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       # taz.de -- Spanien übernimmt die Kontrolle: Was nun, Katalonien?
       
       > Die spanische Region steht kurz davor, die Autonomie zu verlieren.
       > Bildung, TV und Finanzen sollen unter Madrids Aufsicht kommen.
       
   IMG Bild: Betriebsversammlung der Mitarbeiter des katalanischen Senders TV3 am Montag
       
       Madrid taz | „Wir stehen vor einer Besatzung“, sagt Maite Arqué. Wenn die
       74-jährige Aktivistin und ehemalige Politikerin spricht, ist nur noch wenig
       von dem Elan zu spüren, mit dem sie am 1. Oktober in Badalona zur vom
       Verfassungsgericht verbotenen Abstimmung über die Unabhängigkeit
       Kataloniens ging.
       
       Denn spätestens am Samstag wird Spaniens konservative Regierung unter
       Mariano Rajoy mit dem Verfassungsartikel 155 die Autonomie Kataloniens
       außer Kraft setzen – und Arqué befürchtet Schlimmstes: „Sie werden
       grundlegende Funktionen übernehmen, ohne irgendwelche demokratischen
       Regeln.“
       
       Am Wochenende hatte Ministerpräsident Rajoy die Zwangsmaßnahmen bekannt
       gegeben, zu denen die Absetzung der katalanischen Regionalregierung sowie
       die Ausrufung von Neuwahlen innerhalb von sechs Monaten gehören. Die
       Autonomiepolizei Mossos d’Esquadra, die Finanzen der Region, aber auch
       Bildung und das öffentliche Fernsehen und der Rundfunk sollen unter der
       Aufsicht Madrids stehen. Das sorgt für größte Befürchtungen unter den
       Betroffenen.
       
       „Ich bin völlig ratlos. Ich habe keine Idee, was zu tun ist“, gesteht
       Arqué, hinter der ein langes politisches Leben liegt. Sie gehörte dem
       Nationalen Pakt für ein Referendum an, einem Bündnis aus Befürwortern und
       Gegnern der Unabhängigkeit, die nur der Wunsch nach einer freien Abstimmung
       einte.
       
       ## Keine Befehle aus Madrid annehmen
       
       Arqué gehörte lange der Sozialistischen Partei Kataloniens (PSC) an, die
       mit der spanischen sozialistischen PSOE zusammenarbeitet. Sie war
       Bürgermeisterin der drittgrößten Stadt der Region, Badalona, und dann
       mehrere Jahre Abgeordnete im Senat. Schließlich zog sie sich aus der PSC
       zurück, als die Sozialisten 2015 die Forderung nach einem Referendum aus
       dem Programm strichen.
       
       Der Paragraf 155 sei im Grunde schon vor dem Referendum in Kraft getreten,
       sagt Arqué. Sie verweist etwa auf die Durchsuchungen katalanischer
       Regierungsgebäude, Druckereien und Redaktionen auf der Suche nach Material
       für die Volksabstimmung. „Sie werden machen, was sie wollen“, beendet Arqué
       das Gespräch.
       
       Genau das befürchtet auch die Direktorin der Grundschule La Salut in
       Badalona, Teresa Vivancos. Rajoys Partido Popular (PP) sei „autoritär“.
       „Die PP hat immer wieder Klagen gegen Katalanisch als Unterrichtssprache
       eingereicht“, sagt sie. „Wenn sie jetzt das Bildungsministerium in
       Barcelona übernehmen, lässt dies nichts Gutes erwarten“, sagt Vivancos.
       Viele Rektoren haben in den sozialen Netzwerken bereits öffentlich
       angekündigt, keine Befehle aus Madrid annehmen zu wollen.
       
       „Es ist, als würden wir in die Zeit vor der Verfassung von 1978
       zurückfallen“, beschwert sich Ramón Espuny. Der Kulturredakteur des
       katalanischen Fernsehsenders TV3 ist Vorsitzender der
       Journalistengewerkschaft in Katalonien und Mitglied im Betriebsrat des
       öffentlichen Regionalfernsehens.
       
