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       # taz.de -- „Dann schlaf auch du“ von Leïla Slimani: Eine scheinbar perfekte Nanny
       
       > Die französisch-marokkanische Autorin Leïla Slimani skizziert eine
       > Kindsmörderin. Ihr Bestseller ist auch auf der Buchmesse zu finden.
       
   IMG Bild: Wurde 2016 mit dem wichtigsten Literaturpreis Frankreichs ausgezeichnet: Leïla Slimani
       
       Leïla Slimani ist die letzte Laureatin des Prix Goncourt und damit die
       zwölfte Frau, die seit seiner Gründung im Jahre 1903 mit jenem wichtigsten
       Literaturpreis Frankreichs ausgezeichnet wurde. Als eine Journalistin des
       Elle Magazins sie befragte, was es ihr bedeute, den Preis während ihrer
       Schwangerschaft entgegengenommen zu haben, ließ die Antwort nicht lange auf
       sich warten: „So ganz anekdotisch ist es sicherlich nicht gewesen“,
       entgegnete Slimani. „Die Brüder Goncourt waren bekennende Frauenfeinde. Sie
       meinten, es kann kein weibliches Genie geben. Frauen mit Genie seien
       Männer.“
       
       Mit dem Spruch illustrierten die Goncourts ihre Auffassung, fuhr sie fort,
       dass die weibliche Natur mit der Kreation unvereinbar sei. Männer erzeugten
       Kunstwerke, Frauen zeugten Kinder. Transzendenz versus Immanenz. Eine Frau,
       die sich der Kunst widmen wolle, müsse daher auf ihre Natur verzichten.
       
       Man muss nicht Künstlerin oder Schriftstellerin sein, um mittlerweile zu
       wissen, dass Karriere und Kind unter einen Hut zu bringen intellektuell
       zwar möglich, organisatorisch jedoch immer noch keine einfache Sache ist.
       Zu Anfang des gekrönten Romans „Dann schlaf auch du“ von Leïla Slimanis
       Goncourt, der gerade auf Deutsch erschienen ist, steht zunächst die
       dreißigjährige Myriam im Mittelpunkt. Ihr Mann Paul arbeitet sich wie
       wahnsinnig zum erfolgreichen Musikproduzenten hoch, während Myriam sich zu
       Hause um die gemeinsamen, noch nicht schulreifen Kinder Mila und Adam
       kümmert.
       
       Doch in der Rolle der Mutter kann und will die einst brillante
       Jurastudentin nicht aufgehen. Als sie zufällig einen ehemaligen
       Kommilitonen auf der Straße trifft, der ihr einen verlockenden Job auf
       Augenhöhe ihrer Ambitionen in Aussicht stellt, zögert sie nicht lange –
       genau einen Absatz lang, den Slimani zur knappen Schilderung des Platz- und
       Zeitmangels von Kinder- und Familienleben im modernen Großstadtleben
       benötigt.
       
       ## Rollenverteilung bis zur bitteren Selbstverständlichkeit
       
       Noch bevor man der eigentlichen Protagonistin des Romans begegnet, hat die
       Autorin schon dargelegt, wie die klassische Rollenverteilung bis zur
       bitteren Selbstverständlichkeit in unseren Köpfen verankert ist. Myriam ist
       anfangs noch zögerlich, ihr Wertvollstes, ihre Kinder, einer Unbekannten
       anzuvertrauen.
       
       Paul hingegen rechnet kalt vor, wie die Beschäftigung einer Tagesmutter
       vermutlich genauso viele Kosten erzeuge, wie sie verdienen würde.
       
       Doch der Wille, sich auch beruflich zu verwirklichen, ist größer und bringt
       Louise ins Spiel: die scheinbar perfekte Nanny, die, wie wir gleich zu
       Anfang erfahren, beide Kinder ermorden wird.
       
       Mit diesem Kunstgriff versetzt Slimani den Leser in die Position des
       allwissenden Beobachters. Gekonnt lenkt sie die Aufmerksamkeit auf die
       Beziehung zwischen dem jungen Paar und der Nanny, die sich auf unheimliche
       Weise immer unentbehrlicher macht, und zeichnet die Gratwanderung ihrer
       Figuren zwischen Abhängigkeit und Unterwerfung nach.
       
       ## Das Paris der Bobos
       
       Die Idee zu „Dann schlaf auch du“ ruht laut Slimani auf einer wahren
       Begebenheit, die 2012 durch die Medien ging: An der schicken New Yorker
       Upper West Side erstach eine Nanny zwei Kinder und versuchte schließlich,
       sich das Leben zu nehmen. Jene Tragödie lieferte Slimani den Ausgangspunkt
       zur literarischen Auseinandersetzung mit einem Thema, das sie eigentlich
       seit Kindstagen beschäftigte.
       
