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       # taz.de -- Aussteigerin über rechte Szene: „An der Wand hingen Salzteig-Runen“
       
       > Heidi Benneckenstein wuchs in einer Nazifamilie auf, besuchte
       > Neonazi-Zeltlager, verprügelte einen Fotografen. Dann stieg sie aus.
       
   IMG Bild: Heidi Benneckenstein in Berlin im Herbst 2017
       
       taz: Frau Benneckenstein, wann haben Sie zuletzt mit Ihrem Vater
       gesprochen? 
       
       Heidi Benneckenstein: Lange her, zum Glück. Da war ich 15.
       
       Vor neun Jahren also. Seitdem sind Sie ihm nicht mehr über Weg den
       gelaufen? 
       
       Nein. Ich bin damals, nach einem Streit, aus dem Haus gegangen und war weg.
       Mir war klar, dass ich ihn nicht mehr sehen würde. Ich hatte lange Angst,
       dass es doch passieren könnte und ich dann ausraste. Aber das ist vorbei.
       Es hätte keinen Sinn, ihm irgendetwas zu sagen. Es ist zu viel passiert.
       
       Sie sind in einer Nazi-Familie aufgewachsen, in einem Dorf bei München. Ihr
       Vater, Beamter beim Zoll, leugnete den Holocaust, wollte Ostpreußen
       regermanisieren und schickte Sie in Zeltlager der rechtsextremen
       „Heimattreuen Deutschen Jugend“. Wie erinnern Sie sich an Ihre Kindheit? 
       
       Mein Vater hat bestimmt, was läuft. Meine Schwestern und ich mussten
       aufpassen, dass wir nichts Falsches machten, nichts Falsches sagten, nicht
       laut waren. Beim Essen durften wir nur sprechen, wenn wir aufgefordert
       wurden. Wenn wir die Tür aus Versehen zu laut zugehauen hatten, mussten wir
       es zehnmal leise tun. Und wir hatten so eine blöde Treppe, die ich als Kind
       öfter runtergefallen bin, das tat weh. Trotzdem musste ich die Treppe
       danach zehnmal rauf- und runterlaufen. Mein Vater hatte auch große Freude
       daran, uns Schwestern gegeneinander auszuspielen.
       
       Wie haben Sie und Ihre Schwestern reagiert? 
       
       Wir haben alle versucht, aus der Schusslinie zu kommen – auch auf Kosten
       der anderen. Als ich bei einem Schulsportfest mit einem Mädchen aus den
       Philippinen ein Team bilden musste und mit ihr, Hand in Hand, Stationen
       ablief, erzählten meine Schwestern unserem Vater davon. Es gab ein
       Donnerwetter. Warum ich mich mit Fidschis abgebe? Meine Schwestern haben
       dann beschlossen, mich zur Strafe nicht mehr zu berühren – von sich aus.
       Sie wussten, dass sie dafür gelobt würden. Und unser Vater fand das
       tatsächlich eine super Idee.
       
       Wann haben Sie gemerkt, dass Ihre Familie anders ist als andere? 
       
       Sehr früh. Jeden Morgen kam die Preußische Allgemeine, an der Wand hingen
       Runen aus Salzteig, wir hatten Stickdecken mit völkischen Sprüchen und im
       Keller Bücher über NS-Größen. Ich habe früh gemerkt, dass unsere Eltern
       anders mit uns sprechen, besonders mein Vater. In unserem Dorfkindergarten
       sollte ich wegen meiner blonden Haare im Krippenspiel den Engel spielen.
       Mein Vater war außer sich und rief in der Kita an, ob sie denn nicht
       wüssten, dass ich konfessionslos sei. Ich verstand nicht, was los war. Je
       älter ich wurde, desto stärker drängte sich die Ideologie meines Vaters in
       mein Leben.
       
       Wie meinen Sie das? 
       
       Als wir zum Beispiel in der achten Klasse mit der Schule das ehemalige
       Konzentrationslager in Dachau besucht haben, stachelte er mich beim
       Abendessen an, kritische Fragen zu stellen.
       
       Zum Beispiel? 
       
