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       # taz.de -- Serie: Wie weiter, Germans (11): „Wir sind Arschlöcher durch Geburt“
       
       > Milo Rau veranstaltet in Berlin das „Weltparlament“. Ein Gespräch über
       > globale Gerechtigkeit und Ausbeutungskapitalismus.
       
   IMG Bild: „Im Kosmos der Figuren ist da jetzt eine mehr: der Flüchtling. Ich sage voraus, dass die auch in zwanzig oder fünfzig Jahren noch da sein wird. Das ist keine Mode“ – Milo Rau
       
       Milo Rau steht in den Kulissen seines neuen Stücks „Lenin“ , das im Oktober
       an der Berliner Schaubühne [1][erstaufgeführt wurde]. Es spielt in Lenins
       Datscha außerhalb von Moskau. Rau hat das Landhaus als Drehbühne bauen
       lassen. Jetzt drückt er auf den Knopf und Lenins Sterbebett dreht sich
       heran. 
       
       taz.FUTURZWEI: Wo wir grade an einem Sterbebett stehen: Worüber wurde bei
       der Bundestagswahl nicht gesprochen, obwohl es entscheidend für die Zukunft
       ist, Herr Rau? 
       
       Milo Rau: Zum Beispiel, wie unsere Güter produziert werden – und wie sie zu
       uns gelangen. Nehmen wir das im Kongo abgebaute Coltan oder Gold. Das
       EU-Parlament verabschiedet ein Gesetz, das sagt: Wir wollen keine
       Konfliktmineralien, wir wollen saubere Produktionsbedingungen. Das klingt
       erst einmal toll, aber dann stellst du dem Rohstoffexperten der EU die
       Frage: Was heißt eigentlich „Konfliktmineral“? Und der antwortet ganz
       entspannt: Das ist ein Mineral, das wir nicht haben, das wir aber in Europa
       benötigen. Deshalb brauchen wir dieses Regulierungsgesetz, um die
       kongolesischen Produzenten zu kriminalisieren und die Rohstoffe zu
       billigstmöglichen Preisen nach Europa zu schaffen.
       
       Das Gesetz soll den Zusammenhang zwischen Konflikten,
       Menschenrechtsverletzungen und unserem Konsum von Alltagsgütern prüfen? 
       
       Genau, das ist der moralische Anspruch. Aber in Wahrheit ist es ein
       imperiales Monopolgesetz: Denn das Label „sauber“ kriegen nur die
       europäischen Multis. Die kongolesischen Kleinproduzenten haben keine Lobby
       im EU-Parlament. Das ist so, als würde das ZK der chinesischen
       Kommunistischen Partei Ethikgesetze verabschieden für die deutsche
       Autoindustrie, VW schließen lassen und dann chinesische Autos importieren.
       Das klingt völlig absurd, für die Kongolesen und riesige Weltteile ist das
       jedoch Alltag.
       
       Der Alltag des Nicht-Vorkommens. 
       
       Genau. Diese Lobbylosen nennen wir in unserem Weltparlament den globalen
       Dritten Stand. Bei der Französischen Revolution hat man gesagt:
       Fünfundneunzig Prozent der Einwohner dieses Landes sind nicht im
       französischen Parlament. Das ist der Dritte Stand, die Nation. Und diese
       absolute Mehrheit, die alle Güter produziert, braucht eine Lobby. Die muss
       im Parlament repräsentiert sein.
       
       Sie haben das „Kongo-Tribunal“ veranstaltet und planen nun im Theater ein
       Weltparlament. Das ist eine neue Dimension politischer Kunst.
       
       Wir haben das Zeitalter der Skandalisierung verlassen, in dem wir Künstler
       sehr lange festsaßen. An die Stelle der Kritik der Gegenwart tritt der
       symbolische Entwurf des Zukünftigen. Wir stehen am Beginn einer Epoche der
       Institutionalisierung: der Schaffung symbolischer Formen, symbolischer
       Praktiken und Solidaritäten.
       
