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       # taz.de -- Kleine Kulturgeschichte der Werbung: So präsent wie die Stasi
       
       > Werbung ist immer da, 24 Stunden lang, jeden Tag. Genau das ist das
       > Problem, finden Kritiker und setzen sich für mehr Freiflächen ein.
       
   IMG Bild: Man entkommt ihr nicht: der Werbung
       
       Der Marxist Alfred Sohn-Rethel meinte einmal über die Werbung: In der
       kapitalistischen Produktion gibt es von Anfang an eine Überproduktion, die
       ständigen Absatzdruck hervorruft. Dabei wird die Werbung immer wichtiger,
       was Marx laut Ludwig Pfeiffer „achtlos“ als „faux frais“ (falsche Kosten)
       bezeichnete. 1974 bekam der Künstler Indulis Bilzens eine Anstellung als
       antikapitalistischer Kritiker bei der renommierten Düsseldorfer
       Werbeagentur GGK (die später einmal kostenlos eine taz-Werbekampagne
       entwarf), Bilzens wollte und sollte die Werber mit ständigem „faux
       frais“-Gerede verunsichern – was ihm jedoch nicht gelang.
       
       1991 bat Die Zeit die Redakteure des Sonntags, eine Ausgabe des
       Zeit-Magazins herauszugeben. Unter einer Reihe von Fotos, die Plakatwände
       an einer Landstraße der neuen Bundesländer zeigten, schrieben sie: „Die
       Werbung überzieht das Land flächendeckend wie früher die Stasi.“ Die Zeit
       bekam daraufhin eine harsche Beschwerde vom Zentralverband der deutschen
       Werbewirtschaft.
       
       Ein DDR-Grafiker hielt 1994 einen Vortrag in Braunschweig, in dem es um
       Produktwerbung ging. Er führte darin aus: Wer solche Werbung macht oder
       betreibt, der stehe „auf der Seite des Verbrechens“. Ich nehme an, dass er
       das als ökologisch Denkender im Hinblick auf Ressourcenschonung meinte. In
       der DDR wurde die Film- und Fernsehwerbung im Übrigen 1976 eingestellt. In
       Warschau beauftragte man eine Grafikbrigade, die gesamte Lichtwerbung in
       der Stadt zu gestalten. Das Ergebnis war beeindruckend, und den Warschauern
       gefiel es auch. In Moskau sagte ich 2001 zu der Reiseleiterin angesichts
       der vielen schrillen Werbung in der Stadt: „Alles so schön bunt hier!“ –
       „Schrecklich!“ erwiderte sie.
       
       In Berlin hat die Werbung inzwischen ebenfalls schreckliche Ausmaße
       angenommen: An den Straßen und Plätzen werden immer mehr Werbeplakate
       aufgestellt, in den U-Bahnhöfen sogar schon die Fußböden mit Werbeplakaten
       beklebt. Auf Hochhäusern drehen sich riesige Mercedessterne. Hinzu kommt
       die Werbung an Bussen und Bahnen, die riesige Blow-up-Werbung an
       Brandmauern und Baugerüsten und die vielen wahllos auf alle möglichen
       Freiflächen und Pfähle geklebten Veranstaltungsplakate. Nicht zu vergessen
       die sich über alles ausbreitenden Tags und Graffiti, wobei Letztere
       durchaus auch als eine subversive Reaktion auf den Overkill der Werbung des
       Kapitals gelesen werden kann und die Tags sowieso illegale Werbemaßnahmen
       des kleinen Mannes auf der Straße sind.
       
       ## Im permanenten Kontakt mit der Bevölkerung
       
       Die des großen im Loft, in diesem Fall des Bauunternehmers Reinhard
       „Wertkonzept“ Müller, das ist unter anderem der riesige Schöneberger
       „Gasometer“, aus dem man inzwischen eine einzige Werbefläche gemacht hat,
       die nachts weithin leuchtet. Laut ihres „Betreibers“ – Ströer Megaposter
       GmbH – hat sie „pro Nacht einen Werbewert von 165.000 Bruttokontakten“.
       Eine Bürgerinitiative in unmittelbarer Nähe bekämpft diese aufdringliche
       Nutzung des Industriedenkmals.
       
       Sie beruft sich unter anderem auf den Urbanisten Giuseppe Pitronaci: „Die
       Bürger haben ein Recht auf werbefreie öffentliche Räume. Und wirklich
       öffentlich ist ein Raum nur in dem Maß, in dem er nicht von
       privatwirtschaftlichen Interessen vereinnahmt wird – in einer auf
       Gemeinschaft orientierten Bürgergesellschaft ist ein solches Gegengewicht
       zu kommerziellen Einzelinteressen unverzichtbar“. Pitronaci warnt, dass
       „der Druck, Flächen für Werbung zur Verfügung zu stellen, immer größer
       wird, je weiter sich der Staat aus der Finanzierung öffentlicher
       Dienstleistungen zurückzieht“.
       
