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       # taz.de -- Machtmissbrauch in Unterkünften: Sie suchten Schutz
       
       > Immer wieder misshandeln Wachleute in Unterkünften Geflüchtete. Für die
       > Täter hat das so gut wie keine Konsequenzen.
       
   IMG Bild: In der Flüchtlingsunterkunft in Burbach soll es zu mehrfachem Missbrauch gekommen sein
       
       Es ist der Morgen des 31. Dezember 2016 in der Erstaufnahmeeinrichtung
       Hamburger Straße in Dresden. Argjent Mehmeti schläft, als drei
       Sicherheitsmänner das Zimmer seiner Familie betreten wollen. Mehmetis Frau
       ist noch nicht angezogen. Ihr Mann drückt die Tür zu, die Männer sollen sie
       nicht halbnackt sehen.
       
       Dabei werden die Angeln der Tür beschädigt, die Sicherheitsmitarbeiter
       machen Mehmeti dafür verantwortlich. Er soll die Unterkunft sofort
       verlassen, Mehmeti weigert sich. Die Wachmänner bedrohen ihn, sie hätten
       gesagt „Ich mach dich gleich kaputt, was willst du machen?“, erinnert sich
       Mehmeti.
       
       Er erstattet Anzeige. „Das Schlimme ist“, sagt er heute, „so was habe ich
       von Deutschland nie gedacht. Die Wachmänner sind organisiert und verdienen
       zu viel Geld. Deswegen macht da keiner was.“
       
       Es ist nicht der erste Vorfall dieser Art in der Unterkunft. Auf einem
       [1][Handyvideo] von Dezember 2016 ist zu sehen, wie Sicherheitsangestellte
       nachts Bewohner über den Hof jagen, sie verprügeln. Ein anderes Video vom
       Oktober 2015 zeigt, wie Wachpersonal einen Asylbewerber tritt und schlägt.
       Ohne im Video ersichtlichen Grund nehmen sie den Mann in den Schwitzkasten
       und drücken ihn zu Boden.
       
       Zwei Jahre nach dem Höhepunkt der sogenannten Flüchtlingskrise ist es um
       die Unterbringung Asylsuchender in Deutschland stiller geworden. Je weniger
       Menschen kommen, desto weniger wird über sie berichtet. Doch in
       Erstaufnahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsunterkünften kommt es weiterhin
       regelmäßig zu Körperverletzungen durch Sicherheitskräfte, zu Bedrohungen,
       manchmal gar zu Misshandlungen. In Berlin stehen Mitarbeiter von
       Sicherheitsfirmen im Verdacht, Geflüchtete in die Prostitution vermittelt
       zu haben, um mit der Zuhälterei zu verdienen. In den seltensten Fällen
       zeigen die Bewohner einer Unterkunft das Wachpersonal an. So wird es noch
       stiller. Die taz hat deutschlandweit 20 Fälle analysiert, über einige wurde
       bereits berichtet, andere sind neu, so wie der von Argjent Mehmeti. Es geht
       um Drohungen, Misshandlungen, um zu wenig Personal, miserable Bezahlung von
       Mitarbeitern und fehlende Kontrollen durch Kommunen und Länder. Zusammen
       ergeben sie ein besorgniserregendes Bild.
       
       Der Betreiber der Dresdner Unterkunft, in der Argjent Mehmeti, seine Frau
       und seine kleine Tochter gelebt haben, ist zum Zeitpunkt der Drohungen das
       Deutsche Rote Kreuz. Die Sicherheitsfirma ist vom Land Sachsen beauftragt.
       
       Aus der Landesdirektion Sachsen heißt es auf die Frage, was nach der
       Situation an der Tür passiert sei: „Der Vorfall wurde im Anschluss mit
       allen Beteiligten ausgewertet.“ Die Sicherheitsfirma, Ihre Wache GmbH, ist
       weiterhin für die Unterkunft zuständig. Eva Wagner, Pressesprecherin von
       Ihre Wache schreibt: „Mit den betreffenden Personen wurden im Rahmen der
       Auswertung umfangreiche Gespräche geführt.“ Die Zimmer hätten aus
       brandschutzrechtlichen Gründen durchsucht werden müssen, der Betreiber habe
       dies angeordnet.
       
