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       # taz.de -- Aus „Le Monde diplomatique“: Kalte Regeln
       
       > Die Flüchtlingspolitik der Europäischen Union verhindert Solidarität.
       > Dabei gibt es genug Lösungsansätze wie Botschaftsasyl und legale
       > Migration.
       
   IMG Bild: Um Asyl in der EU zu bekommen, muss man zuerst illegal und gefährlich einreisen
       
       Mit einer einzigen Entscheidung hätte der Europäische Gerichtshof (EuGH) im
       März 2017 die Flüchtlingspolitik der gesamten Europäischen Union
       schlagartig ändern können. Eine syrische Flüchtlingsfamilie hatte in der
       belgischen Botschaft in Beirut ein Einreisevisum in die EU beantragt und
       gegen die anschließende Ablehnung ihres Antrags geklagt. Der Fall war
       brisant: Wären die Familienmitglieder bei der Antragstellung bereits auf
       belgischem Boden gewesen, wären sie wahrscheinlich als Flüchtlinge
       anerkannt worden. So aber wurde ihnen, wie in solchen Fällen üblich, die
       Möglichkeit auf ein humanitäres Visum verwehrt. Es stand viel auf dem Spiel
       für Schutzsuchende aus der ganzen Welt. War die Ablehnung durch die
       belgischen Behörden rechtswidrig?
       
       Die EU-Richter zogen sich aus der Affäre. Obwohl sogar EU-Generalanwalt
       Paolo Mengozzi sich in seinem Schlussantrag dafür aussprach, bestimmten
       Flüchtlingen aus humanitären Gründen ein Visum auszustellen, erklärte sich
       der EuGH für nicht zuständig. Um humanitäre Visa müssten sich, wenn es sie
       denn geben sollte, die einzelnen Mitgliedstaaten selbst kümmern. Dabei war
       der Gerichtshof bei anderen Asylfragen nicht so schüchtern, auch
       weitreichende Urteile zu sprechen.
       
       Mit dem Votum des obersten EU-Gerichts bleibt die Flüchtlingspolitik der EU
       ein paradoxes Konstrukt: Um eine Chance auf Asyl zu haben, muss man sich
       auf europäischem Territorium oder an der Grenze befinden. Ein Recht auf
       Einreise gibt es aber nicht. Asyl können deswegen nur Menschen beantragen,
       die mit dem illegalen Grenzübertritt automatisch zu Rechtsbrechern werden.
       
       „Asyldarwinismus“ nennt das die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl: Nur
       wer den Nato-Draht an den EU-Außengrenzen überwindet oder den Weg über das
       Mittelmeer überlebt, darf Schutz erhalten. Alle anderen nicht. Dabei gibt
       es Alternativen zur jetzigen Flüchtlingspolitik, die nicht nur
       Schutzsuchenden, sondern auch anderen Migranten legale Zufluchtswege
       garantieren können.
       
       „Das Urteil des Gerichtshofs hat den Mitgliedstaaten zwar nicht den Weg
       versperrt, einzelnen Flüchtlingen humanitäre Visa nach nationalem Recht zu
       erteilen, damit sie in die EU einreisen können“, sagt die Völkerrechtlerin
       Pauline Endres de Oliveira, die an der Universität Gießen zum europäischen
       Asylrecht forscht. „Vermutlich werden sich die Mitgliedstaaten aber eher
       auf dem Urteil ausruhen.“
       
       Würden sie sich stattdessen an dem Konzept orientieren, das das dänische
       Menschenrechtszentrum bereits 2002 vorgeschlagen hat und das ins
       Wahlprogramm der spanischen Linkspartei Podemos aufgenommen wurde, könnten
       Menschen auf der ganzen Welt in ihrem Heimat- oder Nachbarland Asylanträge
       stellen – und zwar in den Botschaften von EU-Mitgliedstaaten. Nach
       verkürzter Prüfung könnten sie dann ein Einreisevisum erhalten, um
       anschließend Asylstatus oder zumindest ein Bleiberecht zu erlangen. Wenn
       etwa die deutsche Botschaft in Nigeria Asylanträge nach Deutschland
       weiterleiten würde, müssten sich potenzielle Flüchtlinge aus
       Subsahara-Afrika – darunter auch Frauen und Kinder – nicht mehr in die
       Hände von Schmugglern begeben, den Weg übers Mittelmeer wagen und auch
       nicht die Tenéré-Wüste in Niger durchqueren, wo jedes Jahr noch mehr
       Flüchtlinge sterben als im Mittelmeer.
       