       Ihre Schaubühnen-Kollegin Nina Hoss, die mit dem Eribon-Stück „Rückkehr
       nach Reims“ in Berlin auf der Bühne ist, zog sich im Guardian auf die alte
       Künstlerposition zurück und sagte: Ich habe keine Lösungen, ich habe nur
       Fragen.
       
       Ich schätze Nina Hoss sehr. Aber strukturell ist das das Understatement der
       Arrivierten. Wir europäischen Künstler haben ja alles, warum also nach
       Lösungen suchen? Der Planet kann sich diese lauwarme Bequemlichkeit nicht
       leisten. Ich bevorzuge deshalb das brechtianische Künstlermodell: Der
       Schüler fragt, der Lehrer antwortet. Weil: Die Fragen, die Probleme sind ja
       da. Wir brauchen jetzt Antworten. Man kann sich irren, aber es geht darum,
       es zu versuchen.
       
       Schluss mit dem guten alten Hinterfragen? 
       
       Die postmoderne Vernunft gefiel sich sechzig Jahre darin, Institutionen zu
       hinterfragen, sie zu dekonstruieren. Ich glaube aber, das reicht nicht
       mehr. Man muss außerhalb der Herrschaftsinstitutionen neue, utopische
       Institutionen vorbereiten, die dann da sind, wenn die aktuellen
       zusammenbrechen. Und das werden sie im Lauf der nächsten Generation.
       
       Mit [2][dem „Kongo-Tribunal“] haben Sie die globalen Rohstoffkonflikte und
       die Ausbeutung der kongolesischen Menschen verhandelt, Sie haben dafür über
       ein Jahr recherchiert und das „Tribunal“ in der ostkongolesischen Stadt
       Bukavu inszeniert – mit den wahren Opfern und Tätern. Auf der Richterbank
       saß unter anderem Jean Ziegler, Berater des UN-Menschenrechtsrates. 
       
       Was nicht darstellbar ist, ist nicht denkbar, und das „Kongo-Tribunal“ hat
       etwas real gemacht, was vorher nicht einmal in den verrücktesten Träumen
       vorstellbar war. Der Rebell stand hier wirklich dem Minister gegenüber, der
       Schürfer dem Konzernmanager, und hinterm Richtertisch saßen Anwälte aus dem
       Kongo und Den Haag. Und plötzlich sagen die Leute: Ach so, man kann die
       anklagen, man kann jemand aus Den Haag einfliegen lassen, man kann lokales
       Bodenrecht und internationales Menschenrecht kombinieren. Und plötzlich
       versteht man: Das geht ja! Und so bekommt man, nach und nach, eine neue,
       realistische Wahrnehmung und Empfindung von dem, was global läuft und
       möglich ist. Auf welcher Deutungs- und Solidaritätshöhe wir der globalen
       Wirtschaft begegnen müssen.
       
       Es geht am Ende aber keiner ins Gefängnis. 
       
       Nein. Aber zwei Minister wurden entlassen, und die Aktien der angeklagten
       Goldfirma Banro fielen um mehrere Prozentpunkte. Was geschah also im
       „Kongo-Tribunal“? Es wurden Realitäten in einem Rahmen geschaffen, den es
       vorher als Institution noch nicht gab. Im Vorfeld sagte uns ein
       Rechtsprofessor: Ja, aber welche staatlichen und politischen Akteure sollen
       das denn umsetzen? Wer sorgt für die Rechtsfolge? Wir sagten: Das ist nicht
       unsere Aufgabe zu sagen, wer das auf Dauer stellt. Wir zeigen, wie es
       gemacht wird. Machen muss es dann die Menschheit.
       
       Die Lobbylosen von heute bekommen also in Ihrem Weltparlament eine Lobby.
       Und was passiert dann? 
       
       Es geht darum, nach sechzig Jahren postmoderner Manöverkritik wieder in
       utopische Bewegung zu kommen. Es gibt ja zwei apokalyptische Reiter, die in
       Deutschland gepeitscht werden, bis sie irgendwann den Geist aufgeben
       werden: der eine ist der Moralismus, der andere der Alarmismus. Es geht
       darum, diese beiden Gäule nun endlich mal in Rente zu schicken und einen
       globalen Realismus zu entwerfen.
       
       Das heißt? 
       
