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       # taz.de -- Bremens Frauenbeauftragte über ihr neues Amt: „Fortschritt ist eine Schnecke“
       
       > Bremens künftige Landesfrauenbeauftragte Bettina Wilhelm über Feminismus,
       > den Genderbegriff und Bremer Besonderheiten
       
   IMG Bild: Übernimmt ab November das Amt der Landesfrauenbeauftragten in Bremen: Bettina Wilhelm
       
       taz: Frau Wilhelm, was reizt Sie am Amt der Bremer
       Landesfrauenbeauftragten?
       
       Bettina Wilhelm: Zunächst, dass es ein Amt mit viel Gestaltungsspielraum
       ist – ein politisches, aber zugleich auch parteiunabhängiges Amt. Wichtig
       ist mir auch, dass es eine fachpolitische Arbeit ist.
       
       Größere Gestaltungsspielräume als in Bremen gibt es für Frauenbeauftragte
       selten … 
       
       Bremen hat da gleichstellungspolitisch ein echtes Vorzeigemodell. Und die
       bisherige Amtsinhaberin Ulrike Hauffe ist bekannt im gesamten Bundesgebiet.
       Es ist reizvoll, eine Stelle anzutreten, die so eine hohe Priorität und
       Wahrnehmbarkeit bereits hat.
       
       Für welche Akzente wollen Sie den Gestaltungsspielraum denn nutzen? 
       
       Die wichtigste Aufgabe ist natürlich eine aktive Lobbyarbeit. Ich möchte
       eine Fürsprecherin sein für die Frauen in Bremen, und ich möchte den Frauen
       eine gewichtige Stimme geben in allen Politikbereichen.
       
       Das klingt noch nicht sehr spezifisch. 
       
       Das ist der Rahmen. Es gibt aber auch klare inhaltliche Themen und Bremer
       Besonderheiten, die ich in den Blick nehmen werde: Dazu gehört das Thema
       Gewalt. Das ist sicher ein Dauerbrenner. Mit diesem Thema habe ich immer
       wieder beruflich zu tun gehabt, ich habe dazu geforscht, da bringe ich
       viele fundierte Kenntnisse mit.
       
       Das passt, weil es laut Gleichstellungsatlas eines der drängendsten
       frauenpolitischen Probleme in Bremen ist. 
       
       Ein weiteres Dauerbrennerthema ist die Frage nach der Vereinbarkeit von
       Familie und Beruf. Und auch da gibt es Besonderheiten, die mit der sozialen
       Lage des Bundeslandes zu tun haben: Dass die Entgelt-Ansprüche von Müttern
       in Bremen bundesweit am geringsten sind, ist ein Problem. Und es hat damit
       zu tun, dass die Quote derer, die vor der Mutterschaft berufstätig waren,
       hier so gering ist. Daran schließt sich nahtlos die Frage nach der Lage der
       Alleinerziehenden an.
       
       Ist das auch eine Bremer Besonderheit? 
       
       Bremen ist da bundesweit mit 27,7 Prozent eine Hochburg. Und dabei fällt
       auf, dass es eine sinkende Erwerbsbeteiligung gibt: Das ist eine sehr
       bemerkenswerte Tendenz, in deren Folge steigt auch die Hilfequote.
       Auffällig ist auch, dass viele Alleinerziehenden keine abgeschlossene
       Berufsausbildung haben.
       
       Bedeutet Frauenpolitik im 21. Jahrhundert nicht vor allem auch eine
       Bestandssicherung? 
       
       Nein. Das wäre eine rückwärtsgewandte Politik, mit der wir keine Erfolge
       erzielen. Es geht um Fortschritt. Am Grad der Gleichstellung kann man die
       Fortschrittlichkeit einer Gesellschaft messen. Leider geht es dabei nicht
       nur voran …
       
       Daher doch die Frage nach der Bestandssicherung: Wir erleben gerade ein
       Role Back, erstmals seit den 1990er-Jahren ist der neue Bundestag
       männlicher als sein Vorgänger. 
       
       Wir sind auf den Stand von 1998 zurückgefallen, genau. Und das liegt an den
       Parteien, die neu im Parlament sind, die FDP mit rund 22 Prozent, die AfD
       mit 10,6 Prozent Frauenanteil. Das ist ein Rückschlag. Das bedeutet, wir
       können nicht davon ausgehen, dass die moderne, tolerante Gesellschaft sich
       immer durchsetzt. Aber gerade deshalb dürfen wir uns nicht damit begnügen,
       nur das Erreichte zu verteidigen.
       
