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       # taz.de -- Gysis Memoiren „Ein Leben ist zu wenig“: Herzerfrischend eitel
       
       > Wende, Opposition, Stasi, Schießbefehl: Gregor Gysi erinnert sich in „Ein
       > Leben ist zu wenig“ an sein Wirken – unterhaltsam und meistens ehrlich.
       
   IMG Bild: Selbstbewusst und witzig: Gregor Gysi
       
       Wissen Sie, was Gregor Gysi, dieser kleinste unter Deutschlands Großen,
       eigentlich vor dem Mauerfall genau gemacht hat? Also bevor er zum Politstar
       in allerlei immer wieder umbenannten Linksparteien und Talkshows wurde?
       
       „Ich muss es noch einmal schreiben“, feixt Gysi jetzt in seinen Memoiren
       über das Amt, das er bis 1989 inne hatte: „Vorsitzender des Rates der
       Vorsitzenden der Kollegien der Rechtsanwälte in der DDR. Klingt doch
       wunderbar, oder?“
       
       Typisch Gysi: Einer, der den Staat und seine eigene Rolle nie bierernst
       nimmt, der aber trotzdem immer vorne mitmischt, darüber selber Witze macht
       und gerade deshalb immer weiter vorne mitmischt. Auch sein Erinnerungsband
       „Ein Leben ist zu wenig“ dürfte sich gut verkaufen. Wie macht Gysi das nur?
       
       „Er verfügt über Selbstironie, was im politischen Geschäft normalerweise
       verpönt ist“, schrieb Gysis bislang einziger Biograf, der frühere taz- und
       heutige Stern-Redakteur Jens König, schon im Jahr 2005 über den
       allerletzten Vorsitzenden der SED und ersten Chef der gesamtdeutschen
       Partei Die Linke. Einige der Geschichten, die König damals recherchierte,
       findet man jetzt auch in Gysis Buch. Ob man diese Memoiren überhaupt noch
       lesen brauche, fragte deshalb neulich halb ernsthaft ein Kollege, über Gysi
       sei doch alles schon geschrieben worden.
       
       Nein, jedenfalls nicht so! Wie auch? Wie Gysi selbst kann das natürlich
       keiner sonst aufschreiben: mit dieser intensiv spürbaren Lust, das eigene
       Leben Revue passieren zu lassen, weil so vieles wichtig und richtig war.
       Mit dem großen Wunsch, zufrieden zurückzublicken.
       
       ## Andere zum Lachen gebracht
       
       Gysis Eitelkeit ist herzerfrischend, weil er sie nicht, wie viele andere
       Memoirenschreiber, zwischen den Zeilen versteckt, sondern offen einräumt
       und mit fast kindlicher Freude auslebt. Gleich am Anfang erzählt er von
       seinem Urgroßvater, über den ein Zeitgenosse schrieb, dass er geistig
       fraglos den Durchschnitt seiner Berufskollegen überragte: „Er war ein
       glänzender Gesellschafter, guter Redner und Erzähler.“ Gysis Kommentar: „An
       irgendwen erinnert er mich.“
       
       In gefühlt 50 von 50 Kapiteln erzählt Gysi, wie er andere zum Lachen
       brachte oder wegweisende Ideen hatte. Von den Protestdemos 1989 über die
       Hauptstadtentscheidung für Berlin bis zu Fidel Castros Umgang mit Devisen –
       oft lässt Gysi die eigene Rolle so einfließen, dass sie zumindest
       vorentscheidend wirkt.
       
       Diese Selbstdarstellung muss man nicht mögen, aber sie dient der
       Unterhaltung und nimmt dem Buch die Schwere. Wer die Attitüde albern
       findet, könnte entlastend gelten lassen, dass sie dem lange heftig
       Angegriffenen auch als Selbstschutz diente. Und dass bei aller Spielerei
       wohl niemand seinen Fleiß bestreitet.
       
       Ehrlich, aber eher traurig fällt hingegen so manche private Bilanz aus. Er
       habe seinen Kindern und Partnern zeitweise nur noch in Notfällen ernsthaft
       zugehört, schreibt Gysi: „Die Politik und die Öffentlichkeit waren meine
       wichtigsten Lebenspartnerinnen.“
       
       ## Gysis Unwohlsein mit der DDR
       
       In dieser Öffentlichkeit gab es vor allem ein Problem: die Stasi-Vorwürfe
       gegen ihn. Nun ja. Wer bisher glaubte, dass Gysi IM war, obwohl er alle
       entsprechenden Behauptungen juristisch abwehren konnte, den wird Gysi auch
       jetzt kaum überzeugen können. Er beschreibt anschaulich, wie er sich als
       parteitreuer Ministersohn und Anwalt, der Oppositionelle verteidigte, auf
       einem schmalen Grat bewegte. Aber ob er ihn jemals überschritt? Die
       Beweispflicht liegt nicht beim Memoirenschreiber.
       
       Gysis Unwohlsein mit der DDR meint man eher dann zu fühlen, wenn der sonst
       so vehemente Verfechter einer klaren Sprache über die „verhängnisvoll
       falsche Art der Grenzsicherung“ herumschwurbelt, statt den Schießbefehl
       Schießbefehl zu nennen. Vielleicht kann man nur so bei der Auffassung
       bleiben, dass die DDR „kein Unrechtsstaat“ gewesen sei.
       
       Gescheitert ist Gysi bisher mit seinem Versuch, die Linkspartei
       regierungswillig zu machen. Seine Plädoyers für praktische und gegen
       dogmatische Politik lesen sich auch als Kritik am Kurs der aktuellen
       Fraktionschefin Sahra Wagenknecht.
       
       Worauf Gysi aber zu Recht und ganz ohne Ironie besonders stolz ist: auf
       seinen Beitrag zum gewaltfreien Verlauf des Systemwechsels 1989/1990. Und
       darauf, weit über die Parteigrenzen hinaus „als Vertreter der Ostdeutschen
       akzeptiert“ zu werden. Wahrscheinlich weil Gysi meist so ist, wie wir alle
       immer gerne wären: selbstbewusst und witzig.
       
       31 Oct 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Lukas Wallraff
       
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