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       # taz.de -- Die Wahrheit: Kunstpatienten, ein Stillleben
       
       > Im Behandlungsraum meines Arztes hängt eine riesige Fotografie. Der Arzt
       > kommt nicht. Zeit, das Werk in Ruhe auf mich wirken zu lassen.​
       
   IMG Bild: Der größte Lump im ganzen Land ist der Denunziant
       
       Nachdem mich die Arzthelferin allein im Behandlungsraum zurückgelassen hat,
       blicke ich mich um. An jeder Wand hängt je eine riesige Fotografie. Der
       Arzt kommt nicht. Er will mir Zeit geben, damit ich sein Werk in Ruhe
       genießen, es auf mich einwirken lassen, es verstehen kann.
       
       Da ist vor allem das Motiv „Stille Wasser“, ein Bach in einer äußerst
       langweiligen Landschaft, wie der unkundige Betrachter zunächst glauben mag.
       Das aber ist zu kurz gegriffen. Die Landschaft ist nicht langweilig, sie
       sieht nur langweilig aus. Denn wer sich bloß ein bisschen Mühe gibt und
       sich der Kunst so öffnet, wie sie es verdient, wird wunderbar belohnt.
       
       Sehen wir uns die Komposition doch einmal näher an. Außen herum ein schöner
       Rahmen. Plastik wohl. Gutes Plastik. In der Mitte ein Bach. Links daneben
       ein Baum. Bach. Baum. Das ist, was das Bild uns zeigen will. Oder auch:
       Baum. Bach. Also in umgekehrter Reihenfolge. Verwirrend, aber schön.
       
       Mit einem Mal tun sich Interpretationsspielräume auf, zahllos und unendlich
       weit wie Galaxien. Der Bach liegt still. Der Baum steht daneben und
       schweiget. Was will er uns sagen: Neben mir fließt ein Bach. Warum bin ich
       hier? Huch, ich werde fotografiert.
       
       Man steht da vor diesem Bild wie im Ayahuasca-Nebel. Oben ist unten, die
       Mitte ist am Rand, nur hinten ist links. Und dann erst der Himmel! Ich bin
       blau, schreit dieser Himmel geradezu den Betrachter an, wütend, laut, dass
       es kaum zu ertragen ist, auch der Baum schreit, der Bach schreit, sie alle
       schreien, schrill, man möchte sich die Ohren zuhalten und schafft es doch
       nicht. Kunst muss manchmal eben wehtun.
       
       Und das alles offenbar mit einem alten Handy fotografiert und dann auf A0
       hochgezogen. Schön ist das nicht. Aber interessant. Man muss auch mal was
       wagen. Man tut mir bitter Unrecht, seufzt es hier aus jeder Raufaser der
       blutbespritzten Tapete, ich bin eigentlich gar kein Arzt, ich bin ein
       Künstler im Körper eines Arztes gefangen, der wiederum in einem Arztzimmer
       eingesperrt ist, anstatt stolz und frei durch eine Galerie zu schweben.
       
       „Lassen sie mich durch, ich bin Arzt“, höre ich nunmehr durch die
       geschlossene Tür. Der Künstler hat das Arztsein wohl doch ein Stück
       verinnerlicht. Wenn mir schon die Anerkennung verweigert und „Stille
       Wasser“ niemals seinen gerechten Platz im Museum of Modern Art in Astana
       bekommen wird, scheint er sich zu denken, dann lässt man mich hier
       wenigstens durch. Weil ich es sage. Weil man mich für einen Arzt hält. Das
       ist doch auch schon was.
       
       Er hat den Lebensmut nicht verloren. Andere hätten sich längst umgebracht.
       Er aber ist ein Kämpfer für eine wahrhaftige Kunst, die nicht auf den
       eitlen Erfolg schielt, ja, nicht einmal auf ein Publikum, sondern
       allenfalls auf Patienten. Eine Kunst nur um der Kunst willen, ein dem
       allmächtigen Gott auf dem Altar der Demut dargebrachtes Geschenk. Stille
       Wasser sind tief.
       
       20 Oct 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Uli Hannemann
       
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