       ## Botschaftsasyle wären eine Lösung
       
       Botschaftsasyle waren früher durchaus üblich und bis vor kurzem zum
       Beispiel in Schweizer Auslandsvertretungen möglich. 2013 schaffte das Land
       diese Möglichkeit aber ab. Frankreich stellt in Ausnahmefällen zumindest in
       Auslandsvertretungen humanitäre Visa aus. Brasilien wies 2013 seine
       Konsulate im Nahen Osten an, Einreisevisa für Asylsuchende aus Syrien
       auszustellen.
       
       Im Visakodex der EU könnten humanitäre Asylverfahren festgelegt werden. Das
       wäre zwar aufwendig und teuer für auswärtige Dienste, könnte aber auch
       unter Sicherheitsaspekten von Vorteil sein: Werden Asylanträge schon im
       Herkunftsland bearbeitet, erspart man sich die Sicherheitsüberprüfung im
       Zielland. Botschaftsasyle können schon jetzt von jedem EU-Staat individuell
       eingeführt werden. Für eine EU-weite Lösung müsste sich die Union
       allerdings auf ein gemeinsames Asylverfahren für den gesamten Raum einigen
       statt wie bisher nur auf Mindeststandards. Der existiert allerdings trotz
       vieler Konzepte bis heute nicht.
       
       Damit müsste die Europäische Union nämlich akzeptieren, dass eine nicht
       definierte Anzahl von Schutzsuchenden nach Europa kommt. Die EU-Politik
       legt den Fokus stattdessen auf die Etablierung sogenannter Hotspots, die
       die kontrollierte Einreise in die EU suggerieren. Nicht in den
       Herkunftsländern von Flüchtlingen, sondern an den EU-Außengrenzen sollen
       Aufnahmezentren oder „Auffanglager“ entstehen, in denen Flüchtlinge
       Asylanträge stellen können.
       
       Für ein solches Konzept hat sich seinerzeit schon SPD-Innenminister Otto
       Schily starkgemacht, und heute treibt es Frankreichs Präsident Emmanuel
       Macron auf Flüchtlingsgipfeln voran. Dabei ist zu befürchten, dass diese
       Lager – besonders wenn sie in instabilen Staaten wie Libyen entstehen –
       letztlich zu riesigen Flüchtlingslagern würden. Ob die Rechtsstaatlichkeit
       der Asylverfahren abseits der europäischen Öffentlichkeit gesichert wäre
       und dann tatsächlich alle Menschen nach Europa einreisen dürften, die einen
       Anspruch auf Asyl haben, ist zu bezweifeln.
       
       Es ist aber ohnehin sehr unwahrscheinlich, dass offizielle Auffanglager
       außerhalb der EU tatsächlich entstehen. „Bei all diesen Plänen müsste neben
       der Beachtung menschenrechtlicher Verpflichtungen und Standards unter
       anderem geklärt werden, nach welchem Verteilungsmechanismus die Flüchtlinge
       in welche Länder weiterreisen dürften“, sagt Endres de Oliveira.
       
       Für ein solidarisches Asylmodell müssten sich die EU-Staaten zunächst auf
       eine Verantwortungsteilung einigen. Dass die Verteilung von Flüchtlingen
       innerhalb der EU bisher nur äußerst stockend funktioniert, zeigt sich an
       den laufenden Notprogrammen: Von September 2015 bis Juli 2017 bekamen
       weniger als 25.000 Flüchtlinge, die in Italien und Griechenland registriert
       wurden, Bleiberecht in einem anderen EU-Staat. Österreich, Polen und Ungarn
       nahmen gar keine Flüchtlinge auf, Tschechien und die Slowakei gerade einmal
       je ein Dutzend. Gegen feste Verteilungsquoten, die sich an Größe und
       Wirtschaftskraft der Mitgliedstaaten orientieren, sperren sie sich.
       
