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       # taz.de -- Die Wahrheit: England hat die Zeit gestohlen
       
       > Bis 2016 hatte in Irland die Dublin Mean Time gegolten, und die hinkte 25
       > Minuten und 21 Sekunden hinter der Greenwich Mean Time her.
       
   IMG Bild: „Put your hands on the wheel, let the golden age begin“: Frances Fitzgerald nach dem Rücktritt
       
       Irland war Englands erste Kolonie und wurde über die Jahrhunderte gnadenlos
       ausgeplündert. Dass die Engländer den Iren aber auch die Zeit gestohlen
       haben, ist weniger bekannt. Jedes Mal, wenn – wie gestern – die Uhren
       umgestellt werden, kommt die Erinnerung hoch.
       
       Wenige Monate nach dem Osteraufstand 1916 beschloss das Unterhaus in
       London, die Greenwich Mean Time in Irland einzuführen. Bis dahin hatte dort
       die Dublin Mean Time gegolten, und die hinkte 25 Minuten und 21 Sekunden
       hinter der Greenwich Mean Time her. So wurden die Uhren am 1. Oktober 1916
       zu Beginn der Winterzeit in Großbritannien um eine Stunde zurückgestellt,
       in Irland jedoch nur um 34 Minuten und 39 Sekunden, um die Zeit auf beiden
       Inseln zu synchronisieren.
       
       Proteste von Bauern, Politikern, Gemeinderäten und Unternehmen blieben
       erfolglos. Die Gräfin Markievicz, die beim Osteraufstand eine führende
       Rolle gespielt hatte und nur wegen ihres Geschlechts nicht hingerichtet
       worden war, schrieb erbost an einen befreundeten Anwalt in London, dass die
       gestohlene Zeit nur der Anfang sei: „Die Engländer wollen uns auslöschen,
       so wie es Cromwell versucht hat.“
       
       Sie verurteilte die Pläne der Regierung, die Wehrpflicht in Irland
       einzuführen, und bezeichnete englische Soldaten als „Schlächter in Khaki“.
       Die Gräfin hoffte, dass Deutschland den Weltkrieg gewinnen würde. Ein Jahr
       später wurde Markievicz als erste Frau ins Londoner Unterhaus gewählt, nahm
       den Sitz aber nicht ein, weil sie die englische Herrschaft über Irland
       ablehnte.
       
       Früher, vor Einführung der Greenwich Mean Time, wurde die Zeit auf beiden
       Inseln durch den Sonnenaufgang bestimmt. Aber wegen der Eisenbahn sollte
       eine Standardzeit eingeführt werden, weil man andernfalls keine Fahrpläne
       aufstellen konnte. Eine lächerliche Ausrede. Auch im 21. Jahrhundert sind
       die Fahrpläne der privatisierten britischen Eisenbahn lediglich Fiktion. Es
       spielt dabei keine Rolle, ob man nach Greenwich, Dublin oder Honolulu Mean
       Time unpünktlich ist.
       
       Das Unterhaus beschloss 1880 in Unkenntnis des maroden Zustands der Bahn
       rund 130 Jahre später, die Greenwich Mean Time für Großbritannien
       einzuführen. In Irland, wo die Sonne ein bisschen später als in Greenwich
       aufging, blieb es bis 1916 bei der Dublin Mean Time.
       
       Es ist an der Zeit, sich die gestohlene Zeit zurückzuholen, wie Nordkorea.
       Vor zwei Jahren hat die Regierung in Pjöngjang die Korean Mean Time wieder
       eingeführt, die von den japanischen Besatzern vor dem Zweiten Weltkrieg
       abgeschafft worden war. Die Nordkoreaner stellten die Uhren 2015 eine halbe
       Stunde zurück.
       
       Okay, Irland ist nicht Nordkorea und unser Taoiseach Leo Varadkar hat einen
       besseren Haarschnitt als Kim Jong Un. Aber dennoch hätte die Dublin Mean
       Time einen Vorteil. Man wäre ein Stück weiter weg von Großbritannien, wo
       nach dem Brexit ohnehin eine eigene Zeitrechnung beginnen wird. Und 101
       Jahre sind ja auch genug.
       
       30 Oct 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ralf Sotscheck
       
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