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       # taz.de -- Wissenschaftliche Begutachtung: Mut zur Lotterie
       
       > Der Wissenschaftsrat macht sich Gedanken über die Zukunft
       > wissenschaftlicher Gutachten. Er befürchtet Qualitäts- und
       > Akzeptanzverlust.
       
   IMG Bild: Immer mehr Fachzeitschriften drängen auf den Markt
       
       Berlin taz | „Die Klagen zum Zustand des Begutachtungswesens sind nicht zu
       überhören.“ Der Satz stammt von Martina Brockmeier, der neuen Vorsitzenden
       des [1][Wissenschaftsrats], der selbst eine wichtige Gutachterinstanz im
       deutschen Wissenschaftssystem ist. In dieser Woche hat das Gremium ein
       [2][Positionspapier (pdf-Datei)] mit teils ungewöhnlichen Empfehlungen
       vorgelegt, um dem schleichenden Qualitäts- und Akzeptanzverlust des
       wissenschaftlichen Expertenwesens vorzubeugen.
       
       Das Faktenwissen und die Bewertungen von Wissenschaftlern werden immer
       stärker in zwei Richtungen nachgefragt. Zum einen nach innen, dem
       Wissenschaftssystem selbst: Hier werden die Publikationen,
       wissenschaftliche Aufsätze mit neuen Forschungsergebnissen, vor der
       Veröffentlichung in Fachzeitschriften von anonym bleibenden Kollegen
       begutachtet – das sogenannte Peer-Review-Verfahren.
       
       Rund zwei Millionen Forschungsaufsätze erschienen 2015 weltweit, ihre Zahl
       steigt jährlich um acht Prozent. Hinzu kommt die Evaluierung von
       Wissenschaftseinrichtungen und die Entscheidung über Forschungsanträge, die
       immer häufiger in Wettbewerbsverfahren vergeben werden.
       
       Zum zweiten wird das Expertenwissen zunehmend von Politik, Wirtschaft und
       Gesellschaft bestellt. Gutachten sollen Entscheidungen vorbereiten, im
       politischen Lagerkampf mitunter auch verhindern. Allein die Bundesregierung
       hat in den letzten drei Jahren insgesamt 491 Gutachten in Auftrag gegeben
       und dafür 59,5 Millionen Euro bezahlt, wie aus einer im Sommer erstellten
       Übersicht des Bundesfinanzministeriums für den Haushaltsausschuss des
       Bundestags hervorging. Mit rasantem Zuwachs.
       
       Kamen die Bundesministerien im Jahr 2014 noch mit 91 wissenschaftlichen
       Gutachten aus, mussten es 2016 bereits 222 Studien sein. Als einen Grund
       für den Anstieg macht der Wissenschaftsrat den „erhöhten
       Rückversicherungsbedarf bei Entscheidungen“ aus.
       
       ## Die Belastung wächst
       
       Änderung ist geboten, zumal bei den Wissenschaftsgutachtern in Deutschland
       nach groben Schätzungen gut ein Drittel der Experten zwei Drittel der
       Expertisen anfertigen – für sie wächst die Belastung ständig.
       
       „Sollten dauerhaft mehr Begutachtungsaufgaben auf eine nicht entsprechend
       wachsende Zahl gutachtender Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler
       verteilt werden, lassen sich Kollateraleffekte nicht vermeiden“, hebt der
       Wissenschaftsrat warnend den Zeigefinger. „Die Gutachtenden können entweder
       immer weniger Zeit für andere Aufgaben aufwenden oder müssen mehr Gutachten
       in derselben Zeit erstellen, sodass das Risiko eines Qualitätsverlusts der
       Begutachtungsleistung wächst.“
       
       Die Empfehlungen des Wissenschaftsrates wollen einen Wandel anstoßen. „Mit
       einer Mischung aus behutsamen Veränderungen und mutigen Experimenten sollte
       es uns gelingen, das Begutachtungswesen krisenfest für die Zukunft zu
       machen“, sagt die Vorsitzende Martina Brockmeier.
       
       ## Mainstreaming in der Forschungsförderung
       
       So sollte mit „innovativen Auswahlverfahren“ – etwa mit Zufallsauswahl oder
       mithilfe eines Sondervotums, sogenannten Wild Cards – der Gefahr des
       „Mainstreamings“ in der Forschungsförderung begegnet werden.
       
       „Mainstream“-Gutachter lassen nur die herrschende Lehre gelten und geben
       neuen Forschungsansätzen keine Chance. Wenn mehr Forschungsanträge
       vorliegen als Gelder vorhanden sind, könnte – so der Wissenschaftsrat –
       „ein Teil der förderungswürdigen Anträge nach einer Zufallsauswahl
       gefördert werden“. Mut zur Lotterie.
       
       Der Berliner Wissenschaftsjournalist Jan-Martin Wiarda war in einer ersten
       Einschätzung des Papiers begeistert: „Losverfahren und Wild Cards – sage
       noch mal jemand, der Wissenschaftsrat traue sich nichts“, schrieb er in
       seinem Wissenschaftsblog. Spannend werde sein, „ob die Deutsche
       Forschungsgemeinschaft und andere öffentliche Förderorganisationen sich
       trauen werden, die Vorschläge aufzugreifen.“
       
       26 Oct 2017
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.wissenschaftsrat.de/home.html
   DIR [2] https://www.wissenschaftsrat.de/download/archiv/6680-17.pdf
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Manfred Ronzheimer
       
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