       Slimani wurde 1981 in Rabat, Marokko, in einer wohlhabenden Familie
       geboren. Der Vater Bankier und Hochbeamter, die Mutter eine der ersten
       Ärztinnen des Landes, beschäftigten Personal in ihrem Haus. Auch aus diesem
       Umfeld kennt Slimani jene Konstellation aus Herren und Knechten, womit sie
       traurige Erinnerungen verbindet und die sie sich nun fragen lassen: Wer
       steckt hinter diesen Frauen, denen das eigene Familienglück verwehrt wird,
       damit andere Frauen arbeiten können?
       
       Den banalen Nährboden der Demütigungen wollte sie erkunden, ohne dabei den
       Kindsmord erklären zu müssen, wie sie in zahlreichen Interviews verkündete,
       und schuf mit Louise eine außergewöhnliche Figur zwischen Perfektionsdrang
       und Horror.
       
       ## Kalte Sezierung der Realität
       
       Paul vergleicht Louise im Roman einmal mit Mary Poppins. Im Laufe der
       Geschichte erinnert ihr Verhalten und Auftreten an verschiedenste
       Disney-Figuren – mal ist sie verspielt wie Peter Pan, mal zierlich und
       klein wie die Elfe Tinkerbell, mal unterwürfig wie der Hund Nana, bis das
       verinnerlichte märchenhafte Klischee des Berufsbildes immer mehr einer
       kalten Sezierung der Realität weicht.
       
       Ihre Geschichte verlegt Slimani nicht nach Marokko, sondern nach Paris und
       liefert somit ein aufschlussreiches Bild der Machtverhältnisse in einer
       modernen, individualisierten Gesellschaft. In die französische Hauptstadt
       zog es Slimani 1999, um an der Grande École Sciences Po zu studieren.
       Seitdem lebt sie dort, wenn auch ihr erster Beruf, Reporterin für das
       Magazin Jeune Afrique, sie vor allem im Zuge der Arabischen Revolutionen
       oft nach Nordafrika führte.
       
       2014 veröffentlichte sie ihren ersten, von Kritik wie Publikum gefeierten
       Roman „Dans le jardin de l’ogre“ (Deutsch: „Im Garten des Ogers“, noch
       nicht übersetzt).
       
       Auch er spielt in Paris und zeichnet das Porträt einer von ihrer
       unersättlichen Libido getriebenen Journalistin – ohne erkennbaren
       Migrationshintergrund. So umging Slimani geschickt die Gefahr, dass ihr
       Buch der allgegenwärtigen Hysterie preisgegeben und an dessen eigentlichem
       Thema vorbeigelesen wird – nämlich der sexuellen Sucht aus einer weiblichen
       (und eben nicht muslimischen) Perspektive.
       
       ## Französin aus dem Bilderbuch
       
       In „Dann schlaf auch du“ ermöglicht ihr die maghrebinische Herkunft von
       Myriam den latenten Rassismus ihres behüteten Freundeskreises offenzulegen.
       Louise hingegen erscheint zunächst wie eine Französin aus dem Bilderbuch,
       die allerdings kaum Interesse daran zeigt, sich mit ihren meist aus ärmeren
       Ländern und Verhältnissen eingewanderten Berufsgenossinnen zu befreunden.
       Die Außenseiterin nennen sie einfach nur „die weiße Nanny“. Was aber Louise
       und Myriam trennt, ist weniger ihr kultureller, als ihr sozialer
       Hintergrund.
       
       Slimani nimmt ihr eigenes Pariser Milieu genau unter ihre Lupe: die Bobos
       (Bourgeois-Boheme), die gern als freundlich, grün, kultiviert und weltoffen
       karikiert werden, entpuppen sich in ihrem Roman als weit komplexer und
       widersprüchlicher in Bezug auf ihre Werte und deren tatsächliche Umsetzung.
       Mit knappem und trockenem Stil beschreibt Slimani das Tun und Sagen ihrer
       Figuren, ohne sich in die hinteren Wicklungen ihrer Gedanken zu begeben.
       
       Sie urteilt nicht und liefert keine populärpsychologischen Erklärungen,
       zeichnet aber umso treffender einen detailreichen Eindruck des sozialen
       Unbehagens des heutigen Frankreichs. Die fantasierte Offenheit und
       Durchmischung findet nicht statt, und ausgerechnet an den Orten, wo sie
       erblühen könnte, muss sie kläglich scheitern: an den Schulen und im
       Aufeinandertreffen von Angestellten mit ArbeitgeberInnen.
       
       Ob „Dann schlaf auch du“ ein Buch über den Klassenkampf ist, wurde Slimani
       oft gefragt. „Ja“, antwortete sie, „aber ohne Klassen und ohne Kampf“.
       Tatsächlich: das Besser- wie das Schlechtergestelltsein innerhalb der
       Gesellschaft wird von einer solch unaussprechlichen Scham begleitet, dass
       die beunruhigende Kluft weder öffentlich noch privat genügend debattiert
       wird. Als Myriam und Paul das Experiment wagen und Louise zum Abendessen
       mit FreundInnen einladen, spricht die Runde nur in der dritten Person über
       sie.
       
       10 Oct 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Elise Graton
       
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