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       # taz.de -- Folgen der Demonetarisierung in Indien: Wenn der Schein trügt
       
       > Vor einem Jahr wurden in Indien über Nacht mehr als drei Viertel des
       > Bargelds entwertet. Die Folge: Jobverlust, Korruption und Tod.
       
   IMG Bild: Die Reform traf vor allem den informellen Sektor: Hausangestellte, Tagelöhner, Klein- und Kleinsthändler
       
       Delhi taz | „Ich hatte im Fernsehen davon erfahren“, sagt Sajid (29), der
       einen kleinen Friseurladen in einem Vorort Delhis betreibt. In der Nacht
       zum 9. November 2016 wurden in Indien über drei Viertel des Bargelds
       entwertet. Das hatte Premierminister Narendra Modi wenige Stunden zuvor
       verkündet. Damit wurden die bisher größten Banknoten (500 und 1.000 Rupien)
       im Wert von 6,65 und 13,30 Euro für ungültig erklärt. Angeblich zur
       Bekämpfung von „Terrorismus, Korruption und Schwarzgeld aus dem Ausland“.
       
       Später hieß es: um die Bevölkerung an das digitale Bankensystem
       anzuschließen. Dabei ist nicht alles Bargeld per se Schwarzgeld. Viele
       Inder hatten Ersparnisse in Scheinen aufbewahrt, um etwa Geld für einen
       Arztbesuch zu haben oder weil sie zu den 165 Millionen gehören, die gar
       kein Bankkonto besitzen.
       
       „Ich respektiere meinen Premierminister“, sagt Sajid. Doch die Reform sei
       ein Fehler gewesen. Entwertete Scheine hatte er anfangs angenommen und
       versuchte sie später zu tauschen. Doch musste er die Hälfte seiner
       Angestellten entlassen. „Die Demonetarisierung traf die Ärmsten der Armen“,
       sagt der Ökonom Ashish Kulkarni.
       
       Sie sei seiner Meinung nach auch der Grund für die Verlangsamung des
       indischen Wirtschaftswachstums auf ein Dreijahrestief von 7,9 auf 5,7
       Prozent. Doch nicht nur hier gab es Einschnitte. Nach Medienberichten
       starben mehr als einhundert Menschen in direkter Folge der Reform: Von
       Herzinfarkten, körperlichen Zusammenbrüchen in Warteschlangen und Suiziden
       ist zu lesen. Nach Schätzung des in Mumbai ansässigen Centre for Monitoring
       Indian Economy (CMIE) haben 1,5 Millionen Menschen in Folge der
       Demonetarisierung ihre Jobs verloren.
       
       Doch von ihnen haben die wenigsten laut protestiert, als sie keine
       Lebensmittel mehr kaufen und weder bezahlt wurden noch zahlen konnten. Sie
       akzeptierten das als „Opfer“ für das Land. Gegner der Reform wären negativ
       aufgefallen. Denn wer könnte etwas gegen eine Anti-Korruptions-Maßnahme
       einwenden? Wohl nur wer etwas zu verbergen hat.
       
       ## Kleinbauern fehlte Bargeld für Saatgut
       
       „Jeden Tag habe ich überlegt, ob ich mich an der Bank anstelle oder in
       meinen Laden gehe“, erzählt der Friseur. Nach acht Monaten hatte sich sein
       Geschäft mit geschrumpfter Belegschaft erholt. In dem Einkaufszentrum, in
       dem sein Laden ist, stehen heute die oberen Etagen leer. Auch die Lage von
       Kleinbauern wurde falsch eingeschätzt. Ihnen fehlte plötzlich Bargeld zum
       Kauf von Saatgut. Erst Ende November durften alte 500er-Scheine in Saatgut
       getauscht werden.
       
       Belastbare Zahlen zu finden ist schwer. Die Reform traf vor allem den
       informellen Sektor: Hausangestellte, Tagelöhner, Klein- und Kleinsthändler.
       Das sind 80 bis 90 Prozent aller Beschäftigten. „Ich kenne Leute aus
       Dörfern, die fünf Tage gereist sind, um ihre einzige 1.000-Rupien-Note
       umzutauschen. Aber sie konnten es nicht“, sagt die Journalistin Arfa
       Khanum.
       
       Die Congress-Partei, die bei den Wahlen 2014 große Verluste gegen Modies
       BJP erlitt, reagierte entsprechend. Der Abgeordnete Shashi Tharoor
       bezeichnete die Demonetariserung als „monumentalen Fehler“ wegen ihrer
       kurzfristigen Auswirkungen auf Wirtschaft und Bevölkerung. Auch die
       kommunistische CPI(M) ist kritisch. Generalsekretär Sitaram Yechury fragt
       nach den Verantwortlichen für die Toten und hinterfragt die Wirksamkeit der
       Schwarzgeldbekämpfung.
       
       Inzwischen macht Sajid und der Mittelschicht die neue Mehrwertsteuer zu
       schaffen, die am 1. Juli für Waren und Dienstleistungen eingeführt wurde.
       Sie wurde damit begründet, dass nur ein Bruchteil der Beschäftigten ihren
       Lohn versteuern. Doch die Mehrwertsteuer kommt zu einem ungünstigen
       Zeitpunkt. Ein Haarschnitt, der früher 150 kostete, liegt jetzt bei 200
       Rupien. Der Mindestlohn außerhalb der Landwirtschaft beträgt aber nur 350
       Rupien pro Tag.
       
       Trotz der negativen Auswirkungen der schlecht organisierten Bargeldreform
       konnte Modi seine Macht stärken, wie die Wahlergebnisse seiner BJP in Uttar
       Pradesh und Uttarakhand im März zeigten.
       
       Doch die Korruption einzudämmen gelang nicht. Ein Bericht der
       Journalistenplattform The Wire belegt, dass fast 99 Prozent der entwerteten
       Banknoten auf Umwegen eingetauscht wurden. „Es hat uns noch korrupter
       gemacht“, sagt die Journalistin Khanum. Denn jetzt könnten andere im Namen
       Armer Konten eröffnen und so Schwarzgeld waschen.
       
       8 Nov 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Natalie Mayroth
       
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