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       # taz.de -- Schau zu Kunstkritik und Oscar Wilde: Entspann dich und genieß die Kunst
       
       > Ästheten und Querulanten gegen Denkverengung: Oscar Wilde wird wieder
       > gebraucht! Das zeigt die Ausstellung „The Critic as Artist“ in Reading.
       
   IMG Bild: Wenn die Kunst ins Leere guckt, kann die Kritik zu ihrer Höchstform auflaufen
       
       Trägheit wird zur höchsten Form der Kritik. Wir glauben an Ästheten und
       Querulanten.“ Das ist der erste des 21 Punkte umfassenden Manifests „The
       Critic as Artist“, das der Brite Andrew Hunt eigens zur Ausstellung
       gleichen Titels verfasst hat, die derzeit beim [1][Reading Arts Festival]
       in England zu sehen ist.
       
       Hunt, Autor und einer der künstlerischen Leiter des Festivals, hat den Ton
       der 21 Forderungen im Duktus klassischer politischer Manifeste gehalten. Er
       wendet sich darin gegen die gängige Praxis, Kunstwerke allein nach ihrem
       Gebrauchswert zu beurteilen.
       
       Ausstellung und [2][Manifest] feiern den irischen Schriftsteller und
       Dramatiker Oscar Wilde und seine theoretischen Schriften über Ästhetizismus
       und Kunstkritik. Seinem berühmten Essay „Der Kritiker als Künstler“ von
       1891 gab Wilde den Untertitel „Mit einigen Anmerkungen über die
       Wichtigkeit, nichts zu tun“.
       
       „Wilde schwebte vor, dass man sich der Kontemplation hingeben, sich
       zurücklehnen und Kunst auf sich wirken lassen sollte. Das sei die modernste
       und erstrebenswerteste Form der Kritik. Und selbstverständlich ist es, wie
       beinah alles, was Oscar Wilde betrifft, ein ernster Witz“, sagt der
       Londoner Schriftsteller und Kulturkritiker Michael Bracewell, der die
       Ausstellung gemeinsam mit Hunt kuratiert hat.
       
       ## „Kunstkritik denkt heute selbstgefällig“
       
       Zu sehen sind Werke von 17 britischen KünstlerInnen, Zeitgenossen Wildes
       und heutige. Die groß- und kleinformatigen Gemälde, Zeichnungen,
       Installationen, Fotos und Collagen sind über alle Räume und das Treppenhaus
       des Reading Museum verteilt. Scheinbar absichtslos sind die Werke inmitten
       der permanenten Kollektion des Museums und seiner antiken Kunstwerke
       platziert.
       
       Das Manifest ist ein raffiniertes Spiel mit den Konventionen, erklärt
       Michael Bracewell: Einige von Wildes Thesen sind wortwörtlich übernommen.
       „Die heutige Kunstkritik denkt insular und ist selbstgefällig, alles ist
       bierernst. ‚Oh, schau mal, das kommentiert doch Donald Trump.‘ Das Manifest
       sagt dagegen: 'Nein, entspann dich! Genieß die Kunst, lehn dich zurück,
       denn dabei lernst du weit mehr, als wenn du ausschließlich hochtrabende
       Theorien auf ein Ausstellungsstück projizierst.“
       
       Der Name des 1854 in Dublin geborenen Oscar Wilde ist verbunden mit
       Klischeevorstellungen von Dandytum und fancy Bonmots wie „Ich habe einen
       ganz einfachen Geschmack: Ich bin immer nur mit dem Besten zufrieden“, der
       heute von der Geschenkeindustrie vereinnahmt wird. Mit „Das Bildnis des
       Dorian Gray“ (1891), seinem einzigen, düster gruseligen Roman über einen
       jungen Hochstapler, hat Wilde einen gesellschaftskritischen Kommentar zur
       hedonistischen englischen Upperclass im Viktorianischen Zeitalter
       abgeliefert – und die Homoerotik in die englische Literatur eingeführt.
       
