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       # taz.de -- Autorin Yaa Gyasi über ihren Debütroman: „Wir sind Äste desselben Baumes“
       
       > Romane können etwas wiederherstellen, das verloren war: Die
       > Schriftstellerin Yaa Gyasi über ihr Debüt „Heimkehren“, die Geschichte
       > ihrer Familie und Toni Morrison.
       
   IMG Bild: „Ich war sieben, als ich meine erste Geschichte schrieb“, sagt Yaa Gyasi
       
       taz am wochenende: Yaa Gyasi, Sie haben sieben Jahre an diesem Roman
       gearbeitet, sind aber noch so jung. Also müssen Sie ungefähr 20 gewesen
       sein, als Sie damit anfingen? 
       
       Yaa Gyasi: Stimmt. Es begann mit einer Reise nach Ghana, auf der ich Cape
       Coast Castle besuchte.
       
       Die Festung, in der die Engländer Sklaven gefangen hielten, die für den
       Transport über den Atlantik bestimmt waren. 
       
       Ja. Ich machte eine ganz normale touristische Führung durch die Festung
       mit, und was ich dort erfuhr, entzündete irgendwie meine Fantasie. So
       begann es. Ich hatte diese Recherchereise eigentlich wegen einer ganz
       anderen Idee begonnen. Aber als ich dort in der Festung stand, wusste ich
       auf einmal, worüber ich wirklich schreiben wollte.
       
       Sie waren Studentin im Fach Creative Writing, oder? 
       
       Ich war gerade auf dem College in Stanford, zwischen dem zweiten und dem
       dritten Collegejahr. Englisch mit Schwerpunkt Creative Writing war mein
       Hauptfach.
       
       Also müssen Sie vor diesem ersten Roman schon andere Dinge geschrieben
       haben. Short Storys? 
       
       Ja, klar. Ich habe praktisch mein ganzes Leben lang Kurzgeschichten
       geschrieben.
       
       Ihr ganzes Leben? Wann haben Sie angefangen? 
       
       Ich war sieben, als ich meine erste Geschichte schrieb. Sie hieß „Just me
       and my dog“. Es gab damals eine Fernsehsendung „Reading Rainbow“ mit LeVar
       Burton als Moderator, darin ging es um Kinderbücher. Das war meine
       Lieblingssendung. Und sie veranstalteten jedes Jahr einen
       Schreibwettbewerb, für den war diese Geschichte. Ich gewann zwar nicht,
       wurde aber immerhin lobend erwähnt und bekam eine Urkunde. Die Geschichte
       wurde nie veröffentlicht, aber trotzdem war sie so etwas wie meine erste
       Arbeit. Seitdem schreibe ich, und irgendwo tief in mir wusste ich immer,
       dass ich eines Tages Schriftstellerin sein wollte.
       
       Bei Ihrer Lesung in Berlin wurde es etwas anders erzählt. Dass Sie mit 17
       Jahren Toni Morrison lasen, und … 
       
       … das war das erste Mal, dass ich auf eine Autorin stieß, die über Dinge
       schrieb, die mich wirklich sehr tief interessieren – und dass ich verstand,
       dass Schreiben tatsächlich ein richtiger Beruf sein kann.
       
       Also hatte es gar nicht so viel damit zu tun, dass Toni Morrison ein
       schwarzes, weibliches Idol für Sie war? 
       
       Doch, auch. Das hatte alles miteinander zu tun. Zu sehen, dass man auf
       diese Weise über Schwarze schreiben und damit erfolgreich sein konnte. Eine
       schwarze Frau wie Toni Morrison war mir vorher noch nicht begegnet.
       Insofern war es ein Wendepunkt, zu sehen, was überhaupt möglich war.
       
       Aber Sie waren tatsächlich schon 17, als Sie Toni Morrisons Bücher
       kennenlernten? Das heißt, Schullektüre war sie also nicht gewesen. 
       
       An meiner Schule jedenfalls nicht.
       
       Was haben Sie denn in der Schule gelesen? 
       
       Hm, lassen Sie mich überlegen. Ich erinnere mich an eine Menge
       viktorianischer Literatur, die ich sehr mochte. Die Brontë-Schwestern.
       Erstaunlicherweise kaum zeitgenössische amerikanische Literatur. Faulkner
       haben wir gelesen, Hemingway.
       
       Ihr Roman „Heimkehren“ handelt von der Geschichte schwarzer Menschen in
       Nordamerika und von Ihrer afrikanischen Herkunft. Ist es sehr wichtig für
       Sie, dass die Protagonisten in Ihren Büchern schwarz sind? 
       
       Ich könnte mir nicht vorstellen, nicht über Schwarze zu schreiben. Für mich
       ist es wichtig. Ich denke, es hängt damit zusammen, dass ich den Großteil
       meiner Jugend damit verbracht habe, Bücher über weiße Menschen zu lesen.
       Das gab mir das Gefühl, dass Literatur etwas ist, das eben von Weißen
       handelt.
       
       Heißt das, dass die Hautfarbe Ihrer Protagonisten ein Thema an sich ist?
       Oder sind die eben einfach schwarz? 
       
