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       # taz.de -- Interessenvertretung ohne Sportbund: Wir sind doch der Sport
       
       > Deutsche Athleten wollen eine eigene Interessenvertretung gründen. Die
       > Funktionäre des DOSB sind ratlos, wie sie damit umgehen sollen.
       
   IMG Bild: „Wer nicht ordentlich fördert, darf auch nichts fordern“, sagt Marathonläufer Arne Gabius
       
       Silke Kassner weiß, wie man gegen den Strom schwimmt. Sie war mal
       Wildwasser-Kanutin. Da müssen ein paar Tore verkehrtherum durchpaddelt
       werden. Kassner stemmte sich dann mit aller Macht gegen die Urgewalt
       Wasser, tankte sich durch Wellen und Gischt, nur um sich Sekunden später in
       ihrem Kajak wieder den Kräften der Strömung zu überlassen. Es ist ein
       Wechselspiel. Ein Rhythmus, der manchmal auch als Blaupause fürs Leben nach
       dem Sport taugt.
       
       Kassner, die zum Beispiel bei den Weltmeisterschaften vor neun Jahren eine
       Silbermedaille gewann, ist heute Athletensprecherin. Sie vertritt die
       Anliegen von Sportlern, seit Jahren schon. Innerhalb des Deutschen
       Olympischen Sport-Bundes, DOSB, tut sie das. Silke Kassner hat das immer
       als Stellvertreterin getan, auch jetzt, da es um den ganz großen Wurf für
       die deutschen Spitzensportler geht.
       
       Am Wochenende wollen die Sportler ausscheren und einen Verein – „Athleten
       Deutschland“ – gründen: außerhalb des DOSB mit seinen Funktionären, die ja
       vor allem deshalb so heißen, weil sie innerhalb der Verbandsstrukturen so
       tadellos „funktionieren“. Aber für viele Athleten funktioniert schon lange
       nichts mehr. Wenn sie nicht gerade auf Topniveau Fußball spielen, müssen
       sie einen harten Existenzkampf führen.
       
       Ziemlich pointiert hat es einmal der Schwimmer Markus Deibler auf den Punkt
       gebracht: „In einem Land, in dem ein Olympiasieger 20.000 Euro Prämie
       bekommt und ein Dschungelkönig 150.000 Euro, sollte sich niemand über
       fehlende Medaillen wundern.“
       
       Es hat sich fast überall Unmut breitgemacht, bei Leichtathleten, Fechtern
       oder Ringern. Auch bei den paralympischen Sportlern. Und vielen spricht
       Marathonläufer Arne Gabius aus dem Herzen, wenn er sagt: „Wer nicht
       ordentlich fördert, darf auch nichts fordern.“ Vor allem keine Medaillen.
       
       ## „Wir brauchen Unterstützung“
       
       Aber das ist nur ein kleiner Teil der Probleme, die sich an der
       Leistungssportbasis angehäuft haben. Die anderen: Doping und die daraus
       folgende grassierende Ungleichheit; die Skandale rund um die russische
       Leichtathletik und der laxe Umgang des Internationalen Olympischen Komitees
       damit; die soziale Absicherung der Sportler, ihre Probleme mit Kranken- und
       Rentenversicherung; die sogenannte duale Karriere.
       
       Und dann geht es noch um die zentrale Frage, wie ein gutes
       Sportfördersystem in Deutschland aussehen kann. Muss nicht alles vom Kopf
       auf die Füße gestellt werden? Sollte das Modell des Staatssportlers, der
       bei der Bundeswehr, beim Zoll oder der Polizei pro forma Dienst schiebt,
       nicht abgeschafft werden?
       
       „Wir brauchen Unterstützung“, sagt Kassner, die ehrenamtliche
       Sportlerlobbyistin, „wir brauchen professionelle Strukturen, einen Verein
       mit hauptamtlichem Personal und Menschen, die uns helfen, das operativ zu
       bewältigen.“ Im Grunde gehe es um eine Serviceeinrichtung für die Athleten,
       eine echte Vertretung.
       
