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       # taz.de -- Wilfried Berghaus über Jazz in Ostfriesland: “Hören muss man immer wieder neu lernen“
       
       > Seit 25 Jahren organisiert Wilfried Berghaus Jazz-Konzerte in
       > Ostfriesland. Wieso sich weltweit Musiker darum reißen, in Leer auftreten
       > zu dürfen, erzählt er im Interview
       
   IMG Bild: Hat den Jazz nach Ostfriesland geholt: Wilfried Berghaus
       
       taz: Herr Berghaus, können Sie nach über 200 Konzerten dem Free Jazz noch
       etwas Neues abhören? 
       
       Wilfried Berghaus: Mehr denn je! Wir finden immer wieder neue MusikerInnen
       mit neuer Musik. Weil wir den Begriff Jazz nicht eingeengt definieren,
       finden wir sozusagen eine Weitwinkel-Musik, die uns immer wieder
       überrascht.
       
       Wie sind Sie eigentlich auf den Jazz gekommen? 
       
       Oh, das weiß ich genau. Ich habe mit 25 Jahren auf einer Party in Leers
       Nachbarstadt Bunde nachts auf der Hollywood-Schaukel im niederländischen
       Radio Hilversum eine Musik gehört und gedacht: Wow, was zum Teufel ist das?
       Ein gewisser Charlie Parker spielte Saxofon, absolut überirdisch. Am
       nächsten Tag hab ich mir seine Platte besorgt. Damals gab es in Leer noch
       einen Plattenladen. Und in einer Leerer Buchhandlung, der Besitzer Theo
       Schuster war selbst Jazz-Fan, fand ich dann andere Platten. Das war ein
       Erweckungserlebnis.
       
       Was haben Sie vorher für Musik gehört? 
       
       Meine persönliche Musiksozialisation ist nicht über die Beatles gelaufen.
       Ich hab lieber die Doors, Cream oder John McLaughlin gehört. Ich betone:
       gehört. Ich spiele kein Instrument und habe mich immer auf das Hören
       konzentriert. Deswegen mag ich auch nicht so gerne auf Festivals gehen. Da
       lenkt vieles vom Hören ab. Hören muss man immer wieder neu lernen und
       neugierig sein und sich überraschen lassen wollen. Das ist eigentlich schon
       alles, was es braucht, um für jede Musik offen zu sein.
       
       Haben Sie denn hier in Ostfriesland so ein Hör-Publikum für Free Jazz? 
       
       Ja und nein. Wir haben hier schon einige Enthusiasten. Aber unser Publikum
       kommt oft von weit her. Die Leute reisen nicht unbedingt an, um eine
       bestimmte Gruppe zu sehen. Sie kommen einfach, weil Sie wissen, sie
       bekommen gute, interessante Musik in einer besonderen Atmosphäre geboten.
       Unsere ältester regelmäßiger Besucher ist über 80 Jahre alt. Der ist nach
       seiner Pensionierung extra wegen unserer Jazz-Reihe von Hamburg nach Leer
       gezogen.
       
       Es gibt in Leer eine ausgezeichnete Musikszene, was Klassik und Orgelmusik
       angeht. Und es gibt in den beiden Gymnasien exzellenten Musikunterricht.
       Profitiert ihre Jazz-Reihe davon? 
       
       Nein, eigentlich nicht. Die Klassik wird in Leer teilweise sehr eng
       definiert. Neue Musik, etwa von Schönberg, wird überhaupt nicht aufgeführt.
       Zu den klassischen Konzerten geht in der Regel ein anderes Publikum als zu
       uns. Und von den Schulen bin ich ehrlich gesagt etwas enttäuscht. Wir haben
       versucht, sie in unsere Reihe einzubinden, hatten bislang aber keinen
       Erfolg. Ich kann mir aber sehr gut vorstellen, dass wir den SchülerInnen
       interessante Klangerlebnisse vermitteln könnten.
       
       Sind Ihre BesucherInnen also so was wie eine elitäre Truppe? 
       
       Ach, überhaupt nicht. Als der damalige Leiter der Volkshochschule und ich
       angefangen haben, die Konzertreihe zu entwickeln, wollten wir ein möglich
       breites Publikum ansprechen. Und da kommen wir schon zum Kern der Sache.
       Wir sehen Jazz nicht so eng. Uns ist wichtig, Musikerlebnisse anzubieten,
       die sich im Spannungsfeld von Tradition und Moderne aufbauen. Wir spulen
       keine Jazz-Standards ab.
       
       Sondern? 
       
       Unsere MusikerInnen wollen überraschen. Und unser Publikum ist neugierig
       und offen. Im letzten Jahr ist zum Beispiel die Sängerin Vesna
       Pisarovićsamt Band mit einem Elvis-Presley-Programm aufgetreten. Natürlich
       hat sie die Elvis-Songs nicht einfach nachgesungen. Mit cooler Vokalkunst
       und einem quer gebürsteten Sound aus Posaune, Kontrabass und Schlagzeug hat
       sie seine Lieder vielmehr neu entdeckt und sie tatsächlich wieder zu dem
       gemacht, was sie sind: großartige Songs der Pop-Geschichte. Eine Zeitung
       schrieb über das Programm: Elvis Presley nackt, ohne Haartolle,
       Westernboots und Glitzerjacke.
       
