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       # taz.de -- Internationales Filmfestival San Sebastián: Die Politik bleibt diesmal außen vor
       
       > Anstatt aktueller politischer Bezüge flüchtet sich die spanische
       > Filmbranche bei ihrem wichtigsten Filmfest in historische Themen und ins
       > Genrekino.
       
   IMG Bild: Glorifizierte Heimat: Szene aus „Handia“
       
       In großen weißen Lettern prangt auf einem haushohen schwarzen Plakat im
       Zentrum San Sebastiáns: „Yo soooy españooool, españoool, españooool.“ Es
       ist der Schlachtruf der spanischen Fußballfans, doch die Buchstaben sind
       rot durchgestrichen. Darunter steht „Fe de Etarras“, der Titel eines Films.
       Es ist eine Komödie über die ETA, die baskische Terrororganisation, die bis
       zu ihrer Auflösung mehr als 800 Menschen ermordet hat.
       
       Das ist hier beim Internationalen Filmfestival in San Sebastián eine
       Provokation. Und so haben es auch Angehörige von Opfern empfunden und
       Strafanzeige gestellt. Dabei ist der Film eher harmlos. Regisseur Borja
       Cobeaga macht sich über ein ziemlich dämliches ETA-Kommando lustig, das
       sich in einer Wohnung verschanzt hat, während die Nachbarn nebenan Fußball
       schauen und dabei dem spanischen Team zujubeln. Der Humor ist dabei leider
       weniger satirisch als boulevardesk.
       
       Die Aufregung über den Film, bevor er überhaupt zu sehen war, veranlasste
       Festivalleiter José Luis Rebordinos dennoch zu einer Stellungnahme.
       Pluralität und Dialog seien wichtig und das Festival wolle Diskurse
       anregen, sagte er. „Humor ist die beste Waffe gegen Intoleranz.“ Für eine
       Kontroverse taugt die Netflix-Produktion allerdings kaum.
       
       Dabei ist in den Tagen vor dem Referendum in Katalonien auch die Stimmung
       im Baskenland aufgeheizt. Es gibt in der Autonomieregion viel Sympathie für
       die Bestrebungen der katalanischen Regierung, sich von Spanien abzuspalten.
       Etliche Bewohner haben in der Altstadt separatistische Fahnen aus den
       Fenstern gehängt, es kommt zu kleineren solidarischen Demonstrationen.
       Viele wittern Morgenluft, auch im Baskenland demnächst ein Referendum über
       die eigene Unabhängigkeit von Madrid durchzusetzen.
       
       In den spanischen Produktionen fehlt das Politische dagegen auf dem
       wichtigsten Filmfest der spanischsprachigen Welt fast völlig. Sie flüchten
       sich fast ausnahmslos in historische Stoffe und Genrekino, überzeugen
       konnten sie damit bei der 65. Ausgabe kaum.
       
       ## Tour de Force der kleinen Gesten und Blicke
       
       Herausragend war einzig das Sterbedrama „Morir“ von Fernando Franco, doch
       ausgerechnet das lief außerhalb des Wettbewerbs in einem kleinen Saal.
       Dabei hatten Franco und seine Hauptdarstellerin Marian Álvarez hier vor
       vier Jahren mit dem Debüt „La Herida“ für Furore gesorgt, Álvarez wurde
       damals mit dem Schauspielpreis ausgezeichnet.
       
       Den hätte sie mit ihrer Rolle als junge Frau, die ihren an einem tödlichen
       Gehirntumor erkrankten Mann pflegt, auch diesmal verdient. Die beiden
       Hauptdarsteller, Álvarez und Andrés Gertrúdix, auch im echten Leben ein
       Paar, liefern sich eine Tour de Force der kleinen Gesten und Blicke. Franco
       inszeniert die Angst und Verzweiflung, die Liebe und auch das Misstrauen
       mit leiser Wucht, wie man sie so noch nicht im spanischen Kino gesehen hat.
       
       Den Spezialpreis der Jury an den baskischen Wettbewerbsbeitrag „Handia“
       kann man hingegen nur als Geste an die aufstrebende Filmbranche der Region
       verstehen. Das Historiendrama basiert auf der wahren Geschichte des Riesen
       von Altzo, der im 19. Jahrhundert als größter Mensch seiner Zeit galt und
       mit seinem Bruder durch Europa reiste, um sich als menschliches Spektakel
       in Freakshows begaffen zu lassen.
       
       Das Regieduo Jon Garaño und Aitor Arregi siedelt das handwerklich solide
       inszenierte, aber dramaturgisch holprige Bruderdrama vor dem Hintergrund
       der Karlistenkriege an, ohne diese Umbruchsituation zu nutzen. Stattdessen
       überhöhen sie die Geschichte zu einem Volksmärchen, das die
       Bodenständigkeit der Landsleute und ihre tiefe Verwurzelung in der Heimat
       glorifiziert. Von der spanischen Presse wurden sie dafür gefeiert.
       
       ## Keine Spur von gesellschaftlichen Themen
       
       Von aktuellen gesellschaftlichen Themen auf der Iberischen Halbinsel wie
       Jugendarbeitslosigkeit, Flüchtlingskrise und Populismus jedoch keine Spur.
       Während „Handia“ und der ebenfalls gezeigte Fernsehmehrteiler „La Peste“
       über die Pestseuche im Sevilla des 16. Jahrhunderts in die Vergangenheit
       ausweichen, zieht es Antonio Méndez Esparza mit „Life and nothing more“
       gleich in die USA und zum dortigen Rassismus.
       
       In einer Mischung aus Familiendrama und Sozialkritik erzählt er von einer
       afroamerikanischen Familie aus Floridas Arbeiterklasse und deren
       14-jährigem Sohn Andrew, der nach ein paar Einbrüchen in Autos versucht,
       nicht in die Fußstapfen seines inhaftierten Vaters zu treten.
       
       Esparza drehte mit Laiendarstellern und improvisierten Szenen vor Ort.
       Damit gelingt ihm ein subtiles, naturalistisches Porträt afroamerikanischen
       Alltags, das, weil es ihm scheinbar an Dramatik fehlt, fast dokumentarisch
       wirkt. Ein Film, dem angesichts der Unruhen in Charlottesville und der
       Polizeigewalt gegen People of Color eine starke Resonanz zu wünschen ist.
       
       Enttäuschend war dafür der ebenfalls auf Englisch, allerdings in Spanien
       gedrehte Mysterythriller „Marrowbone“ von Sergio G. Sánchez, der als
       Drehbuchautor von „Das Waisenhaus“ einen Genreklassiker schuf. Doch sein
       Regiedebüt über fünf Geschwister, die den Tod ihrer Mutter vertuschen, um
       zusammenbleiben zu können, und in ihrem Haus bald von einer unheimlichen
       Gestalt heimgesucht werden, ist so hanebüchen und mit naiver
       Ernsthaftigkeit erzählt, dass es bei der Vorführung für unfreiwillige
       Lacher sorgte.
       
       Die Tendenz zum Eskapismus eines auch in den internationalen Beiträgen
       durchwachsenen Wettbewerbs prämierte die Jury unter Vorsitz von John
       Malkovich dann am Ende, indem sie eine launige US-Komödie auszeichnete: Die
       Goldene Muschel für den besten Film ging an die Hollywoodsatire „The
       Disaster Artist“ von James Franco.
       
       5 Oct 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Thomas Abeltshauser
       
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