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       # taz.de -- Conchita Wurst über das Unglücklichsein: „Ich habe nichts gefühlt“
       
       > Conchita Wurst hat aufregende Jahre hinter sich und seit ihrem Sieg beim
       > Eurovision Song Contest 2014 vor allem funktioniert. Heute geht es ihr
       > besser.
       
   IMG Bild: Ohne Perücke wird man sie so schnell nicht sehen: Conchita Wurst
       
       taz: Mit wem spreche ich: mit Conchita Wurst oder Tom Neuwirth? 
       
       Conchita Wurst: Ich glaube, ich war noch nie wirklich Conchita … In
       Wahrheit habe ich mir so viele Regeln auferlegt, um genau dem Konzept von
       Conchita zu entsprechen. Ich bin Kompromisse eingegangen, die ich nicht
       mehr eingehen würde.
       
       Ein Beispiel, bitte? 
       
       Das erste Album. Diese Songs habe ich on the road abgesegnet oder eben
       nicht. Und eingesungen, wenn es gepasst hat. Nicht falsch verstehen: Da
       sind echt gute Songs drauf. Einige davon wären sicher ein Hit geworden,
       hätte ich sie nicht gesungen. Unterm Strich ist das eigentlich nicht mein
       Album.
       
       Alles Lüge? 
       
       Nein, auf keinen Fall. Aber wahrscheinlich dachte ich mir damals, ich muss
       noch perfekter sein als alle anderen. Ich habe eh schon Perücke und Bart
       und werde schnell mal nicht ernst genommen. Deswegen muss ich noch mehr
       aufs Gaspedal treten und tun, was man von mir erwartet. Das macht einen
       aber nicht glücklich.
       
       „Rise Like A Phoenix“ war doch aber nicht fragwürdig?
       
       Nein, ich singe es ja bis heute. Vermutlich bisher eine Million Mal. Es ist
       nicht so, dass es mich von Anfang an, wenn die ersten Töne einsetzen, immer
       catcht. Aber irgendwann hat es mich einfach immer. Es auszuwählen war so
       eine Bauchentscheidung. Aber nach dem Sieg in Kopenhagen habe ich mich ein
       Stück verloren, weil ich es auch zugelassen habe.
       
       Was hätten Sie denn gerne anders gemacht? 
       
       Gar nichts!
       
       Klingt paradox. Ein Jahr nach dem Eurovisionssieg, als der ORF Gastgeber
       des ESC in Wien war, hatten Sie alles ziemlich satt? 
       
       Ich weiß nicht, ob ich mir das damals schon eingestanden hätte. Da war ich
       auch noch in einem Fluss von Terminen. Ich hatte keine Zeit, darüber
       nachzudenken. Rückblickend kann ich nicht sagen, ob mir das Spaß gemacht
       hat oder nicht, weil ich nichts gefühlt habe.
       
       Sie haben funktioniert wie ein großes Rädchen in einer großen Maschine? 
       
       Genau. Wenn du in Sydney in der Oper stehst und Standingovations weder
       siehst noch hörst, sondern nur darüber nachdenkst, was die nächste
       Moderation ist, dann ist das nicht so toll.
       
       Können Sie den Moment umkreisen, an dem Sie gesagt haben: So geht es nicht
       weiter. 
       
       Als ich mir nach Monaten eingestanden habe, dass es nicht normal ist, wenn
       man in der Früh aufsteht und grundlos unglücklich ist. Ich hatte eine
       Phase, in der ich nur dachte: Was ist los mit mir? Ich habe am Flughafen
       gesessen und nur auf meine Hände gestarrt. Wenn das Scheinwerferlicht an
       war, war ich. Da dachte ich, du schaffst das alleine nicht, such dir Hilfe.
       Das habe ich getan, bin in Therapie gegangen und bin froh, dass das so viel
       bewegt hat in mir.
       
       Die entscheidende Erkenntnis war? 
       
       Dass ich mich immer auch ein bisschen für mich geschämt und mir gedacht
       habe, ich müsse bescheiden sein. Viele haben dieses Leben nicht, das ich
       führe. Ich hab als Kind schon gewusst, dass ich auf die Bühne muss. Das ist
       das Einzige, was ich kann.
       
       Sie treten nun unter anderem in Hamburg auf. Was unterscheidet diese
       Performances von solchen, die wir aus der Zeit nach Kopenhagen kennen? 
       
