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       # taz.de -- Pränataldiagnostik und Abtreibung: Plötzlich ist da diese Falte im Nacken
       
       > In meiner Schwangerschaft zeigen Tests, dass mein Kind wahrscheinlich
       > eine Behinderung haben wird. Nur sicher sagen kann es niemand.
       
   IMG Bild: Das Krankenzimmer
       
       Alles, was ich von meinem Kind noch habe, ist ein Stapel Papier. Zettel mit
       Telefonnummern, mit Ärztenamen draufgekritzelt, Befunde, Einwilligungen,
       Broschüren und ein Blatt, auf dem ich „Sammelbestattung“ angekreuzt und
       meine Kontaktdaten in Druckbuchstaben eingetragen habe. Die Papiere habe
       ich unterschrieben. Die Mutter gebiert, die Mutter beendet. Auch ein
       Umschlag ist dabei, braun und fest zugeklebt mit Fotoaufnahmen von 40 Gramm
       und 14 Zentimetern Leben, abgetrieben, mit einer Tablette, geschluckt mit
       Medium-Mineralwasser und hochgezogenem Rotz.
       
       Dabei war das alles anders geplant. Ein normaler Kontrolltermin, 11. Woche
       und ein paar Tage. Wieder einmal sehen, das lebt, was man kaum begreift.
       Die Ärztin ist eine Urlaubsvertretung und schaut in den Computer. Vor ein
       paar Wochen hatte ich das Herz schon schlagen gehört. Kaltes Gel,
       Papierunterlage, nasse Augen. Auch diesmal strecken sich wieder zuckend
       Arme und Beine in mir aus. Aber plötzlich ist da dieses Wort: „Da sehe ich
       eine recht große Nackentransparenz.“ An irgendwas erinnert das Wort mich.
       „Haben Sie schon mal über Pränataldiagnostik nachgedacht? Wie alt sind
       Sie?“ – „35.“
       
       Beim ersten Kind war ich 30 und wir hatten uns gegen Pränataldiagnostik
       entschieden. Weil wir nichts entscheiden wollten, was wir nicht hätten
       entscheiden können. Weil wir nicht drüber nachdenken wollten.
       
       Die Ärztin erklärt, dass sie nicht genügend Erfahrung habe, dass es nichts
       bedeuten müsse, dass ich überlegen sollte, das abzuklären. Sie misst nach,
       ohne vorher zu fragen: 5,5 Millimeter. Sie gibt mir das Foto, ohne es in
       den Mutterpass einzuheften, dazu einen Zettel mit Ärztenamen und Nummer.
       „Muss nichts bedeuten. Lassen Sie das abklären“, sagt auch die
       Sprechstundenhilfe und guckt verunsichert.
       
       Der Wind draußen war stark, Äste liegen auf dem Boden. Mein Sohn singt
       hinten auf dem Fahrradsitz: „Hörst du die Regenwürmer husten?“ Ich schiebe
       und google „Nackenfalte“. Es fühlt sich unheilbar an. Hatte ich nicht
       sowieso Zweifel gehabt? Ein zweites Kind will man doch nur, weil man sonst
       nichts mit seinem Leben anzufangen weiß. Die Stimmungsschwankungen der
       letzten Wochen können doch nur einen Grund gehabt haben.
       
       ## „Es stimmt was nicht“
       
       Ich rufe die Ärztenummer an, spreche auf die Mailbox. Nach fünf weiteren
       Telefonaten – 5,5 Millimeter, ich weiß auch nicht genau, was los ist – habe
       ich einen Termin in zwei Wochen. Das beruhigt mich. Es gibt Bolognese zum
       Mittag. Bis das Krankenhaus zurückruft und sagt, dass der Chefarzt mich
       gleich sehen möchte. Mit diesen Werten. Ich rufe meinen Mann an. Ich
       versuche, Luft zu kriegen: „Es stimmt was nicht.“ „Ich komme sofort.“
       „Musst du nicht.“
       
