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       # taz.de -- Neue Bücher über Frankreich: Bundesgenosse, Dummkopf!
       
       > Dem komplizierten Beziehungsstatus zwischen Frankreich und Deutschland
       > gehen drei Frankreich-Korrespondenten auf den Grund.
       
   IMG Bild: „Künste, Politik, Lebensart und Revolution“: Demonstration auf dem Platz der Republik in Paris gegen die umstrittene Arbeitsmarktreform von Staatspräsident Macron
       
       Bücher deutscher Frankreich-Connaisseure haben Tradition, von Friedrich
       Sieburgs Klassiker „Gott in Frankreich“ über Georg Stefan Trollers
       versierte Paris-Journale bis zu den gedämpften Liebeserklärungen von Lothar
       Baier, Klaus Harpprecht und Ulrich Wickert. Auch wo sie kritisch waren,
       blieben es Elogen, „weil mit jeder Deutung Frankreichs die Hoffnung oder
       doch wenigstens das Verlangen in uns wächst, dies Land möge mit uns die
       Reise in die Zukunft antreten – zu seinem Glücke und dem unseren“
       (Sieburg).
       
       In Umfragen bleibt dies Land ein notorisch beliebter Nachbar, französische
       Romane werden verschlungen, Subjonctif und Passé simple unterrichtet,
       Schüleraustausche und gemeinsame Kabinettssitzungen veranstaltet. Und als
       Reiseland Nr. 1 bietet das Hexagon komplett alles von weltläufiger
       Urbanität bis introvertierter Provinz.
       
       So nah – und doch so fern. „Eine lichtdurchflutete, geordnete Welt, von der
       eine logische, ja zwingende Geschichte erzählt. Aber es gibt immer noch
       eine andere Version, eine Kammer, zu der man Zutritt hat oder eben nicht.
       Und weil das schon seit vielen Jahrhunderten so ist, plagt und durchspukt
       die Vorstellung von der verborgenen Ordnung, von schwarzen Kabinetten,
       geheimen Machtstrukturen und ungenannten Namen die öffentliche wie die
       private Vorstellungskraft“, schreibt der Spiegel-Journalist Nils Minkmar
       und er nutzt wie seine beiden SZ- und Zeit-Kollegen die Gelegenheit der
       diesjährigen Buchmesse für eine Inspektion der deutsch-französischen Achse.
       
       ## Künste, Politik, Lebensart und Revolution
       
       Wer über Frankreich schreibt, kommt gar nicht umhin, von Künsten, Politik,
       Lebensart und Revolution zu handeln, doch intime Kenner wissen solche
       Stereotypen mit unbekannten Episoden anzureichern. So legen sie die Kerne
       eines in sich widerstreitenden französischen Wir-Gefühls frei: die
       Religiosität im Laizismus, die Eigentümlichkeiten der öffentlichen wie
       privaten Kommunikation, die Korrespondenz von Reglement und Freiheitsliebe.
       Und nicht zuletzt die mentale Reserve gegenüber den bewunderten Deutschen.
       
       Der Doppelstaatler Nils Minkmar, dem die familienbiografische Vertrautheit
       mit Frankreich anzumerken ist, öffnet die bewussten Kammern eine nach der
       anderen, in einem Plauderton, der den Fluch des Élysée-Palastes und die
       Bürde der präsidialen Monarchie wie einen Warnruf an den jüngsten Bewohner
       klingen lässt. Er macht uns auch vertraut mit der Bedeutung der Frauen in
       der intellektuellen Welt und der verbreiteten Verbindung des nationalen mit
       dem eigenen Lebensroman, und er verknüpft kulinarische Ausflüge mit
       politisch-sozialen Exkursen.
       
       Über allem liegt ein Hauch von Melancholie über die traumatischen Schläge,
       die der islamistische Terror der Republik zugefügt hat. Minkmar zeigt
       Frankreichs unzerstörbare Essenz, um nicht zu sagen: Seele. Die der
       Barbarei die Stirn bietet und uns mehr abnötigen sollte als ein kostenloses
       „Wir sind Charlie“.
       
