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       # taz.de -- Bizarre Huldigung: Revolution in Hemelingen
       
       > Um Stalin und Lenin zu huldigen, spielten als Sowjets verkleidete
       > „Demonstranten“ zwei Tage lang Revolution in Bremen. Die Agitation vorm
       > Mercedes-Werk half kaum
       
   IMG Bild: Ein nachgebildeter T-34-Panzer und ein nicht minder schöner Traktor
       
       Ob es wieder Erschießungen geben wird, weiß man jetzt natürlich noch nicht.
       „Das muss man dann mit Leuten diskutieren, die den Umsturz wollen“, sagt
       Stephan Eggerdinger. Lenin jedenfalls war ein guter. Und Stalin war zu über
       fünfzig Prozent gut, macht also in der Summe zumindest keinen schlechten
       Mann. Fragt man ihn nach den, je nach Schätzung, zwischen drei und 20
       Millionen Ermordeten aus Stalins Zeit, sagt er: „Wir müssen jetzt eher
       gucken, was wir aus der Revolution lernen können.“
       
       Verhungernde Bauern durch staatliche Zwangskollektivierung, Kannibalismus,
       Straf- und Arbeitslager? „Gräuelmärchen“, und in den Gulag kamen ja ohnehin
       nur die „alten Ausbeuter“. Wenn überhaupt, dann war die Revolution in der
       Sowjetunion nicht konsequent genug: „Die haben den Kampf zu früh
       eingestellt – das ist Fakt: Sieht man ja im heutigen Russland.“
       
       ## Lenin und Stalin grüßen
       
       Wie es aussieht, wenn Eggerdinger versucht, aus der russischen
       Oktoberrevolution zu lernen, konnte man in den vergangenen Tagen in Bremen
       sehen: Eine Gruppe von fünfzig Personen zwischen Mitte Sechzig und Anfang
       Dreißig fuhren auf einem nachgebauten Holzpanzer und auf Militär-Lkws durch
       Bremens Straßen. Sie sehen so aus, als hätten sie gerade einen
       Militaria-Höker am Checkpoint Charlie enteignet. Perfekt dazu passen die
       hochgehaltenen Porträts von Lenin, Stalin, Marx und Mao, mit denen der
       motorisierte Zug am Mittwoch und Donnerstag in Erinnerung an die
       bolschewistische Oktoberrevolution vor 100 Jahren durch Bremens Straßen
       fuhr. Der Zug soll dabei kein „Zug der Erinnerung“ sein, sondern auch
       „einen Aufruf auf die Straßen bringen, den Lehren der Revolution durch die
       Tat zu folgen!“
       
       Seit beinahe vierzig Jahren organisiert Eggerdingers „Aktionsbüro“ aus
       Frankfurt ähnliche Demonstrationen, insgesamt habe es 13 gegeben. 1980
       waren sogar einmal 32 bis 36 Wagen dabei.
       
       ## Brot, Frieden, Arbeit
       
       In Bremen sind es sechs. Auch das sind allerdings noch genug, um komplett
       unironisch Revolution zu spielen. Angela Kammrad, die den Bremer Umzug
       wesentlich mitorganisiert hat, sagt: „Wir müssen mit Gewalt den Frieden
       erklären.“ Genau so wie damals im Hafen von St. Petersburg die Revolution
       mit dem ersten Schuss des Kriegsschiffes „Aurora“ begann. Die 66-Jährige
       steht vor einer Nachbildung des Schiffes auf einem Anhänger. Sie hat kurze
       graue Haare, einen schneidenden Blick und trinkt Kaffee aus einem
       Pappbecher. Denn gerade macht die Revolution Mittagspause. Es gibt
       Käsebrote aus Plastiktüten.
       
       Wenn man sie auf die Hungersnöte und Massenerschießungen anspricht, wird
       sie lauter: „Bürgerliche Geschichtsklitterung!“ Der Krieg war
       verantwortlich für Hunger, die Bolschewiki wollten immer nur: „Brot,
       Frieden, Arbeit.“ Und: „Adenauer, Kohl, Merkel – das ist doch ein
       Gewaltapparat!“ Dann steckt sie sich eine Filterzigarette an und nimmt
       einen Stapel Flugblätter in die Hand. Das Gesicht von Lenin ist drauf,
       „Revolution – eine harte, aber notwendige Lehre“ steht daneben. Sie
       agitiert vor den Toren des Großkapitals. In diesem Fall: vor Tor acht des
       Mercedes-Werkes in Bremen-Hemelingen. Dort singen Menschen mit
       Matrosenanzug und hoffentlich falschem Gewehr über der Schulter das
       Einheitsfrontlied, begleitet von einigen Bläsern. Pausenlos fahren dicke
       LKWs durch das Tor aus dem und in das Werk. Es stinkt nach Diesel. Wenn die
       16-Tonner vor der Produktionsstätte anfahren, ist von Einheitsfront nicht
       mehr viel zu hören. Von den ArbeiterInnen solidarisiert sich keiner.
       Niemand bleibt stehen, immerhin einige nehmen ein Flugblatt mit.
       
       Ein Arbeiter kommt gerade von der Schicht, nimmt ein Flugblatt und steckt
       es sich gefaltet in die Mercedes-Benz-Jacke. Er trägt Funktionskleidung und
       einen silbernen Fahrradhelm. Er sei normaler Arbeiter der „untersten
       Hierarchieebene“ und gewerkschaftlich organisiert, sagt er, während er sein
       Mountainbike losschließt: „Das ist mir ein Ticken zu revolutionär, aber
       muss ja jeder selber wissen. Ich mach dann jetzt mal Feierabend.“
       
       Zwei Polizisten, die den Zug begleiten, lehnen an ihrem Auto und rauchen.
       Stress habe es weder gestern noch heute gegeben. Einer sagt: „Ältere Leute
       schütteln mit den Köpfen, viele haben auch Mitleid.“
       
       2 Nov 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Gareth Joswig
       
       ## TAGS
       
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