       Erst mit dem Internet verstehe ich langsam, was gerade zu schnell passiert.
       „Nackentransparenz ist eine subkutane Flüssigkeitsansammlung im
       Nackenbereich und tritt zwischen der 11. und 14. Schwangerschaftswoche auf.
       Die Flüssigkeit kann noch nicht abgeleitet werden und es kommt zu einer
       Lymphansammlung.“ Irgendwas bei 2 oder 3 Millimetern ist nicht so viel.
       Über 5 schon. „Bei einer auffallenden Vergrößerung der Nackentransparenz
       gilt die Wahrscheinlichkeit verschiedener Fehlbildungen als erhöht.“
       
       Ich fahre ins Krankenhaus. Der Chefarzt riecht nach diesem Parfüm, das man
       gerade auf allen Vernissagen riechen kann. Der Sohn will nicht draußen
       warten, er freut sich über das Mini-Baby auf dem riesigen Ultraschallbild,
       das auf die Wand projiziert wird. „Wie lustig“, sagt er, spielt mit dem Gel
       und der Arzt sagt: hohe Nackentransparenz. Sagt: vielleicht schwerer
       Herzfehler, vielleicht Trisomie 21. Sagt: eher ungünstige Prognose.
       Überlebensfähig? Vielleicht nicht. Und jetzt? Er sagt: Wieder Ultraschall
       nächste Woche, Fruchtwasseruntersuchung. Im Netz steht: „Eine große
       Nackenfalte bedeutet nicht zwangsweise, dass Ihr Baby behindert sein wird.“
       
       Wenn man schwanger ist, erzählen einem die Ärzte, man solle nicht darüber
       reden. Damit man nicht darüber reden muss, wenn das Kind stirbt. Eins von
       fünf Kindern stirbt in den ersten Wochen, kann man im Netz lesen. Von
       allein. Und man soll auch nicht darüber reden müssen, wenn man sie sterben
       lässt. Ich will das nicht. Darüber nicht reden. Weil es falsch ist. Ich
       muss darüber schreiben, damit man drüber spricht. Natürlich, sagt mein
       Mann. Wie geht es den anderen? In den Foren lese ich vor allem von Kindern,
       die trotz schlechter Prognose gesund zur Welt kamen. Ausnahmen, sagt der
       Arzt.
       
       Am Abend flüstert mein Sohn seinem Vater ein Geheimnis ins Ohr: „Mama hat
       ein Baby im Bauch.“ Er gibt ihm einen Namen. Verabredet sich mit ihm zum
       Fußball. „Weißt du, vielleicht ist das Baby nicht gesund.“ Ja, Mama. Mein
       Mann erzählt von den Jahren, in denen er in einer Gemeinschaft mit
       Gehandicapten lebte. Es gibt viel zu viele Menschen auf der Welt, warum
       müssen wir ein krankes Kind bekommen? Vielleicht hat es ja nur vier Zehen,
       ich kannte mal jemanden mit vier Zehen, dem ging es gut. Ein Kind mit einem
       halben Arm weniger. Das wäre schön. Oder aber unser Kind bedeutet: Pflege,
       24 Stunden, sieben Tage die Woche. Nicht die nächsten drei, sondern vierzig
       Jahre.
       
       Es darf nicht um die Bewertung gehen, ob das Leben des Kinds lebenswert
       ist. Schon rechtlich nicht, sagt der Arzt. Ich kann das nicht beurteilen.
       Ich habe Angst davor, das Kind zu verlieren, später, wenn das Leben realer
       ist. Deswegen denke ich darüber nach, die Schwangerschaft abzubrechen.
       
       „Wir wollen Leben retten“, sagt Professor Wolfgang Henrich, als ich ihn
       Wochen nach der Abtreibung interviewe, weil ich Antworten suche, aber kaum
       klare Fragen habe. Er ist nicht mein behandelnder Arzt, sondern Leiter der
       Geburtsmedizin der Charité. Er gerät in eine Verteidigungshaltung, die mich
       verunsichert. Er sagt, dass etwa ein Prozent der Neugeborenen einen
       Herzfehler habe, bei dem es helfe, ihn früh zu entdecken und bei der Geburt
       darauf reagieren zu können. Und es gehe darum, Frauen eine Selbstbestimmung
       zu ermöglichen. „Keine Frau macht das leichtfertig.“ Ich nicke.
       