       Die Bürgerinitiative, die sich im Juni 2017 gegründet hat, nennt sich
       „Berlin Werbefrei“ und kritisiert gerade das an der Reklame, was der
       Fachverband Außenwerbung hervorhebt: Die Außenwerbung stehe „im permanenten
       Kontakt mit der Bevölkerung. Immer, überall, 24 Stunden an jedem Tag des
       Jahres, unausweichlich, unübersehbar.“ Auf der Internetseite der
       Bürgerinitiative heißt es dagegen: „Werbung nervt. Jeden“.
       
       Die Stadt werde von Plakat-, Licht- und Display-Werbung geradezu
       „überflutet“, sagen die Initiatoren von „Berlin Werbefrei“, die mit einem
       neuen Volksbegehren, das möglicherweise in einen Volksentscheid mündet, die
       Werbung im Berliner Stadtbild auf ein allgemein verträgliches Maß
       zurechtstutzen und einer „unkontrollierten Ausbreitung“ zuvorkommen wollen.
       Der Titel des neuen Gesetzes lautet: „Gesetz zur Regulierung von Werbung in
       öffentlichen Einrichtungen und im öffentlichen Raum“ oder kurz
       „Antikommodifizierungsgesetz“ (AntiKommG).
       
       ## „Müll nervt jeden. Lasst uns Müll verbieten!“
       
       In verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen und im kritischen
       politischen Diskurs stehtder Begriff „Kommodifizierung“ für die
       Kommerzialisierung öffentlicher Ressourcen. Kritiker des Neoliberalismus
       sehen darin die Gefahr, dass auch der Bereich des Sozialen zunehmend
       wirtschaftlichen Gesetzmäßigkeiten unterworfen wird. Weiterer Bestandteil
       des geplanten Volksentscheids wird das Werbefreiheitsgesetz (WerbeFG)
       sein. Damit soll Werbung und Sponsoring an Schulen, Universitäten und
       anderen öffentlichen Einrichtungen reguliert und transparent gestaltet
       werden.
       
       Die Initiatoren von „Berlin Werbefrei“ kritisieren in diesem Zusammenhang,
       dass der Senat die inflationäre Ausbreitung von Werbung unterstützt und
       selbstnoch Geld damit verdienen will. Die taz fragte den Rechtsanwalt Fadi
       El-Ghazi, der den Gesetzesentwurf der Bürgerinitiative mit ausgearbeitet
       hat, ob die Werbung wirklich mehr werde. „Ja“, sagte er, „gerade an stark
       frequentierten Straßen und Plätzen nimmt die Außenwerbung massiv zu. Der
       Senat hat gerade 8.100 Werbeflächen neu ausgeschrieben. Wollen wir wirklich
       an jeder dritten Laterne einen leuchtenden Hinweis auf Aldi, Lidl oder
       McDonald’s?“
       
       Es geht auch anders: In Zürich haben sich die Bürger zum Beispiel Werbung
       an ihren blauen Straßenbahnen entschieden verbeten. Als Beispiel für
       werbefreie Städte erwähnt „Berlin Werbefrei“ die brasilianische Metropole
       São Paulo. Diese sei im Jahr 2007 durch das „Clean City Law“ zur weltweit
       ersten Metropole ohne Banner, Poster und Plakate erklärt worden. Ein
       weiteres Beispiel sei Grenoble in der Schweiz. Dort habe man 2014 den
       Slogan „Bäume statt Werbetafeln“ ausgegeben und betreibe seitdem die
       „Erfindung einer neuen schöneren, städtischen Lebensweise“. Im Grunde
       würden sich dabei zwei Welten gegenüberstehen: die Klasse derer, die mit
       einem politischen Mandat ausgestattet seien, und eine Klasse neuer
       Bürgerpolitiker, die ihre Interessen auf dem Weg der direkten Demokratie
       durchsetzen wollten, fügte der Sprecher des Trägervereins „Changing
       Cities“, der frühere Bahnmanager Heinrich Strößenreuther, hinzu.
       
       Eine Umfrage unter 347 Berlinern ergab [1][laut Berliner Zeitung], dass die
       Hälfte der Antiwerbungsinitiative positiv gegenübersteht. Bei einer Umfrage
       zum selben Problem im Internet meinte der Facebook-Nutzer David Helmus:
       „Müll nervt jeden. Lasst uns Müll verbieten!“ Auch das ist eine gute Idee:
       Wegen der vielen „To go“-Imbissläden ist etwa der Bürgersteig vor der taz
       und der Garten des Cafés jeden Tag voller Verpackungsmüll. Einmal in der
       Woche wird er von zwei Mitarbeitern beseitigt – aber das reicht längst
       nicht mehr.
       
       13 Oct 2017
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] http://www.berliner-zeitung.de/berlin/initiative-werbefrei-so-reagieren-berliner-im-netz-auf-den-gesetzesentwurf-27870612
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Helmut Höge
       
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