       Ist es das, was Sie als Spannungsfeld zwischen Tradition und Moderne
       beschreiben? 
       
       Genau. Ein anderes Beispiel ist die Gruppe Underkarl, die im November nach
       Leer kommt. Der Drummer Dirk-Peter Kölsch ist ein begnadeter Komponist. Der
       hat legendäre Musiksolos von Charlie Parker, Sun Ra, Ellington und Charles
       Mingus aus ihrem Kontext geschnitten und sie für seine Gruppe neu
       arrangiert. Genial. Und erst im September war das East-West-Trio hier mit
       Xu Fengxia, die spielt klassische chinesische Saiteninstrumente und singt.
       Ihre traditionellen Klänge wurden von Sylvain Kassap und Didier Petit auf
       Klarinette und Cello paraphrasiert. Der Saal war voll. Die Zuschauer sind
       aus dem Staunen nicht herausgekommen. Das war Begeisterung pur.
       
       Haben Sie keine Angst, Ihre ZuschauerInnen mit solchen Experimenten zu
       überfordern? 
       
       Überhaupt nicht. Eben weil wir den Begriff Jazz sehr weit fassen, sprechen
       wir auch ein sehr breites Publikum an. Wir erreichen etwa 300 Menschen mit
       unseren Konzerten. Die kommen natürlich nicht immer alle zu jedem Auftritt.
       Aber 60 bis 80 Leute zwischen 16 und 80 Jahren sind immer da und das ist
       toll. Zu dem einen Konzert kommen diejenigen, die gern Gesang hören wollen,
       das nächste Mal die, denen das Saxofon lieb ist, beim dritten Event kommen
       welche, die es gern krachen lassen. Wir hatten letztens eine Band, da ging
       es richtig laut ab. Da hatte ich Angst, die älteren Gäste könnten sauer
       werden. Genau das Gegenteil ist eingetreten. Die Alten haben begeistert
       mitgemacht.
       
       Sie haben ein besonderes Publikum und Sie haben Jazzer mit Weltniveau. Gibt
       es noch was, was Leer von anderen Spielstätten unterscheidet? 
       
       Naja, als wir 1992 mit den Konzerten anfingen, war das kein Sprung ins
       kalte Wasser. Ich hatte davor schon die Reihe „Beste Musik des Planeten“
       organisiert. Das war im Leeraner Jugendzentrum. Immerhin mit Leuten wie
       Albert Mangelsdorff. Da kam ein spezielles Publikum hin, aber die
       Erwachsenen ließen sich vom Namen des Veranstaltungsortes abschrecken. Dann
       haben wir Konzerte in einer Schulaula veranstaltet. Aber da bekamen wir den
       Geruch von Schule nicht aus dem Klamotten. Als dann 1992 der Leeraner
       Kulturspeicher, ein neuer Veranstaltungsort in einem historischen
       Hafenkontor, fertig saniert war, hatten wir unser perfektes Wohnzimmer. Die
       MusikerInnen schwärmen von der guten Akustik, es ist familiär, ohne beengt
       zu sein. Da kann man konzentriert zuhören.
       
       Warum gibt es Sie nach 25 Jahren immer noch? 
       
       Ich denke, es ist wichtig, auch in schwierigen Situationen durchzuhalten
       und unbedingt ein hohes Niveau zu garantieren. Und Kontinuität des
       Programms ist wichtig. In vielen Großstädten kommen und gehen die Klubs.
       Sie machen mal ein Jahr ein gutes Programm und dann verschwinden sie
       plötzlich. Wir haben uns unser Publikum erarbeitet. Auch wenn hier in Leer
       viele Ureinwohner immer noch nicht wissen, was wir machen. Dafür kennen uns
       die Leute in New York, Boston, Hamburg, Groningen und Bremen. Manchmal
       spielen bekannte Bands ihr einziges Deutschlandkonzert in Leer. Dann steht
       in den Booklets ihrer preisgekrönten Alben bei den Ankündigungen ihrer
       Tour: Oslo, Paris, Leer. Das ist doch was.
       
       Wie kriegen Sie denn die MusikerInnen nach Leer? 
       
       Ich habe keine Probleme, unsere Konzertreihe zu füllen. Ich muss die
       Künstler schon vertrösten oder sogar abweisen. Es vergeht kein Tag ohne
       Anfragen, ob diese oder jene Band in Leer auftreten kann. Und wenn das
       Budget nur zehn Konzerte im Jahr zulässt, dann wird es eben eng.
       
       Sie sind 64 Jahre alt und werden nächstes Jahr in Pension gehen. War es das
       dann mit dem Live-Jazz im Speicher? 
       
       Ich hoffe nicht. Aber es ist klar, dass ich ehrenamtlich nicht arbeiten
       kann. Jetzt mache ich die Arbeit im Auftrag der Stadt und ob jemand anders
       so einfach die Arbeit übernehmen kann, weiß ich nicht. 25 Jahre, da hängt
       viel Erfahrung dran und viele Kontakte zu den MusikerInnen. Ob die Stadt
       nach meiner Pensionierung die Reihe fortführen will und wie und mit wem,
       das muss sich erst noch zeigen.
       
       Das nächste Konzert der Reihe „Jazz in Leer“: Dienstag, 17.10.2017, 20 Uhr,
       Kulturspeicher, Leer
       
       16 Oct 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Thomas Schumacher
       
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