       Ich glaube nicht, dass es mir in diesem Roman um diesen Unterschied ging.
       Ich hatte etwas gefunden, was mich sehr interessierte, und wollte es so
       ganzheitlich darstellen wie möglich. Idealerweise sollten wir, denke ich,
       eines Tages aber dahin kommen, dass schwarze Autoren über was auch immer
       schreiben können und genauso respektiert werden wie weiße. Was mir
       aufgefallen ist: Wenn in Amerika schwarze Autoren den Pulitzerpreis
       gewonnen haben, dann war es immer für diese großen Romane über die
       Sklaverei – auch zum Beispiel bei Colson Whitehead und Toni Morrison. Aber
       die weißen Pulitzerpreisträger haben alle möglichen Arten von Romanen
       geschrieben: einen Roman über einen Uhrmacher. Oder über eine Person, die
       eine Affäre hat. Über egal was. Das endgültige Ziel sollte auf jeden Fall
       sein, dass es so für alle wird. Dass man schreiben kann, worüber auch
       immer, und dass man von schwarzen Autoren nicht nur Geschichten über Rasse
       oder über die Sklaverei erwartet.
       
       Sie meinen, das ist das Ziel, aber noch funktioniert die Gesellschaft nicht
       so? 
       
       Genau. So ist es überhaupt noch nicht.
       
       In Ihrem Roman kommt die Sklaverei zwar vor, aber er handelt von etwas
       anderem, nämlich von der historischen Verbindung der schwarzen Amerikaner
       mit dem afrikanischen Kontinent. An seinem Ende stehen zwei Personen,
       Margaret und Marcus, die, ohne es zu wissen, von den Schwestern abstammen,
       die wir zu Beginn des Romans kennengelernt haben. Das ist ein starkes
       Symbol. 
       
       Ja, da habe ich natürlich ziemlich starke Symbolik verwendet, um die
       Verbindung zwischen den Afroamerikanern und den afrikanischen Einwanderern
       in Amerika aufzuzeigen. Der Gedanke, dass wir zwei Äste desselben Baumes
       sind, war mir sehr wichtig und dass es uns möglich ist, uns gegenseitig
       anzunähern und – also zumindest im Roman – dazu beizutragen, etwas
       wiederherzustellen, das verloren war.
       
       Aber diese Wiederherstellung geschieht im Roman tatsächlich nur auf diese
       symbolische Art. Marcus fühlt, dass da etwas ist, aber ihm fehlt das
       Wissen. 
       
       Ja, es muss ja symbolisch bleiben. Inzwischen gibt es DNA-Tests, die man
       machen kann, um auf diese Weise zumindest Aufschluss darüber zu bekommen,
       aus welcher Region in Afrika die Vorfahren einst kamen. Aber für Marcus im
       Roman hätte es keine Möglichkeit gegeben, zu wissen, dass seine
       Urururgroßmutter einst Sklavin war und in genau demselben Verlies gefangen
       gehalten wurde, in dem er als Tourist steht.
       
       Wie ist das eigentlich: Wissen die Leute es normalerweise, wenn sie von
       ehemaligen Sklaven abstammen, oder hat man gar keine Ahnung? Haben Sie zum
       Beispiel die Erfahrung gemacht, dass bei Lesungen oder anderen
       Gelegenheiten Leute zu Ihnen kamen, um über ihre Familiengeschichte zu
       sprechen? 
       
       Ab und zu sind Leute gekommen und haben mir erzählt, dass sie ihre DNA
       haben untersuchen lassen. Es gibt ein Unternehmen in Amerika, „23 and me“,
       das diese Tests macht. Ich weiß nicht, wie spezifisch das ist, ob man
       vielleicht nur ganz grob die Gegend in Afrika herausfindet, aber man
       bekommt wenigstens eine ungefähre Ahnung. Einmal erzählte eine Leserin, sie
       habe herausgefunden, dass eine Ururgroßmutter von ihr als Sklavin auf einer
       Plantage gearbeitet hat. Aber das ist die große Ausnahme.
       
       Sie haben in einem Interview über das Kapitel mit Quey gesagt, dass es am
       schwierigsten zu schreiben war, weil Sie über diese Periode nicht sehr viel
       wussten. Quey ist im Roman der Sohn eines Engländers und einer
       Afrikanerin, der bereits im frühen 19. Jahrhundert nach England zur Schule
       geschickt wurde. Wie haben Sie dieses Problem gelöst? 
       
       Eigentlich gar nicht. Dieses dritte Kapitel ist das einzige, das ich nicht
       in der chronologischen Reihenfolge geschrieben habe. Ich hatte etwa ein
       Drittel davon, merkte dann, dass ich keine Ahnung hatte, was ich eigentlich
       tat, und machte lieber mit dem vierten Kapitel weiter. Das dritte Kapitel,
       so wie es jetzt ist, unterscheidet sich sehr von der ersten Fassung. Es war
       zuerst … Also, der Rest des Romans basiert natürlich auch auf meiner
       Fantasie, aber ich hatte wenigstens das Gefühl, dass die Handlung gut von
       historischem Wissen gepolstert war. Hier war das nicht so; ich hätte nicht
       sagen können, ob es tatsächlich historisch korrekt war.
       
       Vielleicht gibt es Leute, die Ihren Roman lesen und Lust bekommen, genau
       diese Periode genauer zu erforschen. 
       
       Ja, vielleicht! Das ist eine wirklich interessante Sache mit diesen Kindern
       von englisch-afrikanischen Paaren, die damals schon in England zur Schule
       gingen. Ich hatte vorher noch nie davon gehört. Ja, ich fände es toll, wenn
       jemand zum Beispiel dieses Interview lesen würde und denkt, hey, das ist
       doch ein interessantes Forschungsthema. Leider, oder zum Glück, bin ich
       keine Historikerin. Für mich wäre es aus vielen Gründen nicht die Art von
       Arbeit, die ich machen könnte; aber wenn jemand sich des Themas annähme:
       Das Buch würde ich sehr gern lesen!
       
       21 Nov 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Katharina Granzin
       
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