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       # taz.de -- Virtuelle Realität im Museum: Gespür im Sitzsack
       
       > Schnittstelle zwischen Kunst und Technologie: Im Zeppelin Museum
       > erforscht die Ausstellung „Schöne neue Welten“ digitale Wirklichkeiten.
       
   IMG Bild: Sieht aus wie ein Spielfilm: „Let this be a warning“ vom Nest Collective
       
       Der Eintritt in die virtuelle Realität gestaltet sich ausgesprochen
       entspannt. Körperlos schwebt man durch eine Dimension aus animierten
       Goldfischen und Zungen, während eine beruhigende Stimme flüsternd dazu
       aufruft, nach und nach von jeglichen körperlichen Anstrengungen
       loszulassen. „ASM(V)R“ heißt das Video von Salome Asega, Reese Donohue und
       Tongkwai Lulin, das zu Beginn der Ausstellung „Schöne neue Welten“ auf die
       Reise durch verschiedenste digitale Paralleluniversen vorbereiten soll.
       
       Orientiert an den bei YouTube sich großer Beliebtheit erfreuenden
       AMSR-Videos – so genannt, weil beim Ansehen durch einflüsternde Stimmen und
       Geräusche, wie das sanfte Streichen über Borsten eines Haarkamms, bei den
       Zuschauern sensorische Reize ausgelöst werden sollen –, hat das
       US-Künstler-Kollektiv Erlebniswelten geschaffen, die zum Verweilen
       einladen. Von losgelösten Körperteilen umgeben schwebt man im Licht der
       untergehenden Sonne über einer reflektierenden Wasseroberfläche und steigt
       immer höher, bis man auf einen aquamarinblauen Schädel hinunterblickt, der
       das Zentrum dieser digital dreidimensionalen Arbeit bildet.
       
       Beim Betrachten von „ASM(V)R“ versinkt man in der realen Welt zunehmend in
       den Tiefen eines lilafarbenen Sitzsacks. Nicht ohne Grund gehört dieses
       Möbelstück auch zu Gaming-Conventions und Videospielmessen, erleichtert es
       durch seine anschmiegsame Form doch das losgelöste Abtauchen in andere
       Welten. Auch Sidsel Meineche Hansens Arbeit inkorporiert einen flachen,
       aus schwarzem Kunstleder gefertigten Sitzsack in ihre Videoinstallation. In
       einer Position irgendwo zwischen Sitzen und Liegen wird man Teil eines
       bizarr anmutenden VR-Pornos.
       
       „Eva 3.0“, ein von einer Plattform für VR-Porno-Charaktere
       heruntergeladener Avatar, kopuliert mithilfe eines Umschnalldildos mit
       einer von der Künstlerin geschaffenen Skulptur. Mindestens ebenso spannend
       wie das aktive Erleben der Szenerie ist hier das Beobachten der anderen
       Besucher, die sich mit der VR-Brille auf dem Kopf zunehmend von ihrer
       Außenwelt entfernen.
       
       ## Rasante Entwicklung
       
       Angesichts der rasanten Entwicklung von Virtual Reality, die abseits von
       Unterhaltung und Pornografie unter anderem auch im Bereich der
       Traumverarbeitung und der Digitalisierung verlorener Kulturgüter zunehmend
       an Bedeutung gewinnt, spricht Ina Neddermeyer von einer Bildrevolution. Mit
       „Schöne neue Welten“ wagt die Kuratorin des an der Schnittstelle zwischen
       Kunst und Technologie agierenden Zeppelin Museums in Friedrichshafen eine
       Bestandsaufnahme. Virtuelle Realität zeigt ihr revolutionäres Potenzial in
       dieser Ausstellung vor allem dort, wo parallele Lebensformen entworfen
       werden – etwa in der Arbeit des kenianischen Nest Collective.
       
       Sein afrofuturistischer Science-Fiction-Film „Let this be a warning“
       versetzt Zuschauer mithilfe einer 360-Grad-Perspektive in die Rolle von
       Astronauten, die auf einem weit entfernten Planeten auf eine afrikanische
       Kolonie treffen. Dem Vorwurf, dass menschliche Entdeckungsfreude in
       Wahrheit bloß Ausdruck von Bedürfnissen nach dem blanken Konsum anderer
       Kulturen ist, mag man umringt von Soldaten mit Maschinengewehren nicht
       allzu viel erwidern. Die Videoarbeit dreht bestehende Machtverhältnisse
       zwischen Europa und Afrika einfach um und evoziert so gerade bei weißen
       Ausstellungsbesuchern ein Gefühl von Beklemmung, das nach Absetzen der
       Brille in Empathie umschlagen soll.
       
       Auch Halil Altindere schickt die Besucher in den Weltraum. Der türkische
       Künstler visualisiert ironisch die Umsiedelung syrischer Flüchtlinge, derer
       sich kein Nationalstaat so recht annehmen möchte, auf den Mars. Während die
       beiden intergalaktischen Videos Grenzen zwischen Utopie und Dystopie für
       nur wenige Minuten verwischen, zeugt die Dokumentation einer Performance
       von Micha Cárdenas von einer deutlich tieferen Immersion in die digitale
       Welt.
       
       365 Stunden am Stück verbrachte die Künstlerin 2008 in dem Onlinespiel
       „Second Life“ und setzte die VR-Brille dabei nur ab, um auf die Toilette
       zu gehen. Angesichts einer US-amerikanischen Gesetzesauflage, nach der eine
       Transgender-Person 365 Tage als das entsprechende Geschlecht gelebt haben
       muss, bevor sie sich einer Geschlechtsangleichungsoperation unterziehen
       darf, stellt Cárdenas die Frage nach digitaler Identität und Zeitlichkeit.
       
       Gerade im Unterhaltungssektor verspricht VR seinen Nutzern ein
       ganzheitliches Eintauchen in andere Welten. Schon heute erlaubt
       dieDeep-Motion-Technologie, die auch Florian Meisenberg in seiner eigens
       für die Ausstellung angefertigten interaktiven Installation verwendet, eine
       direkte Einflussnahme auf digitale Umgebungen. Ganz ohne Controller können
       Objekte durch Hand- und Körperbewegungen gesteuert werden. In Meisenbergs
       Arbeit sieht man die eigenen Hände digital verfremdet in einer anderen Welt
       operieren. In den meisten anderen gezeigten Werken jedoch verschwindet der
       eigene Körper.
       
       ## Eine Bildrevolution
       
       Im Sitzsack ist er ohnehin kaum noch zu spüren, und wenn man bei Halil
       Altindere und dem Nest Collective den Blick senkt, ist von ihm nichts zu
       sehen. Vielleicht kann man gerade angesichts dieser allumfassenden, aber
       körperlosen Form der Wahrnehmung von einer Bildrevolution sprechen. Und
       vielleicht ist es eben jene Form der Wahrnehmung, die nicht bloß ein
       meditatives Abtauchen, sondern auch eine tiefgreifende Reflexion über den
       politischen Umgang mit Körpern erlaubt.
       
       Jedenfalls lädt die Ausstellung gerade dann dazu ein, über den
       gesellschaftlichen Umgang mit der physikalischen Präsenz marginalisierter
       Personen zu reflektieren, wenn sie den Körper der Betrachterin immersiv aus
       dem Betrachtungsfeld ausschließt.
       
       15 Nov 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Donna Schons
       
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