       Bezüglich den Gewaltvideos schreibt Wagner, Ihre Wache könne anhand der
       Beschreibung keine bekannten Vorfälle zuordnen. Zu personalrechtlichen
       Konsequenzen werde man aus datenschutzrechtlichen Gründen keine Stellung
       nehmen. In derselben Mail droht Ihre Wache, „aus allen in Betracht
       kommenden rechtlichen Gesichtspunkten“ gegen die taz vorzugehen, sollte sie
       Videos oder Sprachaufnahmen veröffentlichen.
       
       ## In nur zwei Fällen Verantwortliche verurteilt
       
       Bei der weiteren Recherche stößt die taz auf Unterkünfte im
       brandenburgischen Finsterwalde, die von dubiosen Berliner Briefkastenfirmen
       betrieben wurden. Auf ein laufendes Verfahren gegen zehn Mitarbeiter der
       europaweit agierenden European Homecare vor dem Siegener Landgericht, die
       Geflüchtete misshandelt, sich der Freiheitsberaubung oder unterlassener
       Hilfeleistung schuldig gemacht haben sollen. Und auf Sicherheitskräfte in
       Dresdner Unterkünften, die Bewohner wie Argjent Mehmeti und seine Familie
       bedrohen und nötigen.
       
       Von allen zwanzig Vorfällen kam es in nur fünf zu einer Entlassung, nur
       sechsmal zu einer Anzeige: wegen Nötigung, Körperverletzung und auch
       Vergewaltigung.
       
       In nur zwei Fällen wurden Verantwortliche verurteilt, wie etwa im
       niedersächsischen Lingen, wo zwei Wachmänner Geflüchtete in der Unterkunft
       misshandelten. Sie wurden Anfang des Jahres zu jeweils zwei Jahren auf
       Bewährung und zwei Jahren und drei Monaten Haft verurteilt.
       
       Drei Verfahren laufen noch, eine Anklage wurde fallen gelassen. Typisch,
       sagen Opferberatungen und Flüchtlingsräte. In den wenigsten Fällen kommt es
       überhaupt zu Anzeigen, weil die Bewohner Angst haben und oft nicht wissen,
       an wen sie sich wenden können. In den wenigsten Unterkünften gibt es eine
       unabhängige Beschwerdestelle. Strafrechtliche Konsequenzen bleiben die
       Ausnahme.
       
       Es gäbe Lösungen für diese Probleme, etwa Unterbringungsstandards, wie es
       sie in Alten- oder Jugendheimen gibt. Aber bisher ist die Politik nicht
       bereit, diese verbindlich einzuführen. Das liegt auch daran, dass die
       Unterbringung Geflüchteter in Deutschland Ländersache ist und bundesweite
       Regelungen deshalb nicht möglich sind. Die wenigen Regelungen, die es gab,
       wurden in den letzten Jahren immer weiter ausgehöhlt.
       
       Und so vergeben Länder und Kommunen auch 2017 weitere Verträge an Betreiber
       und Sicherheitsunternehmen, die bereits mehrfach durch Straftaten
       aufgefallen sind oder gegen die sogar noch Strafverfahren anhängig sind.
       
       Ein Unternehmen, an dem sich erklären lässt, wo einige der größten Probleme
       bei der Flüchtlingsunterbringung liegen, ist die Firma European Homecare
       aus Essen. Nach eigenen Angaben betreibt das mittelständische Unternehmen
       aktuell 80 Einrichtungen für Geflüchtete und Wohnungslose in ganz
       Deutschland. 2015 stieg der Umsatz von rund 39 Millionen auf fast 178
       Millionen Euro. Der Nettogewinn fiel fünfmal so hoch aus wie 2014: Rund 26
       Millionen Euro blieben übrig. Für Personal gab die Firma in dem Jahr 35,5
       Millionen aus, 20 Prozent des Umsatzes. European Homecare, so
       Pressesprecher Klaus Kocks in einem Interview mit dem Spiegel, sei der
       „Aldi unter den Anbietern.“ Nur die Umsatzrendite, so Kocks, sei besser als
       die des Discounters.
       
