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       # taz.de -- Kontroverse um Herta Müller in Serbien: In ein Wespennest gestochen
       
       > Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller gibt in Belgrad Serbien die
       > Schuld an den Balkan-Kriegen der 90er Jahre und wird dafür scharf
       > angegriffen.
       
   IMG Bild: Archivbild mit Herta Müller 2010 bei einem Besuch im rumänischen Bukarest.
       
       SARAJEVO taz | Herta Müller hat in ein Wespennest gestochen. Ein Gespräch
       mit der deutschen Literaturnobelpreisträgerin im Rahmen der Buchmesse in
       der serbischen Hauptstadt Belgrad führte dort am Wochenende zu einem
       Medien-Eklat. „Skandal: Die Tochter eines SS-Offiziers spuckt auf Kirche
       und Serben“, titelte die Zeitung Kurir.
       
       „Müller missbraucht unsere Gastfreundschaft“, empörte sich das
       Boulevardblatt Informer. Und die größte Zeitung Blic sprach von einem
       „Schock“.
       
       Die Literatin sei eine Vertreterin „des Angst machenden, tiefen und
       primitiven Hasses gegen die Serben, wie ihn die Deutschen sonst einzig
       gegen die Juden gezeigt haben“, war in der Regierungszeitung Novosti zu
       lesen.
       
       Herta Müller hatte letzte Woche auf dem Podium des „Jugoslawischen
       Drama-Theaters“ in dem vom FAZ-Korrespondenten Michael Martens geleiteten
       Gespräch Serbien die Schuld an den Kriegen der 90er Jahre zugesprochen.
       Dabei hatte sie auch die Orthodoxe Kirche in ihre Kritik eingeschlossen.
       
       ## „Die Serben haben sich selbst Leid angetan“
       
       Die Serben seien als Kriegstreiber für unendliches Leid in Bosnien und
       Herzegowina und im Kosovo verantwortlich, betonte Müller. „Die Serben haben
       sich selbst Leid angetan, und damit müssen sie jetzt leben. Wenn man die
       Frauen aus Srebrenica sieht, das bricht mir bis heute das Herz“, erklärte
       sie während der Veranstaltung in Anspielung auf das monströse Verbrechen
       einer serbischen Soldateska in Srebrenica. Dort waren 1995 mehr als 8.000
       Männer ermordet worden.
       
       Im Saal rumorte es, erste Zuschauer verließen den Raum. Doch Müller setzte
       noch einen drauf. „Weil ich glaube, es war so viel passiert, und man hatte
       dem Kosovo und Bosnien so viel Leid angetan, und es war dieser schlimme
       Nationalismus, an dem auch, glaube ich, die orthodoxe Kirche sehr stark
       mitgemischt hat,“ seien die NATO-Bomben auf Serbien im Frühjahr 1999
       gerechtfertigt gewesen, um Diktator Slobodan Milosevic zu stoppen.
       
       Darauf verließen viele Zuhörer geschockt die Szene. Der Auftritt Müllers
       sprach sich herum. In den nächsten Tagen erfasste eine Welle der Empörung
       das Land, die am Wochenende in einer breiten Medienhetze endete.
       
       Müller als Tochter eines SS-Vaters darzustellen gehört in Serbien zu den
       Methoden der Diffamierung. Zwar sollte die Sippenhaft abgeschafft sein,
       doch solche Vorwürfe gehören seit langem zum Repertoire serbischer
       Nationalisten bei der Auseinandersetzung mit Andersdenkenden aus anderen
       Volksgruppen.
       
       ## Serbische Nationalisten wollen nicht aufgeklärt werden
       
       Dass sich die Nobelpreisträgerin der Geschichte des Zweiten Weltkrieges und
       seiner Folgen stellt, dass sie die Irrwege der deutschen Minderheit im
       Banat, aus dem sie stammt, kritisch reflektiert, dass sie die Mechanismen
       der Ceausescu-Diktatur in Rumänien seziert und damit aufklärerisch wirkt,
       das alles wollen die einschlägigen Zeitungen in Serbien nicht zur Kenntnis
       nehmen.
       
       Diese Fragestellungen würden sie ja selbst in ihren Handlungs- und
       Denkweisen herausfordern. Die serbische Öffentlichkeit ist keineswegs
       bereit, selbstkritisch mit der eigenen Geschichte umzugehen. Lieber werden
       Verschwörungstheorien in Umlauf gesetzt. Die Öffentlichkeit und Politik
       möchte die serbische Nation als Opfer der Geschichte stilisieren.
       
       Pragmatischer antwortete kürzlich ein Polizeioffizier im Rahmen einer
       Diskussion über die Vergangenheit dem Autor gegenüber. „Wenn wir Schuld
       zugeben, werden das unsere Gegner ausnutzen und auf uns eindreschen,“
       erklärte er.
       
       Wie soll aber dieses Land, das nicht in der Lage ist, selbstkritisch mit
       sich umzugehen, Mitglied in der Europäischen Union werden?
       
       Sonja Biserko, Vorsitzende des serbischen Helsinki-Komitees für
       Menschenrechte und seit Jahrzehnten Streiterin für eine offene
       Diskussionskultur, nannte es „unverzichtbar“, dass die Gesellschaft in
       Serbien höre, was andere über sie denken. Stattdessen werde „eine
       Atmosphäre geschaffen, die gegen jeglichen Dialog und jegliche Debatte über
       die Verantwortung des Milosevic-Regimes ist.
       
       Statt sich von seinem Regime zu distanzieren, werde Milosevic rehabilitiert
       und als größter serbischer Politiker gefeiert. Die Gesellschaft sei nicht
       bereit, sich mit den nackten Tatsachen abzufinden, erklärte Biserko am
       Rande der Veranstaltung mit Müller.
       
       30 Oct 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Erich Rathfelder
       
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