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       # taz.de -- Der Walk führt nach innen: Lustvoll Herde werden
       
       > „Remote Bremen“ von Rimini-Protokoll führt per Computerstimme durch
       > Bremen in neblige Höhen und in Randregionen des Menschlichen
       
   IMG Bild: Im naturroten Kunstnebel zerstiebt die Herde und überlässt sich ihren Gedanken
       
       Zum Schluss des Audiowalks „Remote Bremen“ hat am Samstagabend doch die
       Natur ihren triumphalen Auftritt, dieses eine Mal noch, ein letztes Mal.
       Die echte Natur, nicht die menschengemachte vom Startpunkt des
       Buntentorfriedhofs, sondern die natura naturans, also die Sonne: Okay, sie
       macht auch nur, was Sonnen um diese Zeit halt tun. Sie geht unter. Es gibt
       in der Natur nichts Zufälliges.
       
       Aber sie tut dies in einem Knallrot, als wollte sie mindestens diese Welt
       in Brand setzen. Und stiehlt so bei der Premiere dem Kunstnebel die Schau,
       der hier oben, über den Dächern der Stadt, das Ende des von Rimini
       Protokoll konzipierten Spektakels markiert, für das „Performance“ das
       vielleicht gängigere, aber sicher falsche Wort wäre. In diesen Kunstnebel
       entlässt die computergenerierte Stimme Peter das Publikum. Es sei jetzt so
       weit, es erkenne die Muster, es werde sich angemessen verhalten. Auch ohne
       unmittelbare Steuerung durch ihn. Als hätte man gerade ein Update bekommen.
       
       Rimini Protokoll ist auf Einladung des Künstlerhauses am Deich zum Theater
       Bremen gekommen, und ein Gastspiel hier war längst überfällig; es steht in
       einer Linie mit den realitätssatten Produktionen, die Lola Arias in den
       vergangenen Spielzeiten hier verwirklicht hatte. Weltberühmt ist das seit
       2003 in Berlin ansässige Autoren-Regie-Kollektiv, das theatrale Mittel
       nutzt, um nach Wirklichkeit zu fragen: Weltberühmt geworden ist es durch
       Inszenierungen nicht darstellerisch geschulter Menschen als Expert*innen
       ihres je eigenen Alltags, ihres Berufs, ihrer Kultur. Deren
       Selbstschilderungen fungieren dabei teils als Dokumente eben jener Praxis,
       aber oft zugleich auch als denkbar textferne, aber ungemein aktuelle
       inszenatorische Reflexion klassischer Texte wie Friedrich Schillers
       Wallenstein oder, vor zehn Jahren produziert, Karl Marx, Das Kapital.
       Erster Band.
       
       „Remote X“ geht einen anderen, wenn auch auf komplizierte Weise verwandten
       Weg: Die Produktion ist ein Walk durch eine x-beliebige Stadt, Hannover und
       Berlin waren 2013 die ersten, Bremen ist Nummer 41, davor war im August
       Paphos dran, die Kulturhauptstadt 2017. Das Script des Rundgangs hat
       Rimini-Mitgründer Stefan Kaegi entwickelt. Jörg Karrenbauer stimmt es
       jeweils auf die Spezifika des Spielorts ab, ohne diese zum Thema zu machen:
       „Es gibt keine lehrreichen Informationen über spezifische Orte“, hat er
       vorab versprochen. Eher interessiere man sich dafür, wie Stadt konzipiert
       ist: „Eine Kirche ist etwas anderes als ein Bahnhof oder ein Krankenhaus.“
       Banal. Aber der Einfluss der Funktionalität des städtischen Raums aufs
       eigene Verhalten, die Macht der Gestaltung, spiegelt, so ins Bewusstsein
       gerufen, die Macht Fernsteuerung, der sich die TeilnehmerInnen der
       Performance per Ticketkauf unterworfen haben.
       
       Auf diese Weise wird der Weg durch die Stadt statt zum touristischen Event
       zur Gruppenreise nach innen. Er stößt, zwanglos zwingend auf Fragen nach
       der eigenen Endlichkeit, der Zukunft der Sterblichen in einer Welt der
       künstlichen Intelligenz, nach dem Verhältnis von Natur und Künstlichkeit –
       und dem von Fremd- und Selbstbestimmung: Bin ich denn wirklich bloß ein
       Mitläufer? Warum fällt es so leicht, zur Herde zu werden, und warum ist es
       letztlich so lustvoll, die Steuerung abzugeben?
       
       Bis sich alles, die narzisstische Kränkung eingeschlossen, in Dunst und
       naturroten Kunstnebel auflöst, hat das Text-to-Speech-System die Gruppe
       geführt. Und die Gruppe durch Führung zusammengehalten. Die hat seine
       Anweisungen ausgeführt und sich nicht davon irritieren lassen, dass es erst
       als weibliche Stimme Julia, dann in Tenorlage als Peter das Kommando
       ausübt.
       
       Die Gruppe hat die Straße auf das Zeichen überquert. Sie ist gerannt, als
       es gefordert wurde. Sie hat sich von der jubelnden Masse, die von der
       Tonspur direkt in den Kopf hineingespielt wird, angefeuert und motiviert
       gefühlt: Kaum möglich ist es, sich dem Sounddesign von Nikolas Neecke und
       Ilona Marti zu entziehen. Die Gruppe hat mit leisem Grauen die
       sarkastischen biopolitischen Kommentare des Automaten über sich ergehen
       lassen. Kein Protest folgt etwa der Bemerkung, dass man die Letzten des
       Rennens, wenn sie Maschinen wären, aussortieren würde. Der wäre ja auch
       ganz sinnlos: Menschlichkeit lässt sich vernünftig vom Apparat nicht
       einfordern. Sondern nur vom Menschen, der Apparate macht.
       
       22 Oct 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Benno Schirrmeister
       
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