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       # taz.de -- Kolumne Gott und die Welt: Der Untergang der toten Omas
       
       > Das Grützwurstgericht „Tote Oma“ gab es nur in der DDR. Es zeugt von
       > einer kannibalischen Kultur, die zum Glück mit der DDR verschwunden ist.
       
   IMG Bild: Keine Angst: Hier wird nur die Olma-Wurst zubereitet. Omas gehören nicht zu den Zutaten
       
       In der Süddeutschen Zeitung vom 3. November kritisiert Jens Schneider den
       pathologisierenden Umgang westdeutscher Beobachter mit den Bewohnern der
       ehemaligen DDR: „Was ist bloß falsch mit denen …“ Nun, das ist jetzt leicht
       zu beantworten, denn: Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dass nicht
       nur der mauer- und stacheldrahtbewehrte Staat der DDR, sondern auch und
       gerade ihre jetzt wieder so gefeierte Alltagskultur zu Recht untergegangen
       und von der Erdoberfläche verschwunden sind, hier ist er: Vor Kurzem ging
       in dem Taunusstädtchen Bad Soden, einem kleinen Kurort in der Nähe der
       Messestadt Frankfurt/Main, eine Ausstellung der Frankfurter Künstlerin und
       Filmemacherin Martina Elbert zu Ende.
       
       Unter dem Titel „Seismogramme“ war in der Sodener Kunstwerkstatt e. V.
       unter anderem ein Objekt zu sehen, das den Namen „Mauerreste“ trug und aus
       fünf übereinandergestapelten Konservendosen bestand, die je 800 Gramm eines
       Blut- beziehungsweise Grützwurstgerichts enthielten. Will man dies Gericht
       selbst herstellen, möge man folgender Anweisung folgen:
       
       „1. Von der Wurst die Pelle abziehen und grob kleinschneiden. Den Speck
       fein würfeln. Die Zwiebeln schälen und ebenfalls fein würfeln. 2. Den Speck
       und die Zwiebeln in einem Topf kurz andünsten, dann mit Brühe ablöschen.
       Die Wurst in die Brühe geben und bei milder Hitze köcheln lassen, bis sie
       ganz zerfallen und ein dicker Brei entstanden ist. 3. Alles kräftig mit den
       Gewürzen abschmecken und gegebenenfalls mit Semmelbröseln etwas andicken.
       4. Dazu passen Kartoffeln und Sauerkraut oder auch Kartoffelbrei und
       Apfelmus.“
       
       So weit, so deftig, aber: Erst die von Elbert ausgestellten Konserven
       eröffnen die ganze Wahrheit über dieses Nahrungsmittel: Auf der Konserve
       ist – unter dem schwarz-rot-golden gerahmten Staatswappen der DDR, Hammer
       und Sichel – eine rüstige, bebrillte, verschmitzt dreinschauende alte Frau
       im Gewand einer Köchin zu sehen, die dem Betrachter einen Topf
       entgegenhält. Der Name des so bebilderten Konservengerichts aber lautet
       erstaunlicherweise – immerhin in Anführungszeichen – „Tote Oma“.
       
       ## Ein Gericht wie ein Verkehrsunfall
       
       Kulinarhistoriker mögen sich den Kopf zerbrechen, wann ein Gericht unter
       diesem Namen erstmals urkundlich erwähnt wird. Eine einschlägige Website
       zur Küche der DDR – „Munchies“ – bemerkt dazu Folgendes: „Von Humor zeugt
       auch folgendes Gericht aus Blutwurst, Kartoffelpüree und Sauerkraut: Da es
       nicht unbedingt appetitlich aussieht, nannte man dieses Grützfleisch auch
       Tote Oma oder Verkehrsunfall.“
       
       Auf einer anderen Website, auf „netmoms“, antwortet „MsMel“ auf die Frage,
       warum dies Gericht diesen Namen trägt, so: „Die Tote Oma heißt Tote Oma,
       weil die Blutwurst in der Pfanne beim Braten ja aufplatzt und damit nicht
       sehr appetitlich ausschaut und da hat damals bestimmt so ’n neugieriger
       Bengel gefragt, was das da inne Pfanne ist, und da hat Mama geantwortet:
       Das ist die Tote Oma.“
       
       Somit liebte man in der DDR – womöglich kontraphobisch – das Ekelhafte.
       „Als ekelhaft“, so der noch immer zu wenig gewürdigte Philosoph Aurel
       Kolnai, „wird immer ein Ding empfunden, das nicht für voll genommen, nicht
       für wichtig gehalten wird: etwas, das man weder vernichtet noch flieht,
       sondern hinwegräumt.“
       
       Angesichts dessen hilft nichts – nun muss schwerstes theoretisches Geschütz
       herangeführt werden: Wir werden bei der Analyse dieser Vorliebe einer
       nachnationalsozialistischen Gesellschaft an der Lust am Kannibalischen
       nicht vorbeikommen, ebenso wenig wie an dem in den fünfziger Jahren von
       ehemaligen FDJ-Mitgliedern geförderten Jugendwahn. Bildet doch eine andere
       Konserve derselben Produktreihe, nämlich „Schulküchentomatensoße“, ein
       etwa zwölfjähriges Mädchen mit weißem Hemd und blauem FDJ-Halstuch ab, das
       mit soßenverschmiertem Mund fröhlich in die Welt schaut.
       
       Jedenfalls: Nicht die Oma ist tot, sondern die DDR. Und: Das ist gut so!
       Zum (intellektuellen) Verzehr eignet sie sich wahrlich nicht – ebenso wenig
       wie die Oma.
       
       6 Nov 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Micha Brumlik
       
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