       „Egal, was wir machen, das wird jetzt alles scheiße werden“, sagt mein Mann
       irgendwann in diesen Sommerwochen, in denen kein Sommer ist. „Satz mit x,
       war wohl nix.“ Seine Einschätzung ist auf absurde Weise beruhigend. Und
       vielleicht auch die größte Erkenntnis aus dem Besuch bei der
       Beratungsstelle. Da schicken sie einen hin. Sie sprechen dann leise: Gehen
       Sie dahin, die helfen Ihnen.
       
       Auch die Frau in der Beratungsstelle spricht leise. Und langsam. Ich bin
       ungeduldig, weil sie all das erzählt, was ich schon im Internet gelesen
       habe. Dass nach einem auffälligen Erst-Screening die Möglichkeit besteht,
       eine nicht ganz risikofreie Fruchtwasseruntersuchung zu machen – oder gar
       nichts zu tun und sich für das Kind zu entscheiden. Dass man die Belastung
       aber nicht unterschätzen dürfe.
       
       ## Warten oder entscheiden?
       
       Und wenn die Fruchtwasseruntersuchung keine Diagnose bringt, dann müsse man
       bis zum Feinscreening um die 22. Woche warten. Sicher sei eine genaue
       Diagnose dann aber auch nicht. Ich will nur wissen, ob mein Kind gesund
       sein kann. „Es ist sehr wahrscheinlich, dass ihr Kind nicht gesund ist.“
       
       Die Taschentücher liegen auf dem Beistelltisch, die Beraterin erklärt den
       Unterschied zwischen einer zeitnahen Ausschabung und einem späteren
       Abbruch. Sie sagt, dass die Kinder, wenn sie fast schon lebensfähig sind,
       meist mit einer Spritze getötet würden, bevor man sie gebären müsse. Stille
       Geburt heißt das. Ich denke, das könnte ich nicht durchstehen. Heute weiß
       ich, man kann fast alles durchstehen.
       
       Sie sagt, dass wir gefragt werden würden, ob wir das Kind danach sehen
       wollen. Und dass eine Abtreibung kein Teppich sei, unter den man das
       Problem kehren könne. Dass dieses Kind uns nun unser ganzes Leben
       beschäftigen werde. Zumindest das war ja so geplant.
       
       „Das Schlimmste wäre, es in ein paar Monaten zu verlieren oder kurz nach
       der Geburt“, sage ich zu meinem Mann. Die Möglichkeit, dass wir
       unterschiedlicher Meinung sein könnten, schließe ich aus. Was ist als
       Nächstes zu tun? Planänderung alle paar Minuten. In einem Moment glaube ich
       daran, dass das Kind gesund ist, im nächsten Moment weiß ich, dass es nicht
       so ist.
       
       Wir sind uns einig, dass wir kein schwer krankes Kind bekommen. Können.
       Wollen. Unkontrollierte Tränen. Unser Sohn, dessen Existenz nun wie ein
       reiner Glücksfall scheint, macht das erste Mal seit über einem Jahr wieder
       ins Bett. Wir vereinbaren einen weiteren Termin beim Chefarzt. Ich
       verbringe eine Menge Zeit im Internet, im Wartezimmer und gebe eine Menge
       Blut ab. Für 299 Euro kann man testen, ob das Kind Trisomie 21, 18 oder 13
       hat. Nur diese drei Anomalien. Was machen Frauen, die weniger Geld und
       keine flexiblen Arbeitszeiten haben?
       
       Wir werfen eine Matratze ins Auto und fahren nach Italien. Es ist der
       schönste Urlaub seit Jahren. Wie verzweifelt wir sind, merke ich, als mein
       Mann eine Kerze in der Kirche von Bellagio anzündet. Und unser Sohn will
       immer über Jesus reden.
       
