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       # taz.de -- Michael Behn über den Wert der Kunst: „Kunst erneuert den Blick auf das Leben“
       
       > Der immaterielle Mehrwert von Kunst sie schwer zu messen, erzeuge aber im
       > besten Fall mehr Lebenskunst, sagt der dem Fluxus verpflichtete Künstler
       > und Galerist
       
   IMG Bild: Auktion alter Meister, 1994: Lord Hinlip (rechts) nimmt bei Christie’s in London die Gebote entgegen
       
       taz: Her Behn, mal abgesehen vom Finanziellen: Hat ein Kunstwerk einen Wert
       „an sich“? 
       
       Michael Behn: Ich glaube nicht. Ich denke, dass sich der Wert aus vielen
       Komponenten zusammensetzt, die zum Kunstwerk hinzukommen müssen.
       
       Welche? 
       
       Vorkenntnisse, Vorurteile, Bewertungen, eigene Erfahrungen,
       Weltanschauungen, eventuell sogar religiöse Motive. Auch spekulative Motive
       spielen in letzter Zeit eine immer größere Rolle. Über den 1970
       verstorbenen US-amerikanischen abstrakten Expressionisten Mark Rothko gibt
       es zum Beispiel eine schöne Begebenheit. Er beäugte Menschen, die in seinem
       Atelier seine großflächigen Farbfelder ansahen, sehr kritisch. Er erwartete
       eine fast religiöse Andacht von ihnen. Ich zitiere aus dem Bericht eines
       Zeitgenossen: „Es gab einen Strom von stillen Besuchern, von denen viele
       ihre Erfahrungen als angespannt beschrieben. Wenn sie das Werk
       betrachteten, heftete Rothko seinen Blick auf sie, als ob er denken würde,
       er wäre in der Lage, jeden Hinweis auf Anerkennung, Missfallen, Verwirrung
       oder gar Verachtung zu entschlüsseln. Ein Unschuldiger – er hatte das Werk
       nicht respektiert, wie Rothko sagte –, wurde sogar heftig hinausgeworfen.“
       
       Ganz schön hart. 
       
       Ja, und diese Art Kunstrezeption funktioniert meiner Erfahrung nach nicht.
       Der Wert eines Kunstwerks geht – abgesehen vom finanziellen Aspekt – über
       das Werk selbst hinaus. Oder, wie es der Künstler Robert Filliou einmal
       formulierte: „Art ist what makes life more interesting than art.“ Es ist
       die Kunst, die den Blick auf das Leben erneuert und letztlich zu einer
       verbesserten Lebensqualität, vielleicht sogar Lebenskunst führt. Darin
       besteht der eigentliche Mehrwert von Kunst.
       
       Aber was ist ein künstlerisches Konzept wert, das niemand begreift? 
       
       Wenn es keiner versteht, gar nichts. Es reicht auch nicht, wenn es nur der
       Künstler versteht. Es müssen vielmehr möglichst viele sein – und möglichst
       Einflussreiche. Multiplikatoren und Vermittler. Sonst funktioniert das
       nicht.
       
       Ist die Masse wirklich ein Kriterium? 
       
       Es ist ein demokratisches Kriterium. Es müssen aber natürlich fundierte
       Urteile sein. Ob ein normaler Besucher etwas gut findet, interessiert
       niemanden. Wenn es aber ein bedeutender Rezensent oder Ausstellungsmacher
       ist, erreicht er Tausende Leute. Er schafft Aufmerksamkeit und damit einen
       Wert.
       
       Und das finden Sie als Künstler und Galerist in Ordnung? 
       
       Erst mal muss ich konstatieren, dass es so ist. Der 1968 verstorbene
       Künstler-Forscher Marcel Duchamp zum Beispiel hat viel über solche Dinge
       nachgedacht, weil er ganz konkret erfuhr, wie sich Bewertungen abspielen.
       In Lexika aus den 1950er-, 60er-Jahren findet man fast nichts über ihn.
       Heute erscheint jeden Monat eine neue Publikation, und er gilt als einer
       der wichtigsten Künstler des 20. Jahrhunderts.
       
       Aber ist die Idee der bleibenden Bedeutung eines Künstlers noch zeitgemäß? 
       
       Tatsächlich würde ich Künstlern nahe legen, nicht auf den schnelllebigen
       Effekt zu setzen. Ich beobachte allerdings, dass die meisten seit 1960,
       1970 produzierten Werke nicht nachhaltig sind und schnell dem Vergessen
       anheim fallen werden.
       
       Woran liegt das? 
       
       Es gibt einfach zu viel. Die Zahl der Kunst-Events, der Messen, Biennalen,
       Gallery Weekends etc. hat sich vervielfacht und entsprechend die Kunst. Und
       während der Prozentsatz guter Kunst immer niedrig war, existieren heute
       weit mehr mittelmäßige Kunstwerke als früher.
       
       Und vergänglichere. Welchen Wert hat ein auf Verfall hin komponiertes Werk? 
       
       Wenn Werke so materialvergänglich sind, dass sie kaum rezipiert werden
       können, ist das natürlich ein Hindernis. Aber wenn sie einmal wahrgenommen
       und dokumentiert sind, besteht die Möglichkeit, dass man ihre Bedeutung
       hervorkehrt und sie restauriert. Viele Arbeiten des 1998 verstorbenen
       Intermedia-Künstlers Dieter Roth etwa sind auf Selbstzerstörung angelegt –
       durch Schimmel, Pilzkulturen und anderes. Für Sammler und Museumsleute war
       das heikel, und man hatte gedacht, da traut sich keiner ran. Inzwischen
       sind Roth-Werke aber ziemlich teuer, werden aufwendig restauriert bzw. in
       einem Zustand erhalten, in dem sie sich möglichst nicht mehr verändern.
       