       ## Wer hilft, muss zahlen
       
       Auch Deutschland, das sich beim Thema Flüchtlinge gern als humanitäres
       Gegenmodell präsentiert, tut wenig für eine solidarische Lösung: Gegen ein
       verpflichtendes Verteilungsprogramm wehrte sich bei Verhandlungen zur
       Dublin-III-Verordnung vor allem Berlin. Auch die Entwürfe zur
       [1][Dublin-IV-Verordnung [1]] sehen keinen Verteilungsmechanismus, sondern
       nur weitere Verschärfungen des Asylrechts vor. Flüchtlingsorganisationen
       fordern deswegen bereits die Abschaffung der Dublin-Verordnung.
       
       Einstweilen gilt auf den Fluchtrouten wie im Mittelmeer weiterhin das
       Verursacherprinzip: Wer Flüchtlinge rettet, muss auch ihr Asylverfahren
       garantieren. In anderen Bereichen wären derart unsolidarische Vorschriften
       unvorstellbar. Müssten Nothelfer zum Beispiel bei Verkehrsunfällen
       automatisch auch für die Krankenhausbehandlung aufkommen, würden
       Unfallstellen vermutlich weiträumig umfahren werden.
       
       Während über Auffanglager an EU-Außengrenzen noch diskutiert wird,
       existieren auf der ganzen Welt längst tausende Mini-Hotspots, die kein
       Mensch infrage stellt. An allen internationalen Flughäfen ist die
       Grenzkontrolle nämlich vorgelagert – und teilweise privatisiert.
       Fluggesellschaften prüfen ohne nennenswerte öffentliche Kontrolle und wenig
       transparent, ob Fluggäste berechtigt sind, in die EU einzureisen. Dabei
       macht es in der Regel keinen Unterschied, ob Menschen Asyl suchen oder
       nicht – nur wer Einreisedokumente hat, darf einreisen, alle anderen nicht.
       Das hält viele politisch Verfolgte von einer Einreise per Flugzeug ab, da
       sie sich oft keine Reisedokumente beschaffen können.
       
       Zu diesen Kontrollen sind Fluggesellschaften nach einer EU-Richtlinie
       angehalten. Befördern sie Menschen in die EU, die nicht die erforderlichen
       Dokumente besitzen, müssen sie für deren Rücktransport sorgen und riskieren
       hohe Geldstrafen, sogenannte Carrier Sanctions. Die führen dazu, dass
       Fluggesellschaften im Zweifel eher mehr Menschen von einem Flug abhalten.
       Dabei erwähnt die Richtlinie auch, dass die Genfer Flüchtlingskonvention
       nicht beeinträchtigt werden darf. Heißt: Flüchtlinge dürfen theoretisch
       nicht vom Flug abgehalten werden.
       
       Darauf machte 2015 die schwedische Initiative Refugee Air aufmerksam: Sie
       kündigte an, ein eigenes Flugzeug zu chartern und damit Flüchtlinge in die
       EU zu bringen. Statt Schmugglern tausende Euro zu geben, sollten sie sicher
       nach Schweden einreisen können, um dort Asyl zu beantragen. Ein Jahr später
       wollten auch die Künstler vom Zentrum für Politische Schönheit im Rahmen
       der Aktion „Flüchtlinge fressen“ eine Chartermaschine mit Flüchtlingen an
       Bord nach Deutschland bringen. Doch das Bundesinnenministerium machte Druck
       auf den Betreiber Air Berlin, sodass der Flug abgesagt wurde. Refugee Air
       war hingegen teilweise erfolgreich: Zwar wurde auch bei ihnen aus den
       Charterflügen nichts, aber die schwedische Regierung kündigte zumindest an,
       in einem Umsiedlungsverfahren 5000 Flüchtlinge aus Syrien aufzunehmen.
       