       Für ihn deutete ein Schild, dass die Verbrennungsöfen nachträglich zu
       Dokumentationszwecken errichtet wurden, darauf hin, dass es gar keine gab.
       Danach sollte ich fragen. Ich sollte provozieren.
       
       Gab es keine anderen Eltern oder Lehrer, die misstrauisch wurden und sich
       erkundigten, ob bei Ihnen zu Hause alles in Ordnung ist? 
       
       Nicht wirklich. Mein Vater ist sehr dominant gegenüber Erziehern und
       Lehrern aufgetreten. Davon waren viele eingeschüchtert. Einmal, in der
       dritten Klasse, korrigierte ich meine Grundschullehrerin, dass das
       Deutschlandlied aus drei Strophen besteht. Ich habe ihr am nächsten Tag
       sogar ein völkisches Liederbuch mitgebracht. Sie gab es mir kommentarlos
       wieder. Ich glaube, sie war einfach überfordert.
       
       Hatten Sie Freundinnen, denen Sie sich anvertrauen konnten? 
       
       Ja. Meiner besten Freundin habe ich alles erzählt. Das durfte ich
       eigentlich nicht. Zu Hause wurde gesagt: Was wir hier besprechen oder was
       ihr in den Zeltlagern erlebt, dürft ihr nicht weitererzählen. Aber solche
       Geheimnisse kann ein Kind nicht für sich behalten. Meine Freundin konnte
       sich gar nicht vorstellen, dass ich das wirklich erlebe. Für sie war das
       wahrscheinlich einfach spannend.
       
       Als Sie 7 Jahre alt waren, schickte Sie Ihr Vater das erste Mal in ein
       Lager der „Heimattreuen Deutschen Jugend“. Wie war das? 
       
       Für mich war es die Hölle. Anfangs, weil ich Heimweh hatte und einfach nur
       nach Hause wollte. Später, weil alles so durchstrukturiert war, was zu mir
       überhaupt nicht passte, weil ich inzwischen recht aufmüpfig war. Jeder
       Schritt wurde kontrolliert. Wir mussten um sieben Uhr aufstehen, zum
       Frühsport. Zum Frühstück durften wir erst, wenn das Zelt aufgeräumt war.
       War es nicht ordentlich, mussten wir Liegestütze machen. Dann kam der
       Fahnenappell vor den Zelten, wir mussten auch bei eisiger Kälte eine halbe
       Stunde strammstehen. Dann haben wir besprochen, was man den Tag über macht.
       Das konnten Schwimmbadausflüge sein oder auch AGs, in denen es zur Sache
       ging.
       
       Was heißt das? 
       
       Ich kann mich an einen Vortrag erinnern, wie man sich auf den Tag X
       vorbereitet, an dem der Staat zusammenbricht. Es ging darum,
       Lebensmittelvorräte anzulegen, Schlafsäcke bereitzuhaben, solche Dinge. Und
       immer wieder ging es um NS-Größen. Ehrenmitglied der HDJ war Hans Ulrich
       Rudel, der Wehrmachtsflieger. Der wurde verehrt, über ihn gab es regelmäßig
       Vorträge. Genauso über Hanna Reitsch, auch eine Nazi-Fliegerin, oder Agnes
       Miegel, eine Dichterin, die Hitler verehrte. In einem der Lager hießen die
       Zelte „Führerbunker“ und „Germania“. Das war aber eine Ausnahme, in der
       Regel hielt sich die HDJ bedeckt, um keinen Ärger mit der Polizei zu
       bekommen. Unsere Lager waren meist abgeschieden von Städten, wir gaben uns
       als Pfadfinder aus oder als Katholische Deutsche Jugend.
       
       War den Kinder klar, was in den Lagern lief? 
       
       Die Botschaft jedenfalls kam an. Einmal sollten wir aus einem Stück
       Sperrholz die Deutschlandkarte sägen, in den Grenzen von 1937. Ein Junge
       verzierte seine Karte mit einem schwarzen Hakenkreuz. Gestört hat das
       niemanden.
       
       Was waren das für Kinder, die an den Lagern teilnahmen? 
       