       Globaler Realismus will klären, wie man lokale und globale Probleme
       miteinander verschaltet. Ganz real und pragmatisch. Zum Beispiel,
       CO2-Ausstoß runterdrehen, was heißt das denn? Darf der Kongo keine
       Industrie aufbauen oder stellt die Alte Welt ihre Industrie jetzt mal
       hundert Jahre ab, weil der Kongo dran ist? Wir versuchen, Institutionen zu
       schaffen, in denen all diese Paradoxien verhandelbar werden, und zwar unter
       Einbezug aller Betroffenen. Es geht um ein internationales
       Wirtschaftsrecht, um ein internationales Völkerrecht und Strafrecht, das
       mit den lokalen Gegebenheiten rückgekoppelt ist. Und dabei merkt man
       ständig: Ach, das ist ja gar nicht so einfach.
       
       Sie gehen davon aus, dass wir in eine Phase eintreten, die man analog zu
       der Zeit vor der Französischen Revolution formulieren kann. Wir Europäer
       sind Teil der Aristokratie. Es gibt einen globalen Dritten Stand,
       internationales Subproletariat, Menschen, die migrieren und flüchten
       müssen. Wir haben genau die gleichen Probleme, die im Westen bereits im
       frühindustrialisierten 18. Jahrhundert aufgekommen sind. Nur im globalen
       Maßstab. Richtig? 
       
       Absolut. Mit der Revolution des Dritten Standes in Frankreich beginnen das
       nationale und das imperiale Zeitalter. Nationen müssen plötzlich
       Absatzmärkte und Rohstofflieferanten woanders finden, die Nationen werden
       zu kapitalistischen Schicksalsgemeinschaften. Der Merkantilismus wird
       internationaler Finanzkapitalismus. Und plötzlich werden gewaltige
       vereinheitlichte Märkte geschaffen, Monsterfabriken, Frankreich ist ja
       riesig für die damalige Zeit.
       
       Und was heißt das heute für den Kongo? 
       
       Was die Ressourcen angeht, sind wir an einem ganz anderen Punkt als im 18.
       Jahrhundert. Der Kapitalismus ist in seiner Endphase, nachhaltige
       Industrialisierung kommt für ein Land wie den Kongo gar nicht mehr infrage,
       dafür hat man keine Zeit mehr. Deshalb ist es so verlogen, wenn man in
       Bezug auf den Ostkongo von Industrialisierung spricht: Die Kongolesen
       werden einfach auf industrielle Weise enteignet – Zyanid in den Boden, raus
       mit dem Gold und Tschüss.
       
       Ist das noch Imperialismus oder etwas Neues? 
       
       Wir haben heute imperiale Räume und Räume außerhalb der Imperien, das ist
       das Problem. Ende der 1950er-, Anfang der 1960er-Jahre dachte man
       vielleicht noch, diese Räume zusammenschließen zu können. Es gab gewaltige
       Industrie- und Bildungsprogramme für die Dritte Welt. Das ist vorbei. Man
       weiß, es wird ökologisch nicht mehr gehen, der Planet hat die Ressourcen
       nicht mehr, es ist zu spät. Die Kongolesen werden uns in dieser Season der
       Menschheitsgeschichte nicht mehr einholen. Damit haben wir abgeschlossen,
       das ist der fatalistische Zug unserer Zeit.
       
       Was heißt das politisch? 
       
       Man muss die näher kommende Katastrophe verlangsamen und gerecht
       organisieren. Wir müssen gewissermaßen für die nächste Season der
       Menschheitsgeschichte Parallelstrukturen schaffen, um vorbereitet zu sein,
       wenn die tot gelaufenen Strukturen der Alten Welt wegfallen.
       
       So wie Sie drauf sind, würden Sie bei der Bundestagswahl gar keine Partei
       wählen? 
       
       Ich würde die wählen, die mir am nächsten sind. Da gibt es aber inhaltlich
       eigentlich keine. Was es gibt, sind Freundschaftsbeziehungen in die Linke
       und zu den Grünen, und da gibt es auch den einen oder anderen Konsens in
       globalen Fragen. Die gleiche Frage stellt sich mir in der Schweiz auch, da
       lande ich bei den Sozialdemokraten, die dort eine andere Struktur haben und
       nicht so degeneriert sind wie die SPD in Deutschland.
       