       Sowohl einzelne Mitgliedstaaten als auch die EU insgesamt haben in den
       vergangenen Jahren immer wieder befristete Umsiedlungsverfahren ins Leben
       gerufen, die von der UN-Flüchtlingsorganisation UNHCR koordiniert werden.
       Sie sollen bestimmten Flüchtlingen aus Syrien und anderen Krisenstaaten die
       Einreise in die EU ermöglichen und ihnen eine langfristige Perspektive in
       der EU bieten. Insbesondere bei der deutschen Regierung sind solche
       Resettlement-Programme beliebt, weil sie damit Tatkraft in humanitären
       Notsituationen demonstrieren kann, ohne den im Grundgesetz verankerten
       individuellen Asylanspruch prüfen zu müssen. Das hat für die Regierungen
       den Vorteil, dass sie selbst entscheiden, in welcher Anzahl und nach
       welchen Kriterien Menschen einreisen dürfen. Einen Anspruch auf Teilnahme
       an den Programmen gibt es nicht – unabhängig davon, ob jemand als
       Flüchtling anerkannt würde oder nicht.
       
       Eine neue Resettlement-Verordnung könnte über die temporären Programme
       hinaus jährliche Aufnahmequoten für die EU-Mitgliedstaaten festlegen.
       Außerdem könnten Programme gefördert werden, innerhalb derer Privatpersonen
       Bürgschaften für Flüchtlinge übernehmen. Die Resettlement-Programme zeigen,
       dass kein EU-Mitglied auf andere warten muss, um zu handeln. Bislang liegt
       die Entscheidung darüber, wer daran teilnehmen darf, beim UNHCR. In Zukunft
       soll Resettlement jedoch zu einem Mittel der EU-Außenpolitik werden.
       
       Theoretisch könnten über die Resettlement-Quoten auch Menschen einreisen,
       die ohnehin Anspruch auf Asyl in der EU hätten, etwa im Rahmen der
       Familienzusammenführung. Bisher können allerdings nur Ehepartner,
       minderjährige Kinder oder die Eltern eines minderjährigen Flüchtlings –
       nicht aber erwachsene Geschwister, Töchter und Söhne oder Großeltern – ein
       Visum zum Familiennachzug beantragen. Da viele Asylsuchende auch aus Syrien
       derzeit nur subsidiären Schutz erhalten, dürfen nach einer Sonderregelung
       der Bundesregierung eigentlich keine Verwandten nachziehen.
       
       Damit werden Familien auseinandergerissen, aber auch anerkannte
       Migrationstheorien ignoriert. Netzwerktheorien gehen davon aus, dass
       Familien eine zentrale Rolle beim Entschluss spielen, ein Land zu
       verlassen, um woanders Schutz oder Arbeit zu finden. Auch die Entscheidung
       für ein bestimmtes Zielland geht nicht allein auf die viel diskutierten
       [2][„Push“- und „Pull“-Faktoren [2]] zurück.
       
       Die Schweiz zeigte 2013, wie ein progressives Familiennachzugsmodell
       aussehen kann: Sie ermöglichte es in der Schweiz lebenden Syrern zumindest
       für einige Monate, auch Verwandte außerhalb der Kernfamilie (Großeltern,
       Enkel oder Geschwister) aus dem Krisengebiet herauszuholen. Außerdem wurde
       die Bürokratieschwelle gesenkt: Wenn jemand aus Kriegsgründen keine
       Urkunden nachweisen konnte, reichte eine „glaubhafte Versicherung“ der
       Verwandtschaft. 3749 Visa wurden auf diesem Weg ausgestellt. Das Programm
       wurde allerdings schnell wieder eingestellt – aus Angst vor zu vielen neuen
       Asylbewerbern. Auch in anderen Ländern stehen Notprogramme vor dem Aus.
       
       Solange legale Fluchtwege fehlen, bleibt der Fokus auf der Notrettung,
       zumal auf dem Mittelmeer. Anstatt dort zu helfen, geht die EU aber auf
       Konfrontationskurs zur Zivilgesellschaft. Seit August 2017 bedroht die
       EU-finanzierte libysche Küstenwache Helfer im Mittelmeer. Das Schiff von
       Jugend Rettet wurde sogar von italienischen Strafbehörden festgesetzt. Die
       zivilen Seenotretter ankern dicht gedrängt an den Kais der maltesischen
       Hauptstadt Valetta: das Rettungsschiff der Migrant Offshore Aid Station,
       ein paar hundert Meter weiter die „Seefuchs“ der Organisation Sea-Eye, kurz
       dahinter die „Sea Watch 2“.
       