       ## Je früher der Befund, desto häufiger wird abgetrieben
       
       Professor Henrich wird einige Wochen später sagen, dass etwa 150.000 bis
       200.000 Schwangerschaftsabbrüche im Jahr bei gesunden Kindern vorgenommen
       würden. Und nur etwa 1.600 bis 2.000 mit medizinischer Indikation.
       
       Er sagt, je früher innerhalb der Schwangerschaft der Befund da sei, desto
       eher würden die Föten abgetrieben. Und er sagt, dass es zwei Peaks gäbe, in
       der 13. und 14. Woche, sowie dann nach dem Organscreening um die 22. Woche
       herum.
       
       Ich bin in der 12. Woche. Das Ergebnis des Bluttests ist nicht nach drei
       Werktagen da, wie versprochen, sondern nach fünf. Ich sitze auf einem
       Campingplatz am Lago Maggiore, eine Ente läuft vorbei, und ich stelle mich
       auf alles ein. „So wie ich das hier sehe, ist der Test unauffällig“, sagt
       die Frau am Telefon. Mir wird schwindelig. Keine der drei Trisomien
       bedeutet, es könnte eine der unzähligen anderen haben.
       
       Wir werden darüber entscheiden müssen, ob wir ein vielleicht lebensfähiges
       Kind abtreiben, weil es wahrscheinlich schwer krank ist. Wir gehen wieder
       zum Chefarzt. Das sind die sicheren Momente, weil wir nicht abwägen müssen,
       nur zuhören. Ich mag den Arzt. „Unauffälliger Blut-Test bedeutet erst mal
       Durchatmen“, sagt er. Ich atme durch. Dann schaut er sich das Herz unter
       dem Ultraschall an: unauffällig. Frequenz durchschnittlich. „Wenn ich einen
       Tipp abgeben darf, es ist ein Junge.“ Das Gehirn: unauffällig. Man sieht
       das Blut dadurch fließen. Nabelschnur, Nasenbein, Wirbelsäule, Blase, alles
       da. Alles gut, oder?
       
       Ich freue mich. Mein Mann scheinbar nicht. „Aber die Nackentransparenz ist
       deutlich sichtbar.“ Sie ist noch größer geworden. 5,9 mm. Und: am Nacken
       seien große Zysten zu sehen, das Kinn sei nicht wirklich darstellbar. Im
       Befund steht hinterher, dass die Stirn auffällig hoch sei. Der Arzt sagt,
       dass Organfehler sich also noch entwickeln könnten und dass eine geistige
       Beeinträchtigung möglich wäre. Wie viele Kinder mit ähnlichem Befund werden
       abgetrieben? „95 Prozent.“
       
       „Was hast du gedacht, als du das Baby gesehen hast?“, fragt mein Mann, als
       wir aus dem Krankenhaus gehen, das ich nicht mehr sehen mag, mit seinem
       orangefarbenen Linoleum, mit seinen leblosen Pflanzen. Ich denke: Das ist
       mein Baby. Ich antworte nicht. Mein Mann sagt: „Es ist nicht in Ordnung.“
       
       Ich rufe bei Ulrich Sancken an. Wenn man im Internet, das der
       Pränataldiagnostik eher zu misstrauen scheint, nach ebenjener sucht, landet
       man rasch bei ihm. Er ist Biologe mit genetischer Ausrichtung, arbeitet in
       einem Labor für Humangenetik, ist Vater einer Tochter, die mit offenem
       Rücken zur Welt kam, und schreibt in Foren. Er tauscht sich aus mit Frauen,
       die Befunde gehört haben wie ich. Er sagt, er habe viele Eltern
       kennengelernt, die eine ungünstige Prognose hatten, deren Kinder aber
       gesund zur Welt kamen. Man müsse sich die Softmarker angucken, sagt er. Das
       sind bei uns die Zysten, die aber auf kein Krankheitsbild eindeutig passen.
       