       Was halten Sie vom Gerechtigkeitspathos der Linkspartei und der SPD? 
       
       Der Dritte Stand hierzulande ist ins Kleinbürgertum abgesunken, das
       jenseits seiner Spendenseligkeit über kein globales soziales Bewusstsein
       verfügt. Warum auch? Für die Europäer kann es ja nur schlechter werden. Es
       gibt den Dritten Stand aber außerhalb Europas, weil die Weltwirtschaft ohne
       Proletariat nicht funktioniert, also ohne all jene, die die Sachen, die auf
       wundersame Weise in unsere Regalen zu Billigstpreisen auftauchen,
       anpflanzen, ernten, abbauen.
       
       Das Proletariat ist dort, im Kongo, in Lateinamerika, in China? 
       
       Unser eigenes Proletariat wird mindestversorgt und langweilt sich zu Tode.
       In Deutschland gab es ja letztes Jahr diesen lächerlichen Eribon-Turn. Als
       hätte es eine Art Führerbefehl gegeben, mussten auf einmal alle dasselbe
       Buch lesen, in diesem Fall „Rückkehr nach Reims“. Und plötzlich haben all
       diese kleinbürgerlichen deutschen Intellektuellen erkannt: Oh, es gibt die
       soziale Frage. Es gibt ein Proletariat, einen Dritten Stand. Das hatten sie
       zwanzig Jahre lang ganz vergessen.
       
       Wie kommt es, dass ein Großteil der zeitgenössischen Intellektuellen sich
       wie auf Führerbefehl auf ein Buch oder ein politisches Stichwort einigt,
       war das immer so? 
       
       Erinnern Sie sich an das Phänomen des Pete-Doherty-Hütchens?
       
       Der Sänger der britischen Band Libertines. 
       
       Dieses Filzhütchen ist eines Tages auf Dohertys Kopf aufgetaucht, dann
       haben es alle getragen, sogar mein Onkel hatte eins, und dann war es über
       Nacht wieder weg. Das geht auch mit Beethovens Neunter, Eribons Buch oder
       einem Song von Rihanna.
       
       Aber die Hütchenträger des gehobenen Feuilletons treten doch mit dem
       Selbstbild an, dass sie selbst Unterscheidungsvermögen haben und den
       entscheidenden Punkt machen. 
       
       Ja, und es gibt ja auch immer den Punkt, an dem die Kritik der
       Pete-Doherty-Hütchen-Träger das neue Pete-Doherty-Hütchen wird. Ich habe
       dafür den Begriff des Metasklaven geschaffen. Was ich damit sagen will:
       Auch derjenige, der den Führerbefehl-Diskurs kritisiert, befolgt ihn.
       
       Seit einiger Zeit reden alle wieder über Marx. 
       
       Ich habe mich in den letzten Monaten wieder einmal sehr intensiv mit der
       Arbeiterbewegung beschäftigt für mein Lenin-Stück. Und wenn du die
       intellektuellen Bücher einer Zeit vergleichst, der 20er-Jahre zum Beispiel,
       dann merkst Du: Es denken alle gleich. Karl Liebknecht spricht und schreibt
       im Grunde wie ein Nazi, oder umgekehrt. Liebknecht, Hitler, Stalin, Lenin:
       Sie alle reden über die Nation, sie alle verachten das Kleinbürgertum, sie
       alle feiern den sportlichen Körper. Auch wenn ein Kommunist der 20er-Jahre
       den Begriff der Rasse kritisiert: Er nimmt ihn als relevant an. Warum ist
       aber heute plötzlich jeder Marxist? Ab den 70ern war eine Zeit lang der
       Begriff der „Klasse“, der hundert Jahre lang auf der Tagesordnung gewesen
       war, nicht mehr angesagt. Wie das Herrenhütchen, das in den 60ern plötzlich
       weg war. Und ein Begriff, der mal da war, dann weggeschafft wurde und
       wieder auftaucht: Der ist irgendwie besonders geil und campy, der hat
       besonders viel Charme für kleinbürgerliche Intellektuelle. Warten wir ab,
       in zehn Jahren ist der Rasse-Begriff wieder en vogue.
       