       Die meisten kamen aus Familien, die seit Generationen in der rechtsextremen
       Szene verankert sind. Bildungsbürgertum. Viele Kinder gingen aufs
       Gymnasium. Als einmal eine Familie aus Berlin dabei war, wirklich
       Unterschicht, ist das sofort aufgefallen. Der HDJ ging es um die
       Heranzüchtung einer rechtsextremen Elite.
       
       Was heißt das genau? 
       
       Ziel war es, dass wir später Führungspositionen in der Bewegung einnehmen.
       Es wurde Wert darauf gelegt, dass man gebildet ist und studiert, auch die
       Mädchen. Auch wenn die HDJ-Mädchen von damals heute fast alle Hausfrauen
       sind. Für sie ist ideologisch eben die Rolle als Mutter vorgesehen.
       
       Welche Rolle hat Ihre Mutter gespielt? 
       
       Meine Mutter war sehr passiv, untergeordnet. Sie hat vieles einfach
       mitgemacht, weil sie einer Auseinandersetzung mit meinem Vater nicht
       gewachsen war. Ich glaube nicht, dass sie hinter dem Politischen stand. Das
       hat man gesehen, als meine Eltern sich getrennt haben. Danach war bei ihr
       nichts mehr davon zu spüren.
       
       Als Ihre Eltern sich getrennt haben, waren Sie neun. Sie sind zu Ihrer
       Mutter gezogen. Warum blieben Sie in der Szene? 
       
       Mit meiner Mutter gab es oft Konflikte, weil ich trotzig war und meine
       Mutter auch darauf passiv reagierte. Dann kam die Pubertät und ich bin
       zurück zu meinem Vater, der mich mit offenen Armen empfangen hat. Plötzlich
       durfte ich Sachen, die vorher verboten waren: eine Stereoanlage, ein Handy.
       Für mich war das super. Aber als ich 15 war, ging es nicht mehr. Ich zog
       erst wieder zu meiner Mutter, später in eine eigene Wohnung.
       
       Wie erging es Ihren drei Schwestern? 
       
       Die jüngste ist eine Nachzüglerin, die hat von alldem nicht viel
       mitbekommen. Meine älteste Schwester war schon ausgezogen und hält bis
       heute zu meinem Vater, die andere ging in eine Pflegefamilie. Mehr möchte
       ich dazu nicht sagen.
       
       Sie blieben auch nach dem Bruch mit Ihrem Vater in der rechtsextremen
       Szene. Warum? 
       
       Ja, aber nicht mehr in der HDJ, sondern bei den Kameradschaften. In Erding
       besuchte ich einen Stammtisch, wir gingen auf Konzerte, pöbelten Punks und
       Polizisten an. Ich fand das klasse. Es war moderner als bei der HDJ, und
       hier konnte ich rebellieren, ganz offen.
       
       Andererseits waren Sie auch in der NPD – unter lauter alten Männern. 
       
       Das war bizarr. Bis 18 kannte ich fast nur Nazis. Der NPD-Ortsverband war
       ein Haufen gescheiterter Existenzen, alle lästerten übereinander. Da habe
       ich zum ersten Mal Wahlkampf gemacht, mit Infoständen in der Fußgängerzone.
       Für die NPD war ich das Vorzeigemädchen. Aber niemand hat sich für unsere
       Stände interessiert, und ich wusste mitunter nicht, was auf dem Flyer
       steht. Aber damals waren das für mich kleine Schritte zur Revolution.
       
       Es gab nur wenige Frauen in der Szene. In welcher Rolle sahen Sie sich? 
       
       Aus meiner Sicht unterschied ich mich von den anderen Frauen. Ich bin ja in
       die Szene hineingeboren und kam nicht über einen rechtsextremen Freund
       dahin. Die meisten Frauen waren Anhängsel, wurden in der Kameradschaft
       herumgereicht, von einem Mann zum anderen. Dafür war ich zu stolz. Ich war
       über die HDJ ideologisch geschult. Ich dachte, ich sei etwas Besseres.
       
       Zur rechtsextremen Szene gehört auch Gewalt. Sie selbst haben mit 16 Jahren
       einen Fotografen verprügelt, der die Beerdigung einer Neonazi-Größe
       dokumentieren wollte. Wie kam es dazu? 
       
