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       # taz.de -- Die Wahrheit: Plinsen und plärren
       
       > Das große Jammern ist vorbei. Der gewohnte Klageton will der Wimmernation
       > Deutschland einfach nicht mehr gelingen.
       
   IMG Bild: Lebenslust in wallenden Barockgewändern
       
       Wenn die Leute heutzutage die Frage „Und, wie geht’s?“ mit „Kann nicht
       klagen“ beantworten, dann ist das keine Floskel mehr. Was ist los in diesem
       Land? Das war doch immer unsere Kernkompetenz, das Jammern. Früher ging das
       nahtlos: Einen Sachverhalt betrachten, erörtern, bewerten und gleich die
       Hände über dem Kopf zusammenschlagen und „Um Gottes Willen!“ greinen. Das
       will heute einfach nicht mehr klappen. Total schade, das. O my god, man
       kann nicht einmal mehr sagen: Jammerschade. Funktioniert nicht.
       
       Sie sind einfach total anders drauf mittlerweile, die Deutschen, das ist so
       traurig. Die Leute laufen herum, als wären sie geradewegs der Fotostrecke
       eines der beliebigen Landlust-Magazine entsprungen, mit weißen Hemden oder
       wallenden luftigen Gewändern mit Blümchenmuster und vor allem riesigen
       Hüten, ausladenden Strohhüten, die alles unterm Deckel halten.
       
       Dabei ist der Käse zu weich, längst in der Verlaufsform, der Wein zu warm,
       nicht mal Zimmertemperatur, man hält sich eh nicht in geschlossenen Räumen
       auf, sondern weilt beim Picknick oder an der langen Tafel, die sich durch
       die Fußgängerzone zieht. Schlimmstenfalls ist man beim Grillen, mit schwarz
       gebranntem, tendenziell krebsogenem Fleisch, aber kein garstig Wort kommt
       den Menschen über die Lippen, klaglos nehmen sie alles hin und die Blätter
       der Beschwerdebücher bleiben so weiß wie die Hemden vor dem ersten
       Cranberryfleck. Die einschlägigen Internetforen simmern einstweilen vor
       schierer Begeisterung.
       
       ## Gute-Laune-Bär-Gehege
       
       Uns geht’s echt zu gut. Das Land verkümmert zum Gute-Laune-Bär-Gehege.
       Wisch-und-Weg statt Jammerlappen. Auch bei den bemitleidenswerten
       Österreichern übrigens, da heißt eine Stadt sogar Klagenfurt. Das Lamento
       furioso grandioso – wo hört man das noch? Was das anbelangt, zählen die
       Teutonen längst zu den lahmen Tieren. Niemand mag sich mehr beschweren, wir
       sind auf dem besten Weg zum unbeschwerten Völkchen. Plinsen, pienzen,
       plärren – die Nachbarn hängen uns ab. Die Franzosen haben den Nörgler von
       Notre-Dame – bonjour tristesse! Die Franzosen, hat Cocteau gesagt, sind
       schlecht gelaunte Italiener. Dort hatte früher jedes Kaff seine eigene
       Seufzerbrücke. In Deutschland hingegen immer mehr hirnlose Menschen, die
       alles toll finden – na toll. Nicht mal mehr Klageweiber gibt es.
       
       Hammermäßiges Jammern befindet sich in diesem Lande in einem
       beklagenswerten Zustand. Ehrlich. Viele finden das einfach nicht mehr sexy
       und betrachten das Leben durch die rosarote Brille. Dabei passte die
       Klobrille doch viel besser zu uns.
       
       ## Leere in Kummerkästen
       
       In den Kummerkästen gähnende Leere. Überall auf diesem Planeten haben wir
       unermüdlich Weltkummerhilfe geleistet. Trinkt eigentlich noch jemand
       Kümmerling? Menno, warum sind die nur alle so fantastisch drauf? Gibt doch
       gar keinen Grund. Das bringt doch auch eine gewisse Kulturlosigkeit mit
       sich, denn grantelhalber waren wir echt spitze.
       
       Auch in der Disziplin Wimmern lagen wir ganz vorne. Heute sind die Leute
       einfach nur, wie man auf gut Deutsch sagt: „happy“. Wo liegt noch gleich
       dieses Buch, „Die Anleitung zum Unglücklichsein“? Das muss dringend zurück
       auf die Coffeetables. Wenn wir so weitermachen, verlieren wir noch unseren
       Unesco-Status, gehört doch das Jammern zu unserem immateriellen Kulturerbe.
       
       27 Oct 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Thomas C. Breuer
       
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