       Das Wort „Gewerkschaft“ nimmt sie nicht so gern in den Mund, denn es würde
       noch einmal die Abwehrreflexe innerhalb des Sportbundes verstärken. Dort
       haben sie die Autonomiebestrebungen der Sportler mit Argwohn begleitet. Man
       empfand diese Art der Selbstermächtigung als Affront. Die Verbände waren
       daran gewöhnt, dass der Sportler brav seinen Sport macht und ansonsten
       kuscht. Es herrschte das Motto: Wir denken und lenken, ihr Sportler rennt
       mal schön schnell, und fertig.
       
       Jetzt, da der Athlet offensiv seine Anliegen formuliert, wissen die
       Verbandsfunktionäre nicht so recht, wie sie damit umgehen sollen. Der
       Sportbund versucht halbwegs die Kontrolle zu behalten, weshalb er auch zwei
       Emissäre zur Tagung der Sportler nach Köln an den Olympiastützpunkt
       Rheinland geschickt hat: DOSB-Leistungssportdirektor Dirk Schimmelpfennig
       und Bernd Strauß, dessen Position schon etwas schwieriger zu beschreiben
       ist.
       
       ## Die Politik will die Interessenvertretung fördern
       
       Seit Anfang Mai 2017 ist er so etwas wie Deutschlands oberster
       Sportoptimierer. Offiziell ist Strauß Vorsitzender der neuen
       PotAS-Kommission zur Förderung des Spitzensports; die Abkürzung PotAS steht
       für Potenzialanalysesystem. Das ist etwas, was niemand so recht versteht,
       aber irgendwie soll es dem DOSB wieder mehr Medaillen bringen. Auch diese
       stupende Medaillenfixierung ist ein Teil des Problems.
       
       Silke Kassner sieht der Auseinandersetzung mit den Funktionären
       allerdings recht gelassen entgegen. „Ja, es geht die Angst um, dass wir
       eine Gewerkschaft gründen, aber wir wollen nicht auf Konfrontationskurs mit
       den Verbänden gehen, wir möchten ein vernünftiger und vertrauensvoller
       Gesprächspartner sein“, sagt sie.
       
       Man müsse verstehen, dass jene paar Hanseln, die 9.000 Kaderathleten in
       Deutschland ehrenamtlich vertreten, eben manchmal „heillos überfordert“
       seien. „Deswegen müssen wir jetzt darauf achten, dass die Arbeit für die
       Athleten vernünftig geleistet wird.“ Mit mehr Geld, mehr Manpower, mehr
       Professionalität.
       
       Die Politik hat bereits Unterstützung signalisiert. Im Mai hat die Große
       Koalition den Beschluss gefasst, eine Interessenvertretung der Sportler
       finanziell zu fördern. Aber bleibt es dabei, wenn die Jamaika-Koalition
       übernimmt?
       
       Kassner will eine „Lernkurve“ bei den Funktionären ausgemacht haben. „Die
       Sportverbände verstehen endlich, wie wichtig Athleten sind“, sagt sie. Das
       ist ein bemerkenswerter Satz, der die verqueren Verhältnisse im
       Spitzensport ziemlich gut beschreibt. Normalerweise sollte man ja davon
       ausgehen, dass der Sportler immer im Zentrum steht und die Sportverwalter
       nur wie Planeten um den Fixstern kreisen, dem Sportler quasi zu Diensten
       sind.
       
       ## Emanzipation des internationalen Sports
       
       Aber wenn es um echte Machtfragen geht, dann sind die Sonnenkönige andere,
       Leute wie IOC-Chef Thomas Bach oder zwielichtige Anführer großer
       Sportorganisationen wie Wu Ching-Kuo, Chef der Amateurboxer, der nun
       endlich von der Disziplinarkommission seines eigenen Verbandes wegen
       Amtsmissbrauch und Korruption suspendiert worden ist.
       