       Das schockiert mich im Nachhinein auch. Für uns war dieser Fotograf, ein
       Antifa-Typ, eine absolute Provokation auf dieser Beerdigung. Aus ganz
       Deutschland waren damals prominente Nazis angereist, Udo Voigt, Christian
       Worch, Steiner Wulff. Mit denen stand ich am Grab, in der Hand hielt ich
       eine Fahne der NPD-Jugend. Als wir dann vom Friedhof abzogen und der
       Fotograf vor uns her lief, sind ich und zwei Kameradinnen losgestürmt und
       haben auf ihn eingestiefelt, am Ende waren wir 30. Ich habe mit den Fäusten
       zugeschlagen, ihm zwischen die Beine getreten. Ich war wie besinnungslos.
       Mir war egal, wie schwer ich ihn verletze. Nein, ich wollte ihn verletzen.
       Erst nach ein paar Tagen ist mir bewusst geworden, dass ich die
       Beherrschung verloren habe. Heute ist mir das fremd, als wäre ich damals
       ein anderer Mensch gewesen.
       
       Wie ging es dem Fotografen? 
       
       Er hatte ein paar gebrochene Rippen und Prellungen, aber nichts Ernstes.
       Die Polizei lud mich zu einem Verhör vor. Aber darauf folgte nichts.
       
       Das Opfer arbeitet bis heute als Journalist in München. Sind Sie ihm wieder
       begegnet? 
       
       Ja, häufig. Er ist ein freundlicher Mensch, der das natürlich nicht
       verdient hatte. Ich habe mich bei ihm entschuldigt, und damit war es für
       ihn erledigt. Davor habe ich eine ganz schöne Achtung.
       
       Sie waren zu diesem Zeitpunkt bereits mit Felix Benneckenstein liiert,
       einem Liedermacher der rechten Szene, mit dem Sie heute verheiratet sind
       und ein Kind haben. Gemeinsam beschlossen Sie auszusteigen. 
       
       Man denkt immer, dass es ein Schlüsselerlebnis gibt. Aber so ist es nicht.
       Es gab immer wieder Momente, in denen ich dachte, hier läuft etwas falsch.
       Wenn Männer in der Szene, die die Familie als kleinste Zelle des Reichs
       rühmen, ihre Frauen betrügen. Oder der Alkoholkonsum, dem sich fast alle
       hingaben, ich ja auch, bis man völlig hemmungslos war. Das passt alles
       nicht zur NS-Ideologie. Es hat lange gedauert, bis ich diese Zweifel
       zugelassen habe. Anfangs habe ich mit Felix über unsere Leute gelästert.
       Irgendwann wurde aus dem Geläster ein Hinterfragen. Und als ich mit 17
       Jahren das erste Mal schwanger wurde, war es dann echt so: Nee, Stopp, ich
       muss aufhören, es muss sich etwas ändern. Trotzdem hat es zwei Jahre
       gedauert, bis es so weit war.
       
       Dass ein Paar gemeinsam aussteigt, ist selten. Machte es die Sache eher
       leichter oder schwerer? 
       
       Beides. Es gab Momente, in denen wir uns gegenseitig wieder reingezogen
       haben. Am Anfang war es Felix, der rauswollte. Da hatte ich noch gesagt:
       Nee, komm, das ist wichtig. Als dann seine CD veröffentlicht wurde, war er
       wieder voll drin in der Szene – und ich hatte schon abgeschlossen. Wirklich
       Schluss war erst, als Felix nach einer Schlägerei mit einem anderen Neonazi
       fünf Monate in Haft kam und gegen den Typen ausgesagt hat. Danach war Felix
       in der Szene eine Persona non grata. Grundsätzlich ist es zusammen
       leichter. Weil man über alles sprechen kann und nicht allein ist. Die
       meisten Aussteiger haben nichts mehr, gar nichts. Keine Freunde, keine
       Hobbys, keine Demos am Wochenende. Wir hatten uns.
       
       Konnten Sie vor der Szene verbergen, dass Sie aussteigen wollen? 
       