       Kommen wir lieber zum Theater zurück! 
       
       Wenn wir da aber zur Klassen- beziehungsweise Ständefrage zurückkommen:
       Früher hatte man ein vertikales Mitleidsempfinden, das sich durch die
       Schichten hindurch universalisierte. Im Theater taucht im 18. Jahrhundert
       plötzlich der Kleinbürger als fühlendes Wesen auf, im 19. Jahrhundert dann
       der Proletarier. Bei Lessing haben plötzlich die Kleinbürgermädchen
       geweint, und bei Ibsen, hundert Jahre später, haben sie politische
       Ansichten. Und hier kommt Hoffnung auf: Denn die aktuelle Theatergeschichte
       ist voller Anzeichen, dass sich in der Ausdehnung des Weltgeistes etwas
       vorbereitet. Dass so etwas wie eine Horizontalisierung der dramatischen
       Empfindsamkeit stattfindet, dass sich ein globaler Realismus vorbereitet.
       Und das ist irreversibel. Die Schichten, die ins Theater reingerutscht
       sind, die zu dramatischen Figuren wurden, sind nie wieder rausgerutscht.
       
       Sie haben in Ihrem Stück „Mitleid“ den Flüchtling reingeholt.
       
       Genau, als ich „Mitleid“ schrieb und den Begriff des „Zynischen Humanismus“
       benutzte, waren plötzlich Flüchtlinge ein Thema. Zuerst auf einer
       paternalistischen Moralebene, dann wurde der Flüchtling zu einer Figur, die
       einfach da war und die da blieb. Das wurde zur täglichen Figur, zur
       Erfahrung. Im Kosmos der Figuren ist da jetzt eine mehr: der Flüchtling.
       Ich sage voraus, dass die auch in zwanzig oder fünfzig Jahren noch da sein
       wird. Das ist keine Mode.
       
       Sondern eine reale Veränderung? 
       
       Die Frage ist: Wie wird sich die Empfindsamkeit verändern, wie wird sie
       sich politisieren? Das Kleinbürgermädchen darf im 18. Jahrhundert bei
       Schiller eigentlich nur weinen, bei Ibsen hält sie dann politische Reden,
       bei Jelinek mordet sie. Diese Ausweitung und Politisierung der Wahrnehmung
       der Welt ist die Aufgabe der realistischen Generation.
       
       Das Sommerthema der plötzlichen „Ehe für alle“ müsste doch in Ihrem Denken
       der Gipfel des Wohlstandzynismus sein. Die Aristokratie deliriert sich an
       ihren identitätspolitischen Fortschritten – und blendet den globalen Rest
       aus? 
       
       Das denke ich überhaupt nicht. Bei Didier Eribon, um beim Hauptfetisch
       unserer heutigen Hobby-Marxisten zu bleiben, geht es in Wahrheit ja auch
       immer darum, dass er schwul ist und das politisiert. Da bin ich absolut
       gleicher Meinung: Es gibt eine Gleichzeitigkeit von Kämpfen, die man in
       ihrer Gleichzeitigkeit akzeptieren muss, ohne sie hierarchisch zu ordnen.
       Was man finden muss, sind die Bezüge. Und das ist auch das Ziel unseres
       Weltparlaments: Horizontale Grenzen zu überwinden, aber darüber hinaus auch
       Zeittiefe in Vergangenheit und Zukunft herzustellen. Gleichzeitigkeiten,
       Solidaritäten über Zeit und Raum hinweg zu erobern und zu politisieren.
       
       Trotzdem: Das Homo-Adoptionsrecht als emanzipatorische Gerechtigkeit
       beschäftigt die Gesellschaft, nicht aber die damit zusammenhängenden
       verdeckten Herrschaftsverhältnisse, etwa eine ukrainische Leihmutter. 
       