       Die Nichtregierungsorganisationen haben in den vergangenen Jahren nicht nur
       tausende Menschen vor dem Ertrinken bewahrt, sondern auch die
       Öffentlichkeit wachgerüttelt und auf das Versagen der EU aufmerksam
       gemacht. „Wir wollten zeigen, dass man auch mit wenigen Ressourcen das
       Sterben stoppen kann“, sagt Pauline Schmidt von Jugend Rettet. „Wir haben
       bewiesen, dass auch ein paar unerfahrene Jugendliche eine solche Mission
       auf die Beine stellen können.“
       
       Statt ihnen für ihren Einsatz zu danken, erklärte die EU-Grenzschutzagentur
       Frontex – unterstützt vom deutschen Innenminister – die NGOs zum
       Sicherheitsrisiko, das Migranten anlocke. Inzwischen macht die EU in
       Kooperation mit libyschen Milizen den Fluchtkorridor im Mittelmeer dicht.
       
       Während die EU die zivilen Retter im Stich lässt, investiert sie in die
       Aufrüstung der Grenze. So vergab Frontex zwischen 2012 und 2015 Aufträge
       für die Grenzsicherung in Höhe von 29,2 Millionen Euro an private
       Unternehmen. Und auch Staatsunternehmen wie die Bundesdruckerei verdienen
       an den Flüchtlingen. Der Konzern mit Sitz in Bonn hat jüngst von Marokko
       einen Auftrag zur Entwicklung und Umsetzung eines „nationalen
       Grenzkontrollsystems“ erhalten. Im Gegenzug erklärt sich Marokko damit
       einverstanden, dass die biometrischen Daten von den neuen Hightechgrenzen
       mit Informationen über abgeschobene Flüchtlinge abgeglichen werden.
       
       ## Den größten Nutzen hat die Sicherheitsindustrie
       
       Das steht in Einklang mit der Politik der EU-Kommission. Deren
       Generaldirektion für Migration und Inneres, die auch für Asyl zuständig
       ist, verfolgt das ausdrückliche Ziel, die Sicherheitsindustrie zu fördern.
       Auf ihrer Website erklärt das Haus von EU-Kommissar Dimitris Avramopoulos,
       man wolle unter anderem durch Forschungsaufträge Maßnahmen ergreifen, „um
       die marktführende Position der EU-Unternehmen in den kommenden Jahren zu
       sichern“. Damit verliert die Asylpolitik ihre Autonomie, sie wird – wie
       seit Bestehen der gemeinsamen europäischen Außengrenze erkennbar – fast
       automatisch mit sicherheits- und wirtschaftspolitischen Aspekten vermengt.
       
       Waren in den 1960er Jahren noch Arbeits- und Kultusminister für Migration
       zuständig, übernahmen bis in die 1980er Jahre die Innenminister das
       Themenfeld. Sie sorgten zusammen mit Bundeskanzler Helmut Kohl dafür, dass
       der Vertrag von Maastricht 1993 eine effektive Zusammenarbeit der
       EU-Staaten zur Migrationskontrolle vorsah. Mit den Dubliner Verordnungen
       wurde in den darauffolgenden Jahren die Bearbeitung von Asylanträgen in
       Europa fast ausschließlich auf die Grenzstaaten in Südeuropa abgewälzt.
       