       Das war ein großes Problem. Wir haben erst gelogen oder falsche Gerüchte
       gestreut. Wir haben erzählt, wir ziehen weg, wir machen eine Ausbildung,
       oder dass Felix’ Arbeitgeber verlangt, dass er sich politisch nicht mehr
       engagiert. Das wurde akzeptiert. Trotzdem kamen immer wieder Anrufe, ob wir
       nicht hier oder da mitmachen wollen. Dann haben wir unsere Handynummern
       geändert. Trotzdem kamen Leute an die neue Nummern und wir brauchten
       Ausreden, um sie fernzuhalten.
       
       Wie haben Sie den Ausstieg offiziell gemacht? 
       
       Als Felix aus dem Knast kam, haben wir Kontakt zur Aussteigerhilfe „Exit“
       aufgenommen. Wir haben eine neue Wohnung gesucht, ich holte die Mittlere
       Reife nach, ging auf die Berufsschule. Vor allem Felix aber wollte mehr als
       nur aussteigen. Wir haben gemerkt, dass es wichtig ist, Anlaufstellen zu
       haben. Aber Exit sitzt in Berlin, über die Münchner Szene wussten sie nicht
       viel. Wir hatten das Bedürfnis, etwas wiedergutzumachen und unsere
       Erfahrungen weiterzugeben. Da haben wir beschlossen: Wir gründen selbst
       einen Verein und betreuen bayerische Aussteiger. Und das haben wir
       öffentlich gemacht, auf einer Pressekonferenz. Da war dann klar, dass es
       keinen Weg zurück gibt.
       
       Wurden Sie bedroht? 
       
       Ja. Unser Verein hatte anfangs eine Hotline für Aussteiger, irgendwann
       haben da nur noch besoffene Nazis draufgequatscht, auch mit Drohungen.
       Neben unserem damaligen Wohnhaus prangte eines Morgens ein Hakenkreuz an
       der Wand und der Spruch: Wir kriegen euch. Einen Nazi habe ich mal in der
       S-Bahn getroffen, der stellte sich ganz dicht neben mich, damit ich Angst
       bekomme. Habe ich aber nicht. Und es gab mal eine Phase, da wurde bei uns
       nachts geklingelt, mehrere Wochen lang. Das war ein ehemaliger Nachbar, der
       bei Pegida war, wie wir später festgestellt haben.
       
       Wie sind Sie damit umgegangen? 
       
       Natürlich muss man abwägen. Aber ich fühle mich in München sicher. Und wo
       genau wir wohnen, behalten wir für uns. Am Anfang hatten wir so etwas wie
       Personenschutz. Die Polizei hatte damals bekannte Nazis aufgesucht und
       ihnen gesagt, wenn uns etwas passiert, wissen sie, wer es war. Den kurzen
       Draht zur Polizei haben wir bis heute.
       
       Wenn Sie sich die rechte Szene heute angucken: Erkennen Sie Leute von
       früher wieder? 
       
       Klar. Vor allem bei der Identitären Bewegung kenne ich viele Gesichter, da
       sind ehemalige HDJler sehr aktiv. Zur NPD gab es immer Überschneidungen.
       Und die Szene der völkischen Siedler in Mecklenburg-Vorpommern ist fast
       eins zu eins die alte HDJ.
       
       Ist das die rechtsextreme Elite? 
       
       Ja, das Konzept der HDJ ist aufgegangen. Und das ist traurig. Deswegen ist
       das Argument, man solle rechte Organisationen nicht verbieten, weil sich eh
       neue gründen oder das Ganze im Untergrund weitergeht, totaler Quatsch. Es
       ist wichtig, es denen so schwer wie möglich zu machen.
       
       Inzwischen sitzen mit der AfD erstmals Rechtspopulisten im Bundestag. Wie
       beobachten Sie den Rechtsruck in diesem Land? 
       
       Ich finde beunruhigend, wie offen rassistisch man heute sein kann und was
       als salonfähig gilt. Wenn man hört, was Höcke oder Gauland sagen, das hätte
       früher einen Aufschrei gegeben. Ich habe das Gefühl, die Gesellschaft
       stumpft ab. Die Leute finden das normal oder sogar lustig, weil sie von der
       Politik eh frustriert sind. Das ist beängstigend.
       