       Wie gesagt: Die einzige Lösung ist die Ausweitung des Blickwinkels und
       dessen Politisierung. Weil bezahlte Leihmutterschaften bei uns verboten
       sind, wird das ausgelagert. Nicht mal nach Afrika, nicht mal in die
       Ukraine, sondern nach Spanien, nach Griechenland. Fürs Weltparlament sind
       wir mit mehreren Leihmüttern aus diesen Ländern in Kontakt, denn es geht
       darum, Menschen, die nicht im Fokus stehen, eine Stimme und politische
       Macht zu geben.
       
       Um verhandelbar zu machen, was kriminell ist? 
       
       In Peru gibt es diesen Bergbauern, der unter einem Gletscher lebt und RWE
       verklagt hat, weil der Gletscher aufgrund der Klimaerwärmung bald abstürzen
       wird. RWE hat einen Anteil von 0,5 Prozent an den globalen CO2-Emissionen
       und soll deshalb 0,5 Prozent der Katastrophe bezahlen. Darum geht es, um
       Realitäten. Denn erst in dem Moment, in dem es in Deutschland
       kriminalisiert wird, wenn man einen Gletscher in Chile indirekt zum
       Einsturz bringt, wird es verhandelbar.
       
       War der ganze Bundestagswahlkampf ein Ablenkungsmanöver für Sie? 
       
       Der Deutsche Bundestag ist kriminell in dem Sinn, dass nicht einmal fünf
       Prozent der von seiner Politik Betroffenen darin vertreten sind. Egal, wie
       gut ein Regulierungsgesetz gemeint sein mag: Es wird von der deutschen
       Wirtschaft und ihrer Lobby so angepasst, dass es sich ins Gegenteil
       verkehrt. Vor allem aber: Unsere Parlamentarier sind dem Nationalstaat
       verpflichtet. Sie sind damit rein strukturell Opfer des Widerspruchs
       zwischen globaler Wirtschaft und Nationalstaat. Ob sie nun Linke oder Grüne
       oder Konservative sind, da stecken sie alle drin und kommen nicht raus.
       Diese Leute machen völlig selbstverständlich Gesetze, die Griechenland oder
       Zentralafrika ruinieren. Und da stellt sich die Frage, ob die politischen
       Unterschiede zwischen den Parteien noch von Belang sind.
       
       Ja, und? 
       
       Unter revolutionärer Perspektive: Nein. Meine Hoffnung ist deshalb das
       erste, eigentlich methodologische Treffen der General Assembly im November.
       Da fragen wir: Wie hängt Globales und Lokales strukturell zusammen? Man
       würde denken, dass das etwa bei Waffenexporten klar ist. Ist es aber nicht:
       Im Nordirak, wo ich oft unterwegs bin, wurde mit Heckler & Koch etwa der
       Vormarsch des IS aufgehalten, zugleich aber das Gebiet der Kurden auf
       Kosten des irakischen Staates ausgedehnt. Im Weltparlament haben wir also
       zwei Lobbys, die eine findet Waffenexporte super, die andere scheiße. Das
       sind unauflösbare Antagonismen, und deshalb brauchen wir endlich einen
       Apparat, der diese Fragen bearbeitet, Lösungsansätze anbietet und beginnt,
       die Leute an die konsequente Politisierung solcher Paradoxien zu gewöhnen
       
       Warum ist diese Politisierung eigentlich so schwer? 
       
       Wir haben das Gefühl, immer mehr zu wissen und immer schneller zu handeln –
       in Wahrheit findet aber eine Einschränkung, fast Lähmung unserer
       Entschlussfähigkeit statt. Wie Teenager sitzen wir unbeweglich und
       lethargisch in unseren Zimmerchen, in unseren Köpfen aber rasen die
       Gedanken. Die technische Entwicklung hat unseren Willen gelähmt und unsere
       seelischen und sozialen Algorithmen völlig ins Ungleichgewicht gebracht.
       Auch in einer Mine im Kongo ruft der eine heute den anderen zwanzig Mal an,
       um zu sagen, dass er gleich kommt oder doch nicht gleich kommt oder jetzt
       doch gleich kommt. Und am Ende passiert gar nichts.
       
