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       # taz.de -- „Schlafende Sonne“ von Thomas Lehr: Heftig knirschende Sprachplatten
       
       > Der Roman steht auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. Darin gibt
       > es weder einen allwissenden Erzähler noch ein klar umrissenes Ich.
       
   IMG Bild: Orientierung ist von diesem Stern nicht zu erhoffen
       
       Die Sonne steht im Titel dieses Romans, aber Orientierung gibt sie nicht:
       Sie geht im Text unter und auf, wo sie will. Zwei Motti hat das Buch, eins
       von Louise Bourgeois, eins von Chris Marker, in beiden geht es um das
       Prinzip der Spirale, bei Marker um den „Taumel des Raums“ und den „Taumel
       der Zeit“. Man kann das als eine Art Lektüreanweisung verstehen, denn
       linear von vorne nach hinten erzählt ist das Buch weiß Gott nicht und in
       einen Taumel versetzen will der Autor Thomas Lehr die Leserin allemal auch.
       
       Er macht von Anfang an klar, oder lässt einen spüren, dass ihm
       Erzählkonventionen nichts gelten. „Schlafende Sonne“ ist ein Roman,
       metaphorisch gesprochen: als Textgebirge mit vielen Steilpassagen, aber
       ohne Haltegeländer, mit vielen Rutschpartien durch Wortmassengeröll.
       
       Es geht mitten hinein, mit einer Figur oder vielleicht nur einem Namen,
       Jonas, so heißt diese Figur, die so wenig wie irgendeine andere von einem
       Erzähler vor Augen gestellt oder im Vollzug einer Handlung dargestellt
       würde; es geht mitten hinein, am Anfang und immer wieder, in immer neuen
       Anfängen, die oft ohne Wegweiser bleiben, in Szenen ohne Kontext.
       
       Mit einer anderen Metapher, die genauso gut oder schlecht passt: Man gerät
       in Sprachströme ohne Anker, in eine Suada nach der anderen, das alles fast
       ganz ohne Dialogpassagen: Man soll sich verlieren in den Strudeln des
       Buchs, mal auftauchen, mal halb absaufen, sich jedenfalls den Bewegungen
       überlassen.
       
       ## Die Form meiden
       
       Es gibt Namen, es gibt Daten, es gibt Konstellationen, es gibt, wenn man so
       will, eine Gegenwart dieses Buchs, oder jedenfalls ein fortgeschrittenstes
       Datum: das Jahr 2011. (Imaginiert wird allerdings auch schon eine
       Ausstellung des Jahrs 2014, von kosmischen Zukünften ganz zu schweigen.)
       Eröffnet wird in diesem Jahr 2011, so puzzelt man sich das mühsam zurecht,
       oder lässt es sich vom Klappentext sagen, die bis dahin größte Ausstellung
       der Künstlerin Milena Sommer.
       
       Sie ist die Protagonistin des Romans, oder wäre es, dürfte man in einem
       engeren Sinn von Akteuren überhaupt sprechen. Ihr gehört auch eine der
       Stimmen des Buchs, aber auch „Stimme“ trifft die Sache nur sehr bedingt.
       
       Durch die langen Textblockmassive wälzen sich vielmehr Gedankenvollzüge,
       Assoziationen, Erinnerungen an Vergangenes und Zukünftiges (Taumel der
       Zeit, voilà); in diesen Massiven schieben sich Sprachplatten übereinander,
       heftig knirschend sehr oft. Einen allwissenden Erzähler, eine sichtbare
       ordnende Hand, einen raunenden Beschwörer des Imperfekts, scharf
       konturierte Figuren in der dritten Person, aber auch klar umrissene Ichs:
       All das gibt es nicht.
       
       Wer „nacherzählt“, folgt also Ordnungsinstinkten, die Thomas Lehrs Erzählen
       ausdrücklich fremd sind, gibt dem Stoff, dem Material eine Form, die der
       Autor auf mehr als 600 luftlos gesetzten Seiten sehr gründlich meidet. So
       viel kann man sagen: Neben Milena Sommer ist da der bereits erwähnte Jonas,
       der Mann, den sie – die aus Dresden stammt – kurz nach der Wende bei einem
       USA-Aufenthalt kennenlernt und später heiraten wird.
       
