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       # taz.de -- Milo Rau an der Berliner Schaubühne: Ist das jetzt Theater?
       
       > Regisseur Milo Rau berief seine Generalversammlung der
       > Nichtrepräsentierten dieser Welt in die Schaubühne ein. Ein spannendes
       > Experiment.
       
   IMG Bild: Bühne oder Politik? Eröffnungssitzung der „General Assembly“ am 3. November
       
       Es war ein kurzer Moment des Streits in der Schaubühne am Lehniner Platz in
       Berlin, in dem wie in einem Brennglas alles zusammenkam, was die von
       [1][Milo Rau] und seinem „International Institute of Political Murder“
       einberufene Generalversammlung der Nichtrepräsentierten dieser Welt
       ausmachte. Es war Sonntagmittag, High Noon sozusagen, und es ging um den
       Ausschluss oder Nichtausschluss eines türkischen Abgeordneten, der im
       Streit über die Gräuel, die die Türkei in den Jahren 1915/16, also während
       des Ersten Weltkriegs, an den Armeniern begangen hatte.
       
       Während die meisten Historiker die Verfolgung und Tötung von um die eine
       Million Armeniern durch Massaker und Todesmärsche als einen der ersten
       systematischen Genozide des 20. Jahrhunderts anerkennen, wehrt sich die
       offizielle türkische Politik bis heute heftig gegen die Einordnung der
       Verbrechen gegen die Armenier als Völkermord.
       
       Tugrul Selmanoglu, so hieß der türkische Abgeordnete der
       Generalversammlung, hatte unmissverständlich die Position der aktuellen
       türkischen Regierungspartei, der AKP, vorgetragen, als deren Vertreter er
       auch vorgestellt worden war. Diese Sicht bestreitet entschieden, dass es
       sich bei den Vernichtungsaktionen gegen die Armenier, die niemand
       bestreiten kann, weil sie sehr gut dokumentiert sind, um einen Völkermord
       handelt.
       
       Im Gegenteil: In der Darstellung Selmanoglus wurden die Aktionen der Türken
       gegen die Armenier zu Verteidigungstaten gegen vorangegangene Untaten der
       Armenier gegen die Türken. Selmanoglu blieb dabei nicht stehen, er verband
       seine Statements mit der Frage, warum man sich hier überhaupt mit den
       Völkermorden der Vergangenheit beschäftigt, anstatt die Völkermorde der
       Gegenwart zu untersuchen.
       
       Nach seiner Rede, die er merkwürdig ungestört halten konnte, gab es
       deutliche Proteste. Ein kurdischer Abgeordneter empfahl dem Redner,
       sichtlich und hörbar mitgenommen, sich zu schämen, und andere forderten den
       Ausschluss Selmanoglus, der darauf die Bühne verließ.
       
       ## AKP-Redner auf der Bühne
       
       Im Laufe des Streits, in dem es auch darum ging, ob es demokratisch sei,
       eine unbeliebte Position auszuschließen oder eben nicht, war einer der
       Abgeordneten aufgestanden und hatte in die Versammlung und ins Publikum
       gerufen: „Wir machen doch hier Theater.“ Worauf ein anderer sehr ernst und
       klar feststellte, dass das hier für viele Teilnehmer kein Theater sei. Und
       das war einer der vielen schönen Momente dieser drei Tage in der
       Schaubühne. Denn entscheiden ließ sich die Frage, ob das hier Theater war
       oder nicht, tatsächlich nicht.
       
       Eindeutig Theater war nur der Raum, die Schaubühne in Berlin. Schon das
       Publikum war nicht mehr so eindeutig Theater, dazu war es viel zu jung, zu
       weiblich und zu wenig territorial. Niemand im Publikum trat auf, als hätten
       er oder sie ein Erbpachtrecht auf Anwesenheit, das einen mit dem
       ausschließenden Musterblick ausstattet, der den Fremden oder Laien zu
       identifizieren erlaubt.
       
       Und auch der Regisseur war nicht Peter Stein, Frank Castorf oder Claus
       Peymann, als er, komplett unsouverän und verunsichert, während des Streits
       auf die Bühne trat und sich dafür entschuldigte, einen Genozidleugner
       eingeladen zu haben. Ein Akt, der Rau dann auch gleich um die Ohren gehauen
       wurde, als ihm einer der Abgeordneten versicherte, dass er Rau und die
       Organisatoren bereits Wochen vor der Veranstaltung darauf hingewiesen habe,
       was für einen Typen sie sich da eingeladen hätten, nämlich einen
       AKP-Lobbyisten, wenn nicht sogar Propagandisten.
       