       Wer möchte sich schon von solchen Leuten vertreten lassen und dabei nur die
       Rolle des Befehlsempfängers spielen? Offensichtlich immer weniger Sportler,
       weshalb sich das Vorhaben der deutschen Sportler einbettet in eine
       Emanzipationsbewegung des internationalen Sports.
       
       Die Ungarin Katinka Hosszú hat kürzlich die Global Association of
       Professional Swimmers gegründet und das stichhaltig begründet: „Wir
       arbeiten wie Profis, aber unsere Führung behandelt uns wie Amateure.“ Es
       muss niemanden wundern, dass Julio César Maglione, der Chef des
       internationalen Schwimmverbandes Fina, für verkrustete Strukturen, eine
       lasche Antidopingpolitik, Vetternwirtschaft und Intransparenz steht.
       
       Das alles ist bekannt. Trotzdem wurde der 81-jährige Sportfunktionär aus
       Uruguay vor Kurzem im Amt bestätigt. Das wirkt auf viele Sportler wie eine
       Provokation. Sie fühlen sich den hohen Herren ausgeliefert, obwohl doch sie
       es sind, die das Schwungrad des Sports antreiben.
       
       Vor allem aber möchten Sportler, die olympische oder paralympische
       Sportarten betreiben, ordentlich bezahlt werden. Volleyballer etwa, die in
       Deutschland teilweise unentgeltlich fürs Nationalteam antreten müssen und
       deshalb ein wichtiges WM-Qualifikationsspiel absagen, weil sie Besseres zu
       tun haben, als zum Nulltarif Bälle übers Netz zu jagen. Oder
       Sportstudenten, die die Nase voll haben vom deutschen Sportfördersystem,
       das Sportsoldaten ungleich besser stellt als angehende
       Politikwissenschaftler oder Ärzte.
       
       ## Eklatantes Missverhältnis
       
       165 Millionen Euro gibt der Staat jährlich für den Spitzensport aus. Über
       35 Millionen gehen an Sportsoldaten. Wolfgang Maennig, Professor für
       Wirtschaftswissenschaften in Hamburg und ehemaliger Ruder, nennt das
       „öffentliche Geldverschwendung“. Und er macht eine einfache Rechnung auf.
       Der Steuerzahler müsse für die Olympiamedaille eines Soldaten in Uniform im
       Durchschnitt 4,52 Millionen Euro aufwenden, für die Plakette eines zivilen
       Sportlers aber nur 920.000 Euro.
       
       Ein eklatantes Missverhältnis. Hinzu kommt, dass Bundeswehrsportler im
       Gegensatz zu sportelnden Polizisten oder Zollbeamten nach der Karriere oft
       ohne Job dastehen. Erst die massive Kritik von Maennig und Aktivensprecher
       Max Hartung, einem Fechter, haben etwas bewegt. Athleten können jetzt ein
       Fernstudium (Sportwissenschaft) an der Universität der Bundeswehr beginnen,
       sie können eine Offizierslaufbahn einschlagen oder als Trainer und
       Sportlehrer weiterbeschäftigt werden.
       
       Für zivile Sportler gibt es neben der Stiftung Deutsche Sporthilfe das
       „Sprungbrett Karriere“, ein Programm, bei dem 600.000 Euro zu verteilen
       sind. Viele sehen darin aber nur Flickschusterei und ein Herumdoktern an
       Symptomen, weil man nicht an Grundfesten der Sportförderung rührt.
       
       Der ehemalige Zehnkämpfer Christian Schenk plädiert für den großen Wurf,
       eine sportive Deutschland-AG für 15 Sommer- und 5 Wintersportarten. 1.000
       Athleten würden mit Vierjahresverträgen und Rundumversorgung ausgestattet.
       Auch darüber wird zu diskutieren sein an diesem Wochenende in Köln, denn es
       geht schließlich darum, wie der Spitzensportler in Deutschland zu seinem
       Recht kommt. Oder wie Silke Kassner sagt: „Wir wollen eine Rolle spielen.“
       
       15 Oct 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Markus Völker
       
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