       Das zeigt, dass die Universalisierung der kulturellen Form auch die
       Minenarbeiter im Kongo beteiligt. Während die Universalisierung materieller
       Teilhabe eben nicht stattfindet. Dafür haben auch die linken Parteien keine
       Lösung. 
       
       Es ist, als würden wir von den technischen Apparaten in einer totalen
       Gegenwart festgehalten, während der Planet in den Untergang rauscht.
       Insofern bin ich auf der Seite von allen, die die Handlungsfähigkeit der
       Individuen und zivilgesellschaftlichen Akteure wieder wachrütteln wollen.
       Viele, mit denen ich im Kongo eng zusammenarbeite, sind nach politischen
       Begriffen rechtsliberal. Weltanschaulich passt das überhaupt nicht zu
       meinen Überzeugungen, aber politisch-strategisch machen diese
       Kollaborationen Sinn. Da geht es um Nationalisierung, um Aufteilung in
       verwaltbare Einheiten, eine langsam aufgebaute Form lokaler
       Subsistenzwirtschaft, um Mikrokredite und, in klar abgegrenzten Bereichen,
       sogar um Zusammenarbeiten mit Playern wie der Weltbank.
       
       Da klingt wie Abkopplung? 
       
       Ja. Aber wenn der Kongo seine Rohstoffe nicht nutzt, um eine eigene
       Industrie aufzubauen, dann sehe ich schwarz für dieses Land. Mein alter
       Freund Jean Ziegler und ich sprechen oft über Regulierungsgesetze, und Jean
       findet sie toll, weil er ans Konzept des Weltbürgers glaubt. An ein
       Einsehen der Europäer, an die Zärtlichkeit der Völker. Aber wenn du dich
       zwei Jahre mit dem Ostkongo beschäftigst, siehst du, dass es in der Welt,
       wie wir sie leben, nicht einmal den Ansatz von Zärtlichkeit zwischen Erster
       und Dritter Welt gibt. Wir Europäer brauchen etwas, das die Kongolesen
       haben, und deshalb müssen wir es ihnen wegnehmen. Punkt. Sie sind die
       Ukraine, und wir sind Hitlerdeutschland. Da hilft nur Selbstverteidigung.
       
       In Ihrem Manifest zur Überwindung des „Zynischen Humanismus“ empfehlen Sie
       Menschen, die sich für engagiert halten, zu erkennen: Ich bin auch nur ein
       Arschloch. Warum? 
       
       Das ist wie bei den Anonymen Alkoholikern: Es geht darum, eine Basis zu
       finden, auf der man ehrlich miteinander umgehen kann. Indem man anerkennt,
       dass wir trotz aller Pseudoregulierungsgesetze und guten Absichten in einer
       ungerechten Welt die Gewinner sind, kann man über Lösungsansätze
       nachdenken. Und der Gewinner ist immer das Arschloch, genau wie der Boss
       immer das Arschloch ist. Das muss man einfach mal laut sagen: In der Welt,
       wie sie ist, sind wir Europäer die Arschlöcher, und zwar durch Geburt. Das
       ist höchst unerfreulich, aber leider ein Fakt.
       
       Wenn Sie mir sagen, dass ich ein Arschloch bin, denke ich nicht: Vollkommen
       richtig, ich bin ein Arschloch. Ich denke, Sie sind ein Arschloch. 
       
       Ich will ja nicht geliebt werden für das, was ich sage. Wir sind die
       Generation vor der Revolution, vor den großen Veränderungen. Wir sind in
       einem funktionierenden Ausbeutungskapitalismus aufgewachsen, und im Grund
       nehmen wir an, dass es so immer weitergehen wird. Gefangen in der Alten
       Welt, zu der wir gehören, haben wir keinen Sinn für das, was kommen wird.
       Kommende Generationen werden einmal voller Verwunderung und Amüsement, aber
       auch mit viel Verachtung und Fassungslosigkeit auf uns zurückblicken.
       
       Dieser Text ist aus der aktuellen Ausgabe der FUTURZWEI. Seit dem 12.
       September am Kiosk oder auch [3][direkt hier zu bestellen].
       
       1 Nov 2017
       
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