       ## Antoine Saint-Exupéry
       
       Der Schweizer Wahlfranzose Joseph Hanimann, dem Bücher über den
       Weltenbummler Antoine Saint-Exupéry und den Unzeitgenossen Charles Peguy zu
       verdanken sind, stellt seine Betrachtungen unter das Motto der „exception
       française“ und dekonstruiert den (nicht nur für die Kulturpolitik
       postulierten) Sonderweg.
       
       Wer noch das Frankreich der Nachkriegsjahre kennt, stellt den fundamentalen
       Wandel und die damit verbundene Angleichung an die Nachbarländer zu einer
       konvergierenden europäischen Gesellschaft fest, aber auch die anhaltende
       Distinktionsfähigkeit von Franzosen in den Sphären der Mode, des Alltags
       und der Politik.
       
       Die Fünfte Republik ist passé, wird aber von Emmanuel Macron reanimiert,
       als sei er Charles de Gaulle und François Mitterrand in einem; dabei ist er
       ein Sozialliberaler, der indes so nicht genannt werden darf und will.
       Kultursoziologisch gräbt Hanimann am tiefsten, das Buch sollte lesen, wer
       sich mit Frankreich näher befassen will, zumal der SZ-Korrespondent den
       unbewältigten Algerienkrieg anspricht, den er als einen der Hauptgründe für
       den Terrorismus der dritten Einwanderergeneration aus dem Maghreb
       identifiziert.
       
       Georg Blume, nach diversen Auslandsposten auf seinen ersten, damals
       jugendbewegten in Paris zurück, betitelt sein Buch gleich mit
       „Frankreich-Blues“. Es handelt von der Entmutigung durch wirtschaftlichen
       und politischen Bedeutungsverlust und der Verzweiflung über den Würgegriff
       des überwiegend hausgemachten Dschihad, aber vor allem vom Unverständnis
       deutscher Eliten für die französische Lage.
       
       ## Deutsch-Französische Freundschaft
       
       Etwas atemlos und gelegentlich selbstverliebt wirbt Blume für eine
       Erneuerung der deutsch-französischen Freundschaft, mit Heinrich Heine als
       Kronzeugen: „Frankreich ist jetzt unser natürlicher Bundesgenosse. Wer
       dieses nicht einsieht, ist ein Dummkopf, wer dieses einsieht und dagegen
       handelt, ist ein Verräter.“
       
       Dieses Verdikt von 1836 ist angesichts der Berliner Indifferenz gegenüber
       der neuen politischen Führung in Élysée und Matignon nicht übertrieben.
       Auch Nils Minkmar verlangt eine entschiedenere Antwort auf die Pariser
       Avancen, was eine selbstkritische Überprüfung des deutschen
       Hegemonialstatus beinhaltet. Deutschland muss jetzt liefern.
       
       Der Vorzug der drei Autoren, die Geistes- und Kulturgeschichte Frankreichs
       tief inhaliert zu haben, könnte einer jüngeren Leserschaft durchaus als
       Nachteil erscheinen. Sie betrachten das Land weniger andächtig-vertraut und
       erleben es bei Paris-Visiten oder im Jugendaustausch in der Provinz weniger
       exzeptionell als konvergent.
       
       Die Meisterdenker der 1970er und 1980er Jahre, die in den drei Büchern zu
       Wort kommen, kommen ihnen ziemlich old school vor, die frühere (Miss-)
       Verständigung der politischen Eliten betrachten sie ohne Drama. Und wo sie
       den Zugang über ihre Peers finden, handeln sie eher pragmatisch, was nach
       Jahrzehnten blutiger Erbfeindschaft und holpriger Erbfreundschaft nicht
       schlecht ist.
       
       So kann man Sieburgs immer wieder lohnende Reise unbeschwert antreten –
       Lesestoff bekommt man genug bei den drei Autoren, die nebenbei den Beweis
       liefern für die Notwendigkeit eines gut ausgestatteten
       Korrespondentenwesens, das sich leider immer weniger Zeitungen und
       Rundfunkanstalten leisten können.
       
       14 Oct 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Claus Leggewie
       
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