       Ich werde es genießen. Und dass ich meine Band bekommen habe. Ich kannte
       das nicht, dass das ja auch ein Team ist. Dass man sich auch als Person
       kennt und dass es dann unheimlich viel Spaß macht.
       
       Wie war es vorher? Playback? 
       
       Playback oder Bands, die ich vorher nicht kannte, mit denen ich nur für
       einen Abend gespielt habe. Orchester-Formationen, die ich einen Tag vorher
       kennengelernt habe. Jetzt gehe ich in Proben auch ganz anders rein. Ich
       stelle mich vor, sage, wie ich mich fühle. Die Freude am Prozess gehört für
       mich nun dazu.
       
       Sie werden bei den Konzerten aber schon noch „Rise Like A Phoenix“ singen? 
       
       Natürlich! Dieses Lied werde ich immer singen! Wie könnte ich denn nicht.
       
       Haben Sie mal den Gedanken an sich herangelassen, dass der ESC-Sieg 2014
       der Zenit Ihrer Karriere gewesen sein könnte? Dass es so rasant wie nach
       dem Abend von Kopenhagen nicht immer weitergehen wird? 
       
       Momentan hätte ich kein Problem damit, wenn es in diesem Tempo wie jetzt
       weitergeht. Es geht mir gut, ich habe keine Sorgen, mache das, was mir Spaß
       macht. Das ist toll. Ich bin schon drauf gekommen, dass Berühmtsein nicht
       nur lustig ist. Ich weiß schon, dass ich immer auf einer Bühne sein und in
       diesem Genre arbeiten muss, denn wie gesagt ist das das Einzige, was ich
       kann. Ich denke aber, ich habe kein Problem damit, wenn es doch nicht die
       Weltkarriere wird. Ich bin mir nicht sicher, ob mir das in letzter Instanz
       gut tut und Spaß macht.
       
       In Österreich haben wir eine politische Situation, die sich nicht sehr
       libertär ausnimmt. Eine schwarz-blaue Koalition wird wahrscheinlich
       gebildet werden. Stimmt es eigentlich, dass Ihnen die österreichischen
       Nationalen übel nehmen, dass Sie und nicht Andreas Gabalier die Eurovision
       gewonnen hat? 
       
       Ich bin davon überzeugt! Und das erfüllt mich ja noch mehr mit Freude. Ich
       finde es sehr amüsant, dass sie, die Menschen wie mich nicht mögen, mit mir
       leben müssen bis in alle Ewigkeit.
       
       Hatten Sie damals von Konservativen und Nationalen Glückwünsche bekommen? 
       
       Nein. Herr Strache (Spitzenpolitiker der rechtspopulistischen FPÖ, d. Red.)
       sagte nur: Ich gratuliere dem Künstler Tom Neuwirth zum Sieg.
       
       Viele Künstler scheuen ja politische Bekenntnisse. Sie glauben, dass sie
       damit ihre Kundschaft verprellen. 
       
       Meine Kundschaft kann ich nicht verprellen, weil ich so eindeutig in eine
       Richtung gehe. Ich würde nicht eine ultrakonservative Partei wählen. Das
       wäre ja auch dumm. Würde Andreas Gabalier dieses Image vertreten: Ich wähle
       die Grünen – das wäre ja auch absurd.
       
       Ist es denkbar, dass Sie ganz ohne Perücke auftreten? 
       
       Ich weiß es nicht. Es wäre gelogen zu sagen, es würde mich nicht reizen.
       Ich genieße es aber immer noch sehr, nicht erkannt zu werden. Ich weiß noch
       nicht, wie ich das lösen werde.
       
       Könnten Sie sich eine Performance vorstellen, bei der Sie auf der Bühne
       Ihre Perücke vom Kopf nehmen? 
       
       Das haben schon so viele getan. Jede Drag-Revue endet mit „I Am What I Am“.
       Diesen Gag kann man in den heutigen Zeiten, mit all den Handykameras, nur
       einmal machen, und dann ist es das gewesen. Ich glaube, wenn es eine
       Demaskierung oder ein Ende gibt, dann ist es die Kaiserin, die in ein Grab
       fällt. So in etwa.
       
       Andererseits werden Sie ja noch viele Jahre leben. 
       
       Absolut. Ich kann mir auch Dinge vorstellen, die nicht zwangsläufig auf
       einer Bühne stattfinden, die keine Perücke fordern.
       
       4 Nov 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jan Feddersen
       
       ## TAGS
       
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