       Wilde selbst wurde für seine Homosexualität 1895 zu zwei Jahren Zuchthaus
       in Reading, einer kleinen Stadt westlich von London, bestraft. Der mondän
       auftretende, wortgewandte Literat war nach seiner Entlassung ein
       gebrochener Mann und starb 1900 verarmt im Pariser Exil.
       
       ## „Nicht nur schwul, auch brillant“
       
       „In England wird Oscar Wilde hauptsächlich als Märtyrer im Kampf für die
       Rechte von Homosexuellen wahrgenommen. Diese Art der Erinnerungskultur
       empfanden wir als zu einseitig. Denn Wilde war ja nicht nur schwul und
       deshalb im Gefängnis. Er war auch ein brillanter Theoretiker, äußerst
       unterhaltsam noch dazu“, sagt Bracewell.
       
       Während seiner Haft in Reading schrieb Wilde „De Profundis“, einen an
       seinen Liebhaber Lord Alfred Douglas gerichteten buchlangen Brief. Es ist
       eines der „packendsten Dokumente menschlichen Leidens und menschlicher
       Selbstüberwindung“, wie Gisela Hesse im Nachwort der deutschen Ausgabe
       schreibt. Wilde ästhetisiere darin das Leid, das er im Gefängnis erlebte –
       insbesondere die Umgangsweise mit inhaftierten Kindern schockierten ihn –
       und wandle es damit in eine Kunstform um. 2016 richtete eine Ausstellung im
       seit nun vier Jahren leer stehenden Gefängnis von Reading das Augenmerk auf
       diesen Teil von Wildes Leben und Werk. Stars wie die US-Musikerin Patti
       Smith und der Schauspieler Ralph Fiennes lasen „De Profundis“ am Ort seiner
       Entstehung vor.
       
       Bracewell und Hunt hingegen fokussieren auf den anderen, den anarchischen
       Wilde, der im Vorwort zu „Das Bildnis des Dorian Gray“ grundlegende
       Gedanken zum Ästhetizismus äußert. Sie gipfelt im Satz: „Alle Kunst ist
       völlig nutzlos.“
       
       Entsprechend haben die Kuratoren anarchische und ästhetische Künstler
       zusammengebracht. Im schmalen, mit Teppich ausgelegtem Treppenhaus zieht
       „Catherine“ (2008) die Blicke auf sich: Im Gemälde von Alessandro Raho
       steigt eine Frau eine von Grünpflanzen umrankte Treppe hinauf, den Blick
       über die Schulter nach hinten gerichtet, ins Leere. Sein Porträt von
       „Jessica“ (2010) im Raum nebenan zeigt eine Jugendliche mit Sneakers und
       Freizeit-Bekleidung vor einer Blümchentapete. Das Arrangement erinnert an
       eine Aufnahme in einem zweitklassigen Fotostudio. „Raho ist ein Künstler,
       dessen großformatige Porträts in erster Linie schön sein wollen, die den
       Menschen in den Mittelpunkt stellen“, sagt Bracewell.
       
       ## Boshaft, ohne Angst vor der Obrigkeit
       
       Ebenfalls über mehrere Räume verteilt hängen drei rare Bilder des
       präraffaelitischen Malers Simeon Salomon. Er war ein Zeitgenosse Wildes,
       der als Jude, Alkoholiker und Homosexueller klar als ein Außenseiter in der
       viktorianischen Gesellschaft galt. Oscar Wilde sammelte einst dessen
       zeitlos schöne Gemälde.
       
       In einer Vitrine ist Keramikgeschirr aus der Zeit des Ästhetizismus zu
       sehen. Es stammt aus der Sammlung des Künstlerpaares Gilbert & George, die,
       wie Bracewell anmerkt, interessanterweise anarchische Anti-Künstler seien,
       ihre Vorliebe als Sammler jedoch ganz der viktorianischen Ästhetik und
       präraffelitischen Kunst gehöre.
       