       Wohin, denken Sie, wird das führen? 
       
       Die rechte Szene wird jetzt sagen, man komme dem Tag X näher, dem
       Zusammenbruch des alten Systems: Schaut doch mal, wie wir die Bürger
       erreichen, bald sind wir die Mächtigen. Das hätte mich damals auch
       bestärkt. Die Stimmung gegen Flüchtlinge und Migranten wird angeheizt.
       Deshalb ist jetzt wichtig, dagegenzuhalten und für die Demokratie zu
       kämpfen.
       
       In München läuft auch der NSU-Prozess. Verfolgen Sie den? 
       
       Ab und zu, das zieht sich ja ganz schön. Ich finde interessant, dass sich
       fast keiner der Angeklagten vom NSU distanziert hat. Im Gegenteil. Der
       Angeklagte Ralf Wohlleben hat sich mit Wolfram Nahrath einen überzeugten
       Neonazi als Anwalt genommen, auch ein früheres HDJ-Mitglied übrigens.
       Dieses Unverhohlene, das finde ich krass.
       
       Sie kamen dem NSU selbst nahe: 2008 saßen Sie mit Wohlleben, der als
       NSU-Waffenbeschaffer angeklagt ist, zusammen am Lagerfeuer. 
       
       Ja, es gab ein kleines Fest im Braunen Haus in Jena. Mit dreißig Leuten
       saßen wir am Lagerfeuer und tranken Bier, Wohlleben war dabei. Ich fand ihn
       merkwürdig. Immer wieder warf er Holz und mehr Holz in das Feuer, bis die
       Flammen drei Meter hoch waren. Als wäre er nicht ganz bei Sinnen.
       
       Hätten Sie damals gedacht, dass Ihre Kameraden zu einer Mordserie fähig
       sind? 
       
       Nein, das hätte ich mir nicht vorstellen können. Es gab Gewalt in der
       Szene, ja. Aber ich hätte mir nicht ausgemalt, dass da Leute losziehen und
       zehn Menschen ermorden. Das hat mich geschockt.
       
       Sie arbeiten heute als Erzieherin. Hatten Sie Probleme, mit Ihrer Vita
       einen Job zu finden? 
       
       Als ich der Leitung der Berufsschule von meiner rechten Vergangenheit
       erzählte und dass ich aussteigen werde, wollten die mich rausschmeißen.
       Erst als sich Exit für mich einsetzte, konnte ich meine Ausbildung beenden.
       Bei der Kita gab es nie Probleme. Alle Kollegen wissen Bescheid und haben
       das akzeptiert.
       
       Und wie reagieren die Eltern der Kita-Kinder? 
       
       Anfangs hatten wir denen nichts gesagt, um nichts loszutreten. Eines Tages
       aber kam ein Kind zu mir und sagte, ich habe dich in der Zeitung gesehen
       und deinen Hund auch. Da habe ich sofort die Eltern kontaktiert. Die haben
       gesagt: kein Problem. Krass nur, was du erlebt hast.
       
       Sie haben eingangs geschildert, dass Ihre Kindheit unglücklich war. Sind
       Sie heute glücklich? 
       
       Das bin ich. Wenn ich heute zurückblicke, merke ich, wie zerrissen ich
       damals war. Ich wusste überhaupt nicht, wer ich bin.
       
       Und heute ist das anders? 
       
       Ja, das ist heute anders.
       
       7 Oct 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Konrad Litschko
   DIR Sabine am Orde
       
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       Sie habe „'ne Macke mit Nazis“, sagt Katharina König-Preuss. Seit 25 Jahren
       dokumentiert die 39-Jährige die Aktivitäten der rechten Szene.
       
   DIR Waffenfund in Hamburg: Der stille Tod eines Neonazis
       
       In seiner Wohnung hortete der verstorbene Lutz H. Waffen, Munition und
       Nazi-Propaganda. Die Polizei zeigte kein Interesse an dem Material.