       Auch in einem anderen Bereich ist European Homecare führend, gegen das
       Unternehmen gibt es eine rekordverdächtige Anzahl strafrechtlicher
       Vorwürfe:
       
       Burbach, Nordrhein-Westfalen, 2014: Zehn Mitarbeitern der European Homecare
       und sechsundzwanzig Mitarbeitern des zuständigen Wachdienstes, der durch
       das Unternehmen beschäftigt war, wird vorgeworfen, Bewohner genötigt und
       misshandelt zu haben. Geflüchtete sollen in ein „Problemzimmer“ eingesperrt
       und gequält worden sein. Ein Handyfoto zeigt, wie einer der Wachmänner
       seinen Stiefel in den Nacken eines Geflüchteten drückt, der am Boden liegt.
       Es kommt zur Anklage. Das Hauptverfahren hat noch nicht begonnen.
       
       Finnentrop, Nordrhein-Westfalen, 2016: Einem Heimleiter wird vorgeworfen,
       eine Syrerin, die er in der Unterkunft in Finnentrop kennengelernt hat,
       viermal vergewaltigt zu haben. In E-Mails hat er sich als „Dr. med“
       ausgegeben, obwohl er nie Medizin studiert hat. Der Niederländer ist, schon
       bevor er beginnt, in Finnentrop für European Homecare zu arbeiten, 19-mal
       strafrechtlich auffällig geworden. Für eine Verurteilung reichen die
       Beweise nur im Anklagepunkt des Titelmissbrauchs. Das Landgericht Arnsberg
       verurteilt ihn zu neun Monaten auf Bewährung.
       
       Niederkrüchten, Nordrhein-Westfalen, 2017: Das Unternehmen hält sich nicht
       an den vertraglich mit dem Land vereinbarten Personalschlüssel, stellt die
       Bezirksregierung Düsseldorf bei Kontrollen fest. Zu wenige Mitarbeiter
       betreuen zu viele Bewohner. Außerdem kassiert European Homecare
       gleichbleibend viel Geld von der Stadt, auch wenn die Unterkünfte nicht
       voll belegt sind. Die Bezirksregierung reduziert daraufhin die Zahlungen.
       
       Essen, Nordrhein-Westfalen, 2017: Das Unternehmen stellt einen gelernten
       Lehrer für Biologie und Chemie zunächst als Betreuer ein. Dann teilt
       European Homecare ihm in einem Schreiben mit, dass er ab sofort auf der
       Stelle des Sozialpädagogen arbeitet, obwohl er den entsprechenden Abschluss
       nicht hat.
       
       ## Oft werden die Betroffenen unter Druck gesetzt
       
       Trotz alldem wurden auch im Sommer 2017 neue Verträge an European Homecare
       vergeben – vom Land Nordrhein-Westfalen für die Zentrale
       Unterbringungseinrichtung in Mettmann und eine weitere in Rüthen. Vom Land
       Niedersachsen für das größte Ankunftszentrum im Norden, Bad
       Fallingbostel-Oerbke. Und auch vom Land Sachsen für die
       Erstaufnahmeeinrichtung in der Hamburger Straße in Dresden – dort, wo
       Argjent Mehmeti mit seiner Familie gelebt hat. Das Deutsche Rote Kreuz
       betrieb die Einrichtung bis August 2017, dann kam European Homecare.
       
       Fragt man Holm Felber, Pressesprecher der Landesdirektion Sachsen, warum
       das Deutsche Rote Kreuz den Zuschlag nicht erneut bekommen hat, sagt er:
       „Der neue Anbieter konnte garantieren, dass er die Leistungen auch
       erbringen wird.“