       Wäre dann also ein Parité-Gesetz voranzutreiben? 
       
       Grundsätzlich bin ich für Quote, auch in der Arbeitswelt.
       
       Ein Parité-Gesetz würde aber doch erst mal nur eine geschlechtergerechte
       politische Repräsentanz sicherstellen? 
       
       Ja, aber ich bin sicher, das würde Politik auch inhaltlich verändern. Und
       es gibt noch andere Zusammenhänge. Mit einem Parité-Gesetz steigt generell
       die Akzeptanz von Quoten, und das ist nötig. Wenn man sich in Deutschland
       die börsennotierten Unternehmen anschaut, sieht man, dass sich bei 70
       Prozent der Unternehmen, die ihre Quote selbst bestimmen können, die alten
       Kräfte durchsetzen. Sprich: Die bleiben bei null Prozent Frauenanteil.
       Daran sieht man: Es fehlt am Willen, und es fehlt am Bewusstsein. Dabei
       täte es den Unternehmen gut, auch Frauen in Führungspositionen zu bringen.
       
       Gleichzeitig verstärken Quoten und Gesetze die binäre
       Geschlechterkonstruktion, die akademisch informierte Genderdiskurse
       überwinden wollen. 
       
       Das ist ein total spannender Punkt. Den müssen wir auch diskutieren. Ich
       sehe da durchaus ein Dilemma: Denn die Binarität steht der
       Ausdifferenzierung der Geschlechter entgegen. Wenn man allerdings politisch
       erfolgreich sein möchte, wenn man Maßnahmen, die Wirkung zeitigen,
       durchsetzen will, braucht es eine Zuspitzung.
       
       Das heißt, der akademische Diskurs ist interessant, aber nur was für
       Liebhaber? 
       
       Nein, er ist absolut wichtig, um reale Diversität sichtbar zu machen und
       der Diskriminierung sexueller Identitäten und Orientierungen vorzubeugen.
       Aber wenn politische Kommunikation erfolgreich sein will, muss sie auch für
       Menschen verständlich sein, die keine GenderexpertInnen sind. Im
       politischen Diskurs Geschlechterbinarität ganz aufzulösen, halte ich für
       gefährlich: Wenn wir eine Statistik führen, brauchen wir das
       Mann/Frau-Verhältnis, um aufzuzeigen, wo Ungerechtigkeiten im System, in
       den Strukturen sitzen. Klar kann man Statistiken ausdifferenzieren, aber
       dann steigt Max Mustermann beim Lesen aus.
       
       Brauchen wir also einen Feminismus der zwei Geschwindigkeiten? 
       
       Wünschen würde ich mir zwar einen Hochgeschwindigkeitsfeminismus, aber wie
       heißt es so treffend: Fortschritt ist eine Schnecke. Wahr ist allerdings,
       dass der Feminismus derzeit einen Hype erlebt und dabei auch Gefahr läuft,
       zu verwässern.
       
       Inwiefern? 
       
       Das Beispiel, das mir einfällt, ist eine Modenschau, bei der Karl Lagerfeld
       die Präsentation seiner Chanel-Kollektion als feministische Demonstration
       inszeniert hatte. Mit Frauen, die Sprüche auf T-Shirts hatten und Plakate
       hochhielten mit politischen Botschaften. Das ist zweischneidig, denn es ist
       zwar gut, dass Feminismus angesagt ist, aber er darf auch nicht hohl werden
       und bei der Inszenierung stehen bleiben. Der Gefahr müssen wir
       entgegentreten. Und da helfen natürlich Zahlen, Statistiken – harte,
       faktische Argumente.
       
       Aber der akademischere Feminismus ist derzeit am ehesten bewegungs-fähig:
       Eine feministische Demo ohne ihn zu organisieren, würde schwierig. 
       
       Auf jeden Fall. Ich möchte den komplexen Genderbegriff nicht wegdiskutieren
       oder leugnen. Er ist aber nicht geeignet, um das Thema Armut zu
       diskutieren.
       
       Für welchen Feminismus plädieren Sie? 
       
       Für mich ist Feminismus eine soziale Bewegung und eine Haltung, die sowohl
       Frauen, Männer als auch Transgenderpersonen haben können. Feminismus setzt
       sich für die Selbstbestimmung und gegen Sexismus ein.
       
       8 Oct 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Benno Schirrmeister
       
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