       ## Entscheidung für Abtreibung nennt der Arzt „sinnvoll“
       
       Es ist Mittwoch, wir vereinbaren zwei Termine für Montag. Entweder nehmen
       wir den einen wahr oder den anderen. Ein Termin für die
       Fruchtwasseruntersuchung und einen für eine Kürettage – ein schönes Wort
       für den unschönen Vorgang der Ausschabung. Die Fast-Entscheidung zu einem
       Abbruch nennt der Arzt „sinnvoll“. Er füllt einen gelben Zettel aus. „Aston
       Martin Race“ steht auf seinem T-Shirt. Es wird nicht mehr viel geredet.
       Papierkram. „Sammelbestattung dann?“, fragt er. „Äh“, sagt mein Mann,
       „können wir das später entscheiden?“– „Natürlich.“ Eine Gewebeprobe werde
       dann in die Genetik geschickt.
       
       Eine befreundete Gynäkologin rät, eine zweite Meinung einzuholen. Wir gehen
       zum Humangenetiker, mit der Drohung des nahenden Abbruchs bekommt man
       schnell einen Termin. In der großen Pränatalpraxis hängen viele Babyfotos.
       Fische im Aquarium werden gefüttert. Also werden hier doch gesunde Kinder
       geboren. Er sagt uns, dass wir wahrscheinlich nicht herausfinden werden, ob
       und welche Chromosomen-Anomalie das Kind habe. Dafür sei die Forschung noch
       nicht weit genug. Die Untersuchung des Fruchtwassers würde drei Wochen
       dauern. Ferienzeit. Danach bleibt nur noch eine vaginale Geburt.
       
       Wie viele Kinder mit ähnlichem Befund werden abgetrieben? Er überlegt:
       „Über 50 Prozent.“ Das klingt schon besser. Aber irgendwann sagt er es: „Es
       ist sehr unwahrscheinlich, dass Ihr Kind gesund ist.“ Man habe ausreichend
       Daten, um das sagen zu können. Wir gehen. Erleichtert. Wenn man
       Entscheidungen trifft, weiß man irgendwann, es gibt nur die eine, die
       richtige. Das soll alles aufhören. Die Verantwortung scheint größer als
       ich. Der eine Weg erträglicher als der andere.
       
       Zwei Tage vor dem Abbruch wieder ins Krankenhaus. Ich fahre allein. Es ist
       Samstag. Ich finde niemanden. Nur ein paar Schwangere, die auf die Geburt
       warten. Ich bin nicht neidisch. Ich klingele. Ich werde in einen Raum
       gebracht, in dem ein breites Bett steht. Auf so einem Bett habe ich meinen
       Sohn zur Welt gebracht. Ein leeres Babybett steht daneben, bunte
       Bettwäsche.
       
       Eine Ärztin kommt, schaut in meinen Papierstapel. „Haben Sie eigentlich
       einen Genetiker gesprochen?“ Warum fragt sie das? Gibt es doch Hoffnung?
       „Was man sieht, sieht man, oder?“, sagt sie und gibt mir eine Tablette, die
       Abtreibungspille Mifegyne. Ich schlucke sie. Grüne Papierhandtücher, viel
       zu hart, um sich die Nase zu putzen. „Keine Situation, um die man Sie
       beneidet.“ Wir fahren aufs Land. Alle trinken Wein. Ich nicht, trinken
       schadet dem Baby.
       
       ## Überall Blutklumpen
       
       Zwei Tage später müssen wir lachen, hysterisch fast. Um 13 Uhr sollte die
       Ausschabungs-OP sein, jetzt ist es 15 Uhr. Das Bett ist nicht breit, aber
       breit genug, um sich gegenseitig festzuhalten. Ich stehe jetzt aber im
       Krankenhauszimmer, durchnässt, weil ich leichte Wehen und einen
       Fruchtblasensprung gehabt hatte. Ich fange an zu bluten, immer mehr,
       nachdem ich zwei Tabletten Cytotec genommen habe – das Medikament, das
       eigentlich die Magenschleimhaut stärken soll, aber auch Fehlgeburten
       auslöst.
       