       Transparenz war für diesen Moment ein viel zu abgelutschtes Wort, denn sehr
       wahrscheinlich gibt es solche Vorwarnungen oder Anzeigen vor jedem
       Kongress, sei er wissenschaftlich, künstlerisch oder politisch. Hier wurde
       es zum Thema, und das ohne Regieanweisung.
       
       Wie man überhaupt über diesen Sonntagnachmittag zwei Worte schreiben
       konnte, die selten zusammen auftreten, nämlich Höflichkeit und Negation. So
       hatte im Vorlauf zum Streit der aus Tansania stammende Aktivist Mnyaka
       Surunu Mboro auf die mehr als 8.000 Schädel hingewiesen, die in den Depots
       der Stiftung preußischer Kulturbesitz lagern und die mehrheitlich aus
       Afrika widerrechtlich zu sogenannten Rasseforschungen nach Deutschland
       gebracht worden waren.
       
       ## Lenin und Science-Fiction
       
       Bei den während der deutschen Kolonialbesetzung von 1905 bis 1917 aus
       Tansania entwendeten Schädeln handelte es sich häufig um
       Widerstandskämpfer, die man erhängt oder sonst wie getötet hatte. Ihre
       Schädel hatte man dann nach Deutschland geschickt und die Gebeine kopflos
       verscharrt. Mboro forderte deshalb vollkommen zu Recht die Köpfe zurück, er
       drang aber auch auf eine zu erledigende Provenienzforschung.
       
       Die Frage, warum das noch nicht längst geschehen sei, beantwortete Mboro
       dann mit dem knappen Hinweis, dass dafür in Berlin das Geld wohl fehle,
       während sie es für den Bau eines Schlosses allerdings schon hätten. Das war
       einer der vielen Berührungspunkte mit der Wirklichkeit beziehungsweise dem
       Realen, die in diesen drei Tagen nicht nur globale, sondern auch alle
       möglichen lokalen Realitäten aufscheinen ließen, ohne sie in Metaphern oder
       klassischen Redewendungen zu verkleiden.
       
       Die Direktheit der Ansprache, vorgetragen im Ton sicherer Höflichkeit,
       machte den Anspruch der Generalversammlung zu einem eher zweitrangigen
       Aspekt. Nach dem Vorbild der Generalversammlung des dritten Standes von
       1789, die als Beginn der Französischen Revolution bekannt ist, sollten hier
       60 Abgeordnete aus allen Kontinenten so etwas wie ein Weltparlament bilden,
       das eine zukünftige Weltregierung durch Reden, Gegenreden, Satzungen und
       Manifestationen erprobte. Dabei war es Rau wichtig, in seiner
       Eröffnungsrede darauf hinzuweisen, dass hier eine Trennung von Gegenwart
       und Zukunft in gewisser Weise als inexistent gelten sollte.
       
       Zukünftige Formen des Zusammenlebens und Zusammenregierens sollten nicht in
       die Ferne der Science-Fiction verlegt werden, wie es die Leninisten bis
       heute tun, sondern gegenwärtig aus ihrem Larvenstadium in die Erprobung
       überführt werden. Rau hat dabei bewusst auf jede Form von Schocktheater
       verzichtet, für das er nicht nur durch seine Stücke über den Völkermord in
       Ruanda und die Korruption im Kongo als Spezialist gelten kann.
       
       ## Ewiger Wahlkampfmodus
       
       Die Form des Parlaments, mit begrenzten Redezeiten, einem kontrollierenden
       Vorstand und den Abgeordneten in den ersten Reihen des Theaters erwies sich
       als genauso gut gewählt wie die Einladung von durchaus in der
       Repräsentationsmaschine der Staatsapparate erprobten Gästen wie dem
       AKP-Mann oder der Vorsitzenden der Partei Die Linke, Katja Kipping.
       
       Im Parlament der normalerweise Nichtrepräsentierten, wie dem Abgesandten
       der Maulwürfe, fiel Kipping vor allem durch ihre durchtrainierte
       Professionalität in Körperpräsenz und Rede auf. Wahrscheinlich ist das ihr
       Seinsmodus und wahrscheinlich würde sie auch in einem privaten
       Geburtstagsständchen in diesen ewigen Wahlkampfmodus verfallen.
       
       Warum es auch so schwer ist, aus Parlamentsreden und -gesten gute Kunst zu
       machen, es sei denn, man holt sie direkt in den Kunstrahmen, wie Milo Rau
       es getan hat. Es war schon wunderbar, Kipping vor und nach ihrer Rede in
       diesem körperlich angespannten Präsenzmodus der eifrigen Aufmerksamkeit zu
       beobachten. Mit jeder Zelle das Gegenteil von Oskar Lafontaine und Winston
       Churchill.
       
       6 Nov 2017
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Serie-Wie-weiter-Germans-11/!5458611
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Cord Riechelmann
       
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