       Fortan wurden Migration, Terrorabwehr, Grenzschutz und Kampf gegen
       organisierte Kriminalität in einem Atemzug genannt – und das politische
       Asyl fiel dem Sicherheitsdenken zum Opfer. 1998 zog die österreichische
       Ratspräsidentschaft eine Verbindung zwischen illegaler Immigration und
       Asyl, um für das Fingerabdruckidentifizierungssystem Eurodac zu werben. So
       hieß es in einem geleakten Regierungspapier: „In den vergangenen Jahren hat
       der starke Anstieg der Zahlen illegaler Immigranten (und damit potenzieller
       Asylbewerber) gezeigt, dass ihre Fingerabdrücke im System gespeichert
       werden müssen.“
       
       Solange es kein Einwanderungsgesetz gibt, werden potenzielle
       Arbeitsmigranten weiterhin versuchen, über ein Asylverfahren in die
       EU-Länder zu gelangen. Bisher können nur Höchstqualifizierte ein
       Arbeitsvisum für die EU erhalten. Doch die Agrarpolitik der EU, die
       unterschiedlichen Probleme in den Herkunftsländern und die globale
       Erderwärmung werden weiter dafür sorgen, dass vor allem auch weniger
       qualifizierte Menschen in die EU einreisen wollen.
       
       Die Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA) hat den
       EU-Staatschefs umfassende Vorschläge für temporäre Arbeitserlaubnisse
       unterbreitet. Ein Modell könnten die Verträge für Saisonarbeiter aus
       Lateinamerika sein, die regelmäßig zur Ernte nach Spanien einreisen, oder
       die befristete Aufenthaltserlaubnis für Reisen zur medizinischen
       Behandlung. Zahlreiche Hochschulen setzen sich dafür ein, dass mehr Visa
       für Studierende und Wissenschaftler vergeben werden.
       
       Nach den offiziellen Positionen der EU zu urteilen, müsste es möglich sein,
       derartige Regelungen zu treffen. Schließlich will sie nach eigener Aussage
       langfristig neue Regeln für legale Migration etablieren und eine auf
       Solidarität ausgerichtete Asylpolitik aller Mitgliedstaaten schaffen. Doch
       das sind wohl alles nur Lippenbekenntnisse, wie die Debatten über die
       Dublin-Verordnung zeigen. Bei deren Weiterentwicklung geht es zuerst und
       vor allem darum, möglichst wenige Menschen nach Europa einreisen zu lassen.
       
       Einige europäische Linke setzen sich hingegen bereits für einen anderen
       Ansatz ein. Im Februar 2017 mobilisierte Ada Colau, die Bürgermeisterin von
       Barcelona, 160 000 Menschen, die unter dem Motto „Wir wollen sie willkommen
       heißen“ für eine humanitäre Flüchtlingspolitik auf die Straße gingen. Die
       Kundgebung endete am Strand von Barcelona vor der „Anzeige der Schande“,
       einem Denkmal für die Menschen, die in den vergangenen Jahren im Mittelmeer
       ertrunken sind. Eine Anzeigetafel zeigt die aktuelle Zahl der Flüchtlinge,
       die seit Jahresbeginn beim Versuch, das Mittelmeer zu überqueren, gestorben
       sind, darunter steht: „Es ist nicht nur eine Zahl“.
       
       Während in anderen Ländern fremdenfeindliche Parteien und Bewegungen
       Stimmung gegen Zuwanderer machen, will Barcelona die Asyldebatte von
       Sicherheitsfragen loslösen und einen Diskurs über Menschenrechte und
       Solidarität anstoßen. Konzepte und Gesetzesinitiativen für Botschaftsasyle
       und humanitäre Visa, geteilte Verantwortung, Resettlement-Programme,
       erleichterte Arbeitsmigration und Bekämpfung von Fluchtursachen liegen seit
       Jahren oder sogar Jahrzehnten vor. Sie müssten nur beschlossen und
       umgesetzt werden.
       
       ## Fußnoten
       
       [1] 
       
       Die Dublin-Verordnungen regeln die Zuständigkeit der EU-Mitgliedstaaten für
       die Durchführung von Asylverfahren. Die Vorschläge der EU-Kommission zu
       Dublin IV vom Mai 2016 halten am Prinzip fest, dass die Ersteinreisestaaten
       zuständig sind, und sehen erstmalig sogar eine verstärkte Auslagerung in
       Länder außerhalb der EU vor.
       