       Das Blut tropft dunkel auf das Linoleum, meine Unterhose ist voller
       blutiger Klumpen. Ich versuche, den Boden sauber zu wischen, und rutsche
       fast aus. Ich glaube, das ist jetzt schon das Kind, das da am Boden in
       meiner Unterwäsche liegt. „Bitte hol jemanden.“ Die Hebamme sagt, sie habe
       gerade Schichtbeginn. Sie sucht nach dem Kind. Nein, das ist es noch nicht.
       Und da ist gar nichts anderes möglich, als zu lachen.
       
       Die Narkose dauert 15 Minuten. Die Tränen dringen durch die Betäubung in
       den neuen Zustand. „Ich habe nicht auf mein Kind aufgepasst.“ Die Ärztin
       sagt, es war ein Junge und es war die richtige Entscheidung. Mein Mann sagt
       später, sie habe auch gesagt, er sei schwer krank gewesen. Ich habe das
       nicht gehört. Obduktion? Ja. Ich will das alles wissen.
       
       Wir schreiben den Freunden und der Familie, dass wir uns von unserem Sohn
       verabschiedet haben. „Bevor der Abschied unerträglich geworden wäre. Wir
       sind froh über das, was da ist. Alles geht immer weiter.“ Ich habe mein
       Kind verloren? Ich habe es abgetrieben? Beides stimmt nicht ganz. Als die
       Leute anmaßend antworten – „das war die richtige Entscheidung“ –, ärgere
       ich mich. „Ist das Baby jetzt begraben?“, fragt der Sohn. Ich schwindele:
       Ja. „Oh, schade.“
       
       Wie geht es dir, fragt die Freundin. „Mir geht es gut. Ich schäme mich
       etwas deswegen. Wahrscheinlich geht es mir bald wieder schlecht. Es war
       fast schön. Wir konnten ihn sogar noch mal sehen.“
       
       ## Ich bereue es nicht
       
       Wenn ich von der Begegnung mit ihm erzähle, spreche ich von etwas Heiligem.
       Es war wirklich fast schön. Durchsichtig und blau, in einem kleinen
       geflochtenen Korb, eingewickelt in ein blaues Stofftaschentuch. Wir haben
       uns langsam genähert. So klein. Wenn wir ihn angefasst hätten, wäre seine
       dünne Haut gerissen. Wir haben ihm meinen silbernen Armreif mitgegeben, die
       Hebamme hat ihn um seinen Bauch gelegt, nachdem sie ihn fotografiert hatte.
       Er hatte so eine schöne Kopfform. Der Kopf hätte in meine Hand gepasst. Ich
       habe nicht daran gedacht, nach einer hohen Stirn zu suchen.
       
       Eine Woche später spüre ich ihn noch im Bauch. Eine Woche später kann ich
       nicht seinen Namen sagen. Eine Woche später wollen Freunde und Familie von
       uns Trauer sehen, wo Unverständnis ist. Ich berühre die Einstichstelle des
       Venenzugangs. Ich zerschlage eine Motte mit der Hand. Täterin. Ich probiere
       neue Parfüms aus. Aus einem Elternpaar sind zwei Trauernde geworden.
       
       Es fühlt sich so an, als wäre jetzt alles anders, als käme ich nicht wieder
       in das alte Leben rein. Aber die Angst davor, dass alles wieder so sein
       wird wie vorher, ist noch größer. „Wann kommt mein Bruder?“, fragt mein
       Sohn. Eine Freundin erzählt von ihrem Krebs. Das ist schlimm. Nicht meine
       Geschichte.
       
       Es ist schon Herbst, als ein Brief von der Krankenhausseelsorge kommt.
       Einladung zur Trauerfeier in zwei Monaten, eine Sammelbestattung. Man solle
       bitte nicht filmen und fotografieren. Es ist noch nicht vorbei. Ich gehe
       zum Frauenarzt. „Wie geht es Ihnen?“ Wenn Sie nicht fragen, ganz gut. „Ich
       bin stabil“, sage ich. Ob ich schlafen könne, fragt er. Immer, sage ich.
       Ich bereue es nicht. Ich habe getan, was ich konnte.
       