       ## Roman eines „Paralleldeutschlands“
       
       In der „Gegenwart“ des Jahrs 2011 ist die Ehe, weil Jonas Milena betrogen
       hat, in der Krise. Weitere Zentralfigur ist der Kulturphilosoph Rudolf
       Zacharias, dessen akademische Karriere Schiffbruch erleidet, der aber mit
       seinen aus den Banden der Philosophie ausbrechenden Sachbüchern in der
       intellektuellen Öffentlichkeit reüssiert. In tieferen historischen
       Schichten spielen dann auch der Physiker Karlheinz Pleßner und zwei
       Antiquare aus Freiburg eine wichtige Rolle.
       
       Anderer Zentralort, in Erinnerungszügen aus den Wortmassen gefischt:
       Göttingen. Hier will und wird Milena studieren, in den neunziger Jahren, es
       ist die Zeit, in der Rudolf Zacharias dort lehrt. Er und seine eher
       verschwommen auftauchende Exfrau sind Husserl-Experten, wobei der Philosoph
       irritierenderweise unter dem Namen Edmond figuriert, ebenso trägt Edith
       Stein, auf die sich Milena in ihrer Abschlussarbeit zu fokussieren beginnt,
       ein Pseudonym – Esther Goldmann.
       
       „Schlafende Sonne“ ist also ein Gegenwarts- und Historienroman, der sich
       über ein gutes Jahrhundert eines – so Lehr selbst in einer kurzen
       Nachbemerkung – „Paralleldeutschland“ erstreckt. Ein Historienroman als
       „Taumel der Zeit“. In seinem Willen zur auf allen Ebenen räsonierenden
       Totalität ist der Roman geradezu maßlos ambitioniert.
       
       Es geht um Politik, Wissenschaft, Philosophie, Sex und Solarphysik,
       Phänomenologie, Westen und Osten, das alles gedoppelt, verdreifacht in den
       Werken der bildenden Kunst von Milena. Hyperprismatisch gespiegelt in den
       Bildern der Ausstellung, um die sich alles – meinethalben spiralförmig –
       dreht. Wie Motive wiederkehren, zusammen und gegeneinander spielen, wie das
       Buch mit aller Gewalt Echoräume zwischen Figuren, Zeiten und vor allem
       Motiven zu erzeugen versucht, das dürfen, wenn sie wollen, kommende
       Germanisten genau untersuchen.
       
       ## „Fortsetzung folgt“ – muss nicht sein
       
       Das Gelingen des Buchs, das auf Erzählspannung keinesfalls aus ist, ist
       eine Wette auf das Entstehen eines Sogs, dem sich die Leserin verwirrt,
       betäubt, der klaren Orientierungssinne beraubt, liebend gern überlässt. Ob
       dieser Sog überhaupt entstehen kann, ist aber die Frage. Man ist
       desorientiert, so viel steht fest. Diese Desorientierung bleibt allerdings
       eher als ständige Anstrengung von Autorhand spürbar, als dass ihre
       Notwendigkeit aus der Sache einsichtig würde. Denn auch nach tieferen
       Prinzipien der Harmonie oder Disharmonie – komponiert wirkt dieses Buch
       nicht.
       
       Was damit zu tun hat, dass Lehr zwar Detail auf Detail häuft, aber keine
       Leerstellen lässt. Er verspachtelt Wörter mit Wörtern, so dass sich eben
       gerade keine Echoräume ergeben: Eher ist es so, als raste einer verzweifelt
       nach jedem Wort auf die andere Seite, um das Echo selbst noch zu sprechen.
       Die endlosen Suaden gehorchen dabei nicht so sehr einer Überwältigungs-,
       schon gar keiner Verführungs-, eher etwas wie einer Zuschüttästhetik.
       Gewaltsam gesuchte Formulierungen werden auf extravagante Bilder gehäuft,
       die jedenfalls nicht primär auf unmittelbare Überzeugungskraft setzen.
       
       Nie bleibt Luft, nichts ist nur suggeriert. „Schlafende Sonne“ ist ein
       Werk, in dem ein Horror Vacui regiert, der auch ein Horror vor Andeutung,
       Subtilität, Ambivalenz und Prägnanz ist. Und bei allem Willen zum
       Eigenwillen ist das Buch in seinem Zugriff auf die Geschichte, vom
       Vorwende-Dresden zum großen Finale um Wilhelm zwo, dann doch bestürzend
       unoriginell auf geistes- und ereignisgeschichtliche Höhenkämme fixiert.
       Außerdem sehr ermüdend in seiner Fixierung auf grob strukturiertes
       sexuelles Begehren als zentrales zwischenmenschliches Mittel und Maß. Die
       letzten Worte lauten: „Fortsetzung folgt“. Das muss nicht sein.
       
       8 Oct 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ekkehard Knörer
       
       ## TAGS
       
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