       [2] 
       
       „Push“-Faktoren sind beispielsweise Hunger und Krieg im Herkunftsland,
       „Pull“-Faktoren Aussicht auf Arbeit und Chancen auf Anerkennung von Asyl im
       Zielland. Tatsächlich sind etablierte Migrationskorridore etwa zu früheren
       Kolonien genauso mitentscheidend für eine Migration wie die wahrgenommenen
       Migrationskulturen.
       
       12 Oct 2017
       
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       In Kiel wurde ein Mann festgenommen, der eine Flucht nach Lesbos
       organisiert haben soll, bei der 54 Menschen starben. Er bestreitet die Tat.
       
   DIR Flüchtlinge im Mittelmeerraum: Das neue Tor nach Europa ist Tunesien
       
       Seit den Kämpfen entlang der libyschen Küste steigt die Zahl von Migranten,
       die die gefährliche Reise über das Mittelmeer von Tunesien aus antreten.
       
   DIR EU vor Herbstgipfel: Europa ist eine lahme Ente
       
       In Brüssel wird viel über neuen Schwung geredet, aber es herrscht
       Stillstand. Das liegt am Wahlergebnis in Deutschland und Österreich.
       
   DIR Asylbewerber in Sachsen: Fantasie statt Duldung
       
       Der Flüchtlingsrat Sachsen kritisiert fiktive Papiere, die für Asylbewerber
       vergeben werden. Ihre Verfahren laufen in einem anderen Ankunftsland.
       
   DIR Flüchtlinge in Griechenland: Ganz normaler Ausnahmezustand
       
       In Griechenland hat sich an den katastrophalen Lebensbedingungen für
       Flüchtlinge bisher wenig geändert. Nun naht der Winter.
       
   DIR Deutschland verlängert Kontrollen: ABM für Grenzschützer
       
       Weitere sechs Monate Kontrollen: Innenminister Thomas de Maizière verweist
       auf die Terrorgefahr und auf Defizite beim Schutz der EU-Außengrenze.
       
   DIR Beschluss des Bundesverfassungsgerichts: Kein Familiennachzug für Syrer
       
       Der Eilantrag eines 17-Jährigen, der demnächst volljährig wird, scheitert
       in Karlsruhe. Offen bleibt, ob das Gesetz verfassungswidrig ist.
       
   DIR Familiennachzug nach Deutschland: 70.000 Syrer und Iraker warten
       
       Regelmäßig geistern Szenarien von massenhafter Zuwanderung per
       Familiennachzug durch die Republik. Wie viele kommen tatsächlich? Die
       aktuellen Zahlen.
       
   DIR Aus Le Monde diplomatique: Für ein Dach über dem Kopf
       
       Die Verflechtung von Kommerz und humanitärer Hilfe wird immer enger. An
       Geflüchteten verdienen die Logistik- und Möbelindustrien glänzend.
       
   DIR Aus Le Monde diplomatique: Der gläserne Flüchtling
       
       Im jordanischen Zaatari bezahlen die Geflüchteten mit ihrem Auge. Ihr
       Kontostand wird an der Iris abgelesen. Das verhindere Betrug, lobt das
       UNHCR.
       
   DIR Kommentar Sklaverei in Libyen: Entrechtung unter den Augen der EU
       
       Neu sind die Berichte über versklavte Flüchtlinge nicht, aber die Schlepper
       werden brutaler. Trotzdem will die EU Menschen nach Libyen zurückschicken.
       
   DIR Aus Le Monde diplomatique: „Eine von uns“
       
       Die Eltern der Autorin flohen aus dem Iran in die USA. Immer wieder erlebte
       sie Rassismus, dabei hatte sie Vorfahren aus der ganzen Welt.
       
   DIR Syrische Flüchtlinge in Deutschland: Das Warten auf die Kinder
       
       Syrische Flüchtlinge sollen ihre Familien auf sicherem Weg nach Deutschland
       holen dürfen. In der Praxis sind die Hürden hoch und die Folgen dramatisch.
       
   DIR Aus Le Monde diplomatique: Mein Nachbar wählt Front National
       
       Ein linker Aktivist zieht in die französische Provinz. Arbeitslosigkeit,
       Frustration und Abwanderung bestimmen den dortigen Alltag.