       Ist es, weil ich am Anfang der Schwangerschaft getrunken habe? Eine Laune
       der Natur, sagt der Arzt. 300 Schwangerschaften betreut er jährlich. So
       unübersehbare Auffälligkeiten habe er drei bis vier Mal im Jahr, und die
       würden eigentlich immer zum Abbruch führen. Meist wären sie mit
       Chromosomen-Anomalie diagnostiziert. So eine hohe Nackenfaltentransparenz
       könne man nicht ignorieren.
       
       Professor Henrich hat gesagt, dass auffällige Föten oft nicht eindeutig
       diagnostiziert werden können. Aber die meisten Eltern bekommen eine
       Diagnose, sagte er. Und er habe in 20 Jahren nicht erlebt, dass die
       Pathologie, wenn sie sich die Kinder anschaut, was in Deutschland aus
       gesetzlichen Gründen nur auf Wunsch der Eltern passiert, hinterher sagt,
       das Kind sei gesund gewesen. Wenn es keinen starken Grund gäbe, würde kein
       Arzt den Abbruch durchführen.
       
       Nach neun Wochen fahre ich wieder ins Krankenhaus. Der Chefarzt hat viele
       Blätter in der Hand, die Obduktionsergebnisse. Die großen Zysten wurden
       gefunden. Die hohe Stirn, das kleine Kinn. Dazu noch ein flacher
       Hinterkopf, ein tiefer Ohransatz links. „Diskrete Hinweise auf eine
       syndromale Erkrankung“. Welche? Unklar. Genetischer Befund? Unauffällig.
       „Sie haben keinen Fehler gemacht, da war schon was bei dem Mädchen.“
       Mädchen? „Ja, XX-Chromosomen.“ Aber es war doch ein Junge? „In dem frühen
       Entwicklungsstadium schwer zu erkennen, die Klitoris könnte besonders groß
       gewesen sein, vielleicht auch ein Hinweis auf eine Krankheit.“ Okay, danke.
       Auf Wiedersehen.
       
       Mein Mädchen. Elf Blatt Papier mehr.
       
       22 Oct 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Laura Ewert
       
       ## TAGS
       
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       „Schwer-In-Ordnung-Ausweis“ ausstellen. Das ist gut, wenn es nicht nur nett
       gemeinte PR ist.
       
   DIR Prozess gegen Ärztin Kristina Hänel: „Werbung“ für Abtreibungen
       
       Die Ärztin Kristina Hänel kommt vor Gericht – weil auf ihrer Webseite
       steht, dass sie Schwangerschaftsabbrüche durchführt.
       
   DIR Schwangerschaftsabbrüche in Nordirland: Verbot könnte aufgeweicht werden
       
       In Großbritannien und Irland gibt es juristischen Ärger um die
       Abtreibungsgesetze. Katholische Bischöfe nennen jüngste Zahlen im Land
       alarmierend.
       
   DIR Saisonstart am Ramba-Zamba-Theater: „Unser Erfolg hat viele ermutigt“
       
       Gisela Höhne hat das Theater RambaZamba seit 1990 geleitet. Jetzt übernimmt
       ihr Sohn Jacob Höhne. Ein Gespräch mit beiden über Politik und Inklusion,
       Literatur und Pränataldiagnostik.
       
   DIR Pränatale Diagnostik: Gegen die Norm
       
       Abweichungen beim Fötus lassen sich früher und sicherer feststellen.
       Verfestigt wird ein Weltbild, das Behinderung als Belastung begreift.
       
   DIR Pränataltest für Trisomie 21: Unternehmensfreundliche Regelung
       
       Die Debatte über die Folgen der neuen Tests steht noch aus. Der Gemeinsame
       Bundesausschuss lässt schon Informationen für Schwangere erstellen.
       
   DIR Debatte Pränataltests und ihre Folgen: Eltern als Selektierer
       
       90 Prozent der Downsyndrom-Föten werden abgetrieben. Pränataldiagnosen und
       Effizienzerwartung machen Eltern oft zu Privateugenikern.