       ## Solidarität aus spanischen Sendern
       
       Espuny kommt gerade aus einer Betriebsversammlung. „Wir haben über die
       Folgen des 155 und die Möglichkeiten diskutiert, unsere Arbeit zu
       verteidigen“, erklärt er. Denn die Chefetage des Senders mit seinen 1.900
       Mitarbeitern soll ausgetauscht werden, so sieht es der Regierungsplan zur
       Umsetzung des Paragrafen 155 vor. Das Gleiche gilt für Catalunya Radio.
       
       „Als öffentlicher Sender unterstehen wir in Katalonien dem Parlament. Wie
       kann da Madrid einfach eine neue Führung einsetzen?“, fragt Espuny. Was ihn
       zuversichtlich stimmt: „Auf der Betriebsversammlung ging es nur um unsere
       berufliche Ethik, um unsere Professionalität.“ Zu keinem Zeitpunkt habe es
       Diskussionen zwischen Gegnern und Befürwortern der Unabhängigkeit gegeben.
       
       Die Redaktionsräte der staatlichen spanischen TVE und Radio Nacional haben
       sich hinter ihre katalanischen Kollegen gestellt. Im Gegensatz zum
       spanischen Staatsfernsehen TVE wurde der katalanische TV3 nie international
       wegen fehlender Ausgewogenheit gerügt. Und während sich TV3 zweistelliger
       Zuschauerzahlen erfreut, haben die Regionalsender dort, wo die PP regiert,
       fast alle Zuschauer verloren. „Es gibt keine Partei, die die öffentlichen
       Medien so gängelt wie Rajoys PP“, sagt Espuny.
       
       Den einzigen Ausweg, den der Redakteur sieht, ist ein „taktischer Rückzug“
       von Carles Puigdemont, des Chefs der katalanischen Regionalregierung, um
       so die Anwendung des Paragrafen 155 noch zu verhindern. „Wenn nicht, wird
       alles zugrunde gehen, was wir in Katalonien mühsam in 40 Jahren
       Selbstregierung aufgebaut haben.“
       
       ## Viele Firmen wandern ab
       
       Schlimme Befürchtungen plagen auch den Bürgermeister der nordwestlich von
       Barcelona gelegenen Stadt Sabadell. Maties Serracant gehört der
       antikapitalistischen Kandidatur der Volkseinheit (CUP) und damit dem
       radikalsten Flügel der Unabhängigkeitsbewegung an. Er sorgt sich, dass
       Madrid versucht sein könnte, Parteien wie die seine verbieten zu lassen.
       
       „Die Verwalter aus Madrid sind durch nichts legitimiert und sie werden über
       Abertausende Beamte befehligen“, beschwert sich Serracant. Was ihm
       kurzfristig Sorgen macht: „Was wird mit den ganzen Investitionen der
       Autonomieregierung Generalitat, wie zum Beispiel dem Umbau der
       Pendlerzuglinien in unserer Stadt?“
       
       „Die Unsicherheit angesichts des Konflikts beeinträchtigt die
       wirtschaftliche Entwicklung Kataloniens und damit mittelfristig den
       Arbeitsmarkt“, sagt Javier Pacheco, der in Katalonien Spaniens größter
       Gewerkschaft CCOO vorsitzt. 1.300 Unternehmen haben mittlerweile ihren Sitz
       aus der Region verlegt. Der Paragraf 155 könne diese Tendenz noch
       verstärken, ist er sich sicher.
       
       Nach Berichten spanischer Wirtschaftsmedien überlegt sich mittlerweile
       selbst Volkswagen, die spanische Marke Seat aus Katalonien abzuziehen.
       Pacheco versucht, trotzdem optimistisch zu bleiben. Am Freitag stimmt der
       Senat in Madrid über die Zwangsmaßnahmen ab. „Bis Freitag ist immer noch
       Zeit für Dialog“, sagt er.
       
       25 Oct 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Reiner Wandler
       
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