       Unter dem Geschirr liegt ein Buch aus. Es zeigt ein Storyboard, lila
       Zeichnungen über Oscar Wilde und lila Schrift. Es stammt von Malcolm
       McLaren, dem berühmt berüchtigten Manager der Sex Pistols und Künstler,
       der, ausgestattet mit Geld aus Hollywood, ein Rock-’n’-Roll-Musical über
       Oscar Wilde machen wollte, angesiedelt im Wilden Westen: „The Wilde West: A
       Hollywood Tale“. Bracewell nennt McLaren eine Wilde’sche Figur im reinsten
       Sinne: Dandy, sprühend vor Witz, ein brillanter Redner, ein Querulant.
       McLaren hatte Teile seines Storyboards 2005 im US-Musikmagazin Dazed and
       Confused veröffentlicht.
       
       Passend, dass der britische Punkpoet Bertie Marshall bei der
       Ausstellungseröffnung performt, mit Megafon setzt er sich auf eine der
       beiden ins Nirgendwo ansteigenden Holztreppen-Installationen von Marc
       Camille Chaimowicz, „A Room For Wilde“ (2017), gibt mal belfernd, mal
       sonor lesend Gedichte zum Besten, aber auch weitgehend sinnfreie Lyrics aus
       Songs von Lana Del Rey. Auch das gibt dem Gedenken an Oscar Wilde einen
       Rahmen, der boshaft zuspitzen und zitieren konnte, sich furchtlos mit der
       Obrigkeit anlegte. Während der Ausstellung werden immer wieder
       PerformerInnen dort Wilde-Texte ihrer Wahl rezitieren. Chaimowicz hat die
       begehbaren Treppen so installiert, dass sie Raum für die Arbeiten der
       anderen KünstlerInnen schaffen.
       
       ## Der Kritiker? Muss kreativer sein als der Künstler!
       
       Zentral im Raum hängt „Like a Painting #1“ (2005) des Modefotografen Miles
       Aldridge. Der chromogene Druck zeigt eine porzellanhäutige junge Frau im
       Halbprofil, Frisur und Gewand sind viktorianisch, die Wangen gerötet, der
       leere Blick gesenkt, Schmetterlinge umflattern sie, zusammen mit den
       algenartigen Stickereien auf ihrem Kleid und der Blumenhecke im Hintergrund
       leuchtet das Bild vor morbider Schönheit. „In the Garden“ (2017) zeigt
       subtile Abweichung: Die im viktorianischen Stil abgebildete Schöne hat eine
       Brust entblößt. Die 1979 in Belfast geborene Donna Huddleston bringt mit
       der schemenhaften Zeichnung „Oscar and Nico“ (2017) zwei Stilikonen
       zusammen.
       
       Die feministische Künstlerin Linder, die in der Punk- und Postpunkszene
       Manchesters groß geworden ist, ist mit der Collage „Johnny Ray“ (2017)
       vertreten. Unter einem Foto des amerikanischen Sängers, der mit
       hochemotionalen Auftritten zu Beginn der 50er Jahre großen Erfolg hatte,
       prangt ein Cover eines Schwulenmagazins, die Scham des nackten, kopflosen
       Mannes ist mit einer Rose überdeckt. Drumherum schwirren auch hier
       Schmetterlinge, Schlangen künden von der Vertreibung aus dem Paradies, eine
       Eule, Symbol für Weisheit und Klugheit, blickt gütig auf die Betrachter.
       Ausgeschnittene Münder mit geöffneten Lippen sind über die Collage
       verstreut.
       
       Bracewell wollte Wildes Ideen aus dem 19. Jahrhundert mit der Kunst aus dem
       21. Jahrhundert in Verbindung bringen. Diese Herangehensweise hat sich, wie
       er sagt, als sehr erfrischend erwiesen, denn im 21. Jahrhundert betrachtet
       die Kritik Kunst und Musik eher aus philosophischem Blickwinkel oder von
       marxistischer Theorie untermauert. Wilde forderte ganz einfach „Drück deine
       Gefühle aus, zeichne deine Sinneseindrücke auf“. Wenn der Kritiker damit
       kreativer ist als das beurteilte Werk, hat er die höchste Form der Kritik
       erreicht.
       
       17 Oct 2017
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://readinginternational.org/
   DIR [2] https://readinginternational.org/critic-artist-manifesto-2017/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Sylvia Prahl
       
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