       Eigentlich müsste ein vergängliches Werk teurer sein, weil man das
       begrenzte Zeitfenster mitkauft. 
       
       Eigentlich schon. Aber bei Dieter Roth ist das nicht der Fall. Seine Werke
       sind erst kurz vor seinem Tod teuer geworden – und danach.
       
       Wie wichtig ist der Original-Begriff heute noch? 
       
       Sehr wichtig. Solange ein Werk als „Rembrandt“ gilt, ist es extrem teuer.
       Bemerkt man, es ist kein Rembrandt, sinkt sein Wert auf einen Bruchteil.
       Das ist sicher ungerecht, aber man muss unterscheiden. Da ist einmal der
       Kunstmarkt. Der ist konservativ und legt Wert auf solche Dinge, denn daran
       verdient er. Dann gibt es die Kunstwissenschaft. Auch sie legt Wert auf
       Originalität. Auf das Erstmalsmachen, das den Wert auch in der
       Kunstgeschichte bestimmt.
       
       Die Appropriation-Art arbeitet allerdings gezielt mit der Kopie. 
       
       Ja. Die 2014 verstorbene amerikanische Künstlerin Elaine Sturtevant zum
       Beispiel kopierte Werke des Pop-Art-Künstlers Andy Warhol. Sie hat den
       Zwang, originell sein zu müssen, infrage gestellt und ein bedeutendes
       Statement für andere Künstler gesetzt, die heute ähnlich arbeiten.
       
       Schätzt der Kunstmarkt diese Strömung? 
       
       Anfangs war das nicht der Fall. Aber es gibt immer findige Kunsthändler,
       die in so etwas einen neuen Wert sehen und es verkaufen können. Die
       Arbeiten von Elaine Sturtevant sind inzwischen recht teuer. Allerdings
       lange nicht so teuer wie ein echter Warhol.
       
       Den kaufen dann oft Privatsammler. Geht Kunst – früher an Fürstenhöfen
       ausgestellt – zurück in die Refugien der Wohlhabenden? 
       
       Ja, sie geht ins Private. Andererseits streben Groß-Privatsammler meist
       danach, ihre Schätze der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Es gibt ja
       inzwischen eine Fülle von Privatmuseen. Oder sie übergeben ihre Sammlung an
       bestehende Kunstmuseen – mit der Auflage, die Werke auch zu zeigen.
       
       Trotzdem besteht die Sorge, dass Kunst in Privatsammlungen auch außerhalb
       Europas verschwinden könnte. 
       
       Sie denken an das neue Kulturgutschutzgesetz, das die Ausfuhr nationaler
       Kulturgüter beschränkt. Das muss man in der Tat regeln: Wenn Manuskripte
       von Bach oder Beethoven nach China wandern, habe ich das Gefühl, das sollte
       man besser hierbehalten. Und chinesische Aquarelle aus der Tang-Dynastie
       sollten in China bleiben. Andererseits: Solange diese Dinge öffentlich
       zugänglich bleiben, ist das Risiko des „Verschwindens“ klein.
       
       Steigt der Geldwert eines Werks, je seltener ich es zeige? Je länger ich es
       dem Markt fernhalte, desto teurer kann ich es wieder verkaufen? 
       
       Riskant. Wenn Sie es zu lange fernhalten, wird es vielleicht vergessen und
       verkauft sich gar nicht mehr. Allerdings wird Gegenwartskunst vom
       Kunstmarkt ohnehin grandios überschätzt.
       
       Frei nach dem Motto: Nur was aktuell und jung ist, taugt etwas? 
       
       Ja. Und die Künstler leben ja meist noch und können das mitsteuern. Der
       1965 geborene Brite Damien Hirst hat demonstriert, was passiert, wenn man
       Werke wirklich teuer macht und eine Art Aktienhandel eröffnet.
       
       Wobei ein diamantbesetzter Hirst-Totenschädel schon vom Materialwert her
       teuer ist. 
       
       Ja. Dann addiert man, was ein Hirst generell kostet – und den
       Sensationswert obendrauf. Da kommt man auf viele Millionen.
       
       Heißt das, auf Auktionen gewinnen nicht immer die besten Werke, sondern die
       spektakulärsten? 
       
       Das kann man schwer verallgemeinern. Es passiert allerdings immer wieder,
       dass ein beträchtlicher Teil der auf Auktionen angebotenen Werke nicht
       verkauft wird. Das liegt nicht unbedingt an der Qualität. Der Kunstmarkt
       ist vielmehr so unberechenbar wie die Börse. Wenn Sie einen Gerhard Richter
       für fünf Millionen kaufen, ist nicht garantiert, dass Sie ihn nächstes Jahr
       für denselben Preis verkaufen können.
       
       Welche Rolle spielen eigentlich die Kenner und Liebhaber im Kunstmarkt? 
       
       Die haben meist nicht so viel Geld, sind aber oft die besseren Sammler.
       Wenn man zu viel Geld hat, ist man ein eher schlechter Sammler. Dann kauft
       man Dinge, die eigentlich zu teuer sind, man kauft nicht unbedingt die
       originellsten, frühesten, interessantesten Werke. Dafür haben eher die
       Liebhaber einen Blick. Das sind die wichtigen Leute, die die Kunst
       vorantreiben.
       
       Wie machen sie das? 
       
       Sie bemerken Dinge, die übersehen wurden, etwa bei
       Auktions-Vorbesichtigungen. Sie tun ihre Wertschätzung kund und treiben den
       Preis dadurch hoch, dass andere sie dabei beobachten.
       
       7 Nov 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Petra Schellen
       
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   DIR Kunst
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