen“ worden. Inwiefern, weiß
       niemand genau.
       
       Außerdem wurde Sachsen damals durch eine Mauer gegen das Abrutschen nach
       Westen gesichert, in der es nur eine Öffnung gab; für das Land hinter
       diesem Durchgang bürgerte sich nach und nach die Bezeichnung „Thüringen“
       ein.
       
       Ursprünglich lag der ganze Länderkomplex am Rhein, wurde aber nach dem
       Badischen Erbfolgekrieg 1776 in den Osten strafversetzt. Kurz danach sollte
       Sachsen sogar den amerikanischen Kolonien zugeordnet werden, aber der
       Erzsachse Karl May hatte die Amis bereits so liebgewonnen, dass er diese
       Maßnahme durch die berühmte Kurdistan-Indrige verhinderte.
       
       Die allgemeine geografische Verwirrung endete damit jedoch keineswegs, wie
       schon die Ausdrücke „Elbflorenz“ und „Sächsische Schweiz“ zeigen. Ein
       tiefer Stachel im Fleisch der heimatverbundenen Sachsen war und ist die
       nächtliche Entführung des Matterhorns aus dem Elbsandsteingebirge anno
       1355. Zum Trost erhielt der Freistaat den Status als Erholungslandschaft
       („Kursachsen“).
       
       Wirtschaftsgeschichtlich von Bedeutung: der unterirdische Abfluss riesiger
       Erdölvorkommen im Arabicum, also zur Zeit der Französischen Revolution; die
       Bezeichnung „Naher Osten“ für die Erdölländer ist seither nur noch ein
       liebenswerter Anachronismus. In der Folge starb in Sachsen der größte
       einheimische Landsäuger, das Gohmehl aus, so dass auch die Karawanen und
       der Islam aus der Mode kamen; die Einheimischen blieben jetzt lieber
       daheim.
       
       ## Erstklassige Zahlungsmoral
       
       A propos Wirtschaft: Wegen des Mangels in der DDR erfand der Sachse Samuel
       Hahnemann 1957 die extrem verdünnte Nahrung in Kügelchenform; der
       Verdünnungsgrad wurde national ausgedrückt: DDR3, DDR10, DDR 100 etc. Heute
       sind die Sachsen aber eher berühmt für ihre erstklassige Zahlungsmoral
       („Tal der Mahnungslosen“).
       
       2011 wurde Sachsen von einem politischen und militärischen Erdbeben
       erschüttert: Mit dem aus Jena stammenden Abenteurer Michael Braun betrat
       erstmals seit über hundert Jahren ein Ausländer sächsisches Gebiet.
       Allerdings endete der irrtümliche Grenzübertritt glimpflich: Wenige Meter
       hinter der Grenze konnte die vier Millionen Mann starke „Heimatwehr gegen
       Überfremdung“ den dreisten Migranten ergreifen und zur Strecke bringen.
       
       Bekannt ist Sachsen vor allem für seine Kultur. Hier muss allerdings
       historisch ganz genau hingeschaut werden. Der Dresdener Swinger und die
       Frauenkirche, die man heute als harmlose Baudenkmäler präsentiert,
       verweisen auf die extrem lockeren Sitten im Rokoko unter August dem
       Scharfen; fast überflüssig zu erwähnen, dass der Architekt dieser Sauereien
       den Namen Pöppelmann trug. Das fromme Christentum des Westens drang
       allenfalls bis Leipzig vor, wo es traditionell viele Messen gab – in
       Dresden hingegen herrschte hemmungsloses Highlife. Im 17. Jahrhundert soll
       es dort sogar erlaubt gewesen sein, mit offenen Schnürsenkeln
       herumzulaufen.
       
       Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden in Leipzig Pläne des
       Goebbels-Ministeriums für einen regionalen deutschen Fernsehsender
       entdeckt, der Gute-Laune-Filme abspielen sollte. Anhänger der
       EWNAS-Bewegung („Es war nicht alles schlecht“) griffen diese Idee zunächst
       in der DDR und nach der Wende auch in Sachsen auf. Beide Nachfolger zeigten
       zusätzlich zu den UFA-Klamotten auch selbstproduzierte Durchhaltefilme wie
       „Der Kreisdelegiertenkongress tanzt“ (DEFA, 1954) und das
       Bauarbeiter-Lustspiel „Wir zieh’n, wir zieh’n, wir zieh’n den Schutzwall
       wieder hoch!“ (MDR, 1997).
       
       Die Sprache zählt im Falle Sachsens nicht zur Kultur – doch sind die
       sympathischen Bemmenfressen der einzige deutsche Volksstamm, dessen Idiom
       man im Ausland ebenso gut versteht wie in Deutschland. Ein unklares,
       sprachwissenschaftlich als „Der Kinnhaken“ bezeichnetes Ereignis im
       Phonetikum, sorgte dafür, dass die Parole seither lautet: „Untere Zahnreihe
       voran!“ Diese morphologische Besonderheit wurde von Nicht-Sachsen oft als
       „Alles mein’s!“-Geste missverstanden; daher die verbreitete germanistische
       Bezeichnung „Possessivgnom“ für den Sachsen mit seinem Genitiv. Die
       kommunistische Vergangenheit wirkt sich in Form der „Lenisierung“
       (Wikipedia) der stimmlosen Konsonanten aus: Der Sachse sagt „Gestapo“, wenn
       er „Kestapo“ meint.
       
       Eher rührend ist die aus einem Märchen dreier Brüder stammende Erklärung:
       Alle Einwohner von Grimma hätten 1756 aus Jux eine Grimasse gezogen, als
       plötzlich die defekte Kirchturmuhr geschlagen habe; seither redeten die so.
       
       ## Sächselnde Bibel
       
       Kuriose Missverständnisse sind entstanden, weil Martin Luther für seine
       Bibelübersetzung das am Sachsenhof gesprochene Idiom gewählt haben soll
       (die Weiterübersetzung ins Deutsche erfolgte erst viele hundert Jahre
       später, durch den Schriftsteller Mosebach). So ließ Luther das – damals ja
       noch in Sachsen heimische – Kamel selbstverständlich durch eine Oase gehen.
       Weil aber kein Sachse das Wort „Oase“ korrekt aussprechen kann, wurde bei
       Luther und dann auch bei Mosebach eine Öse, also ein Nadelöhr daraus.
       
       Gegen Ende des 19. Jahrhunderts erregte die These Aufsehen, Teile der
       sächsischen Bevölkerung stammten unmittelbar von den Primaten ab, die dort
       erst im neunten Jahrhundert von den Mongolen vertrieben worden seien.
       Nachdem der Urheber, der frühere Hofcoiffeur Dr. Bernhard Kämmnitz,
       eingestanden hatte, seine Behauptung komplett an den Haaren herbeigezogen
       zu haben und über keinen anderen Beleg zu verfügen als den Namen der
       Provinz Lausitz, wurde die nach ihm benannte Stadt zur Strafe umgetauft;
       sie trägt seither den Namen des damals populären Sehers Klausi Marx.
       
       Angesichts von Ortsnamen wie Grimma, Radebeul und Stauchitz könnte man die
       Einheimischen für grobschlächtige Gesellen halten, aber der Sachse hat die
       Behutsamkeit im Blut. Das zeigt sich nicht nur in der Mutter aller
       Porzellankisten, in Meißen, sondern auch in Bautzen: Der hiesige Senf ist
       maximal mittelscharf, und in der traditionsreichen Besserungsanstalt der
       Stadt wird die dort 1951 erfundene Lügenpresse bei Verhören sehr human und
       höchstens mit halbem Druck eingesetzt.
       
       Zur Zeitgeschichte nur so viel: In der DDR waren die Sachsen unterdrückt
       und wurden zum Dienst bei der Polizei und der Stasi gezwungen. Einzelne
       Opfer sollen sogar für Tätigkeiten im sogenannten „Politbüro“ missbraucht
       worden sein. Unter dieser Schmoch leiden die Sachsen bis heute.
       
       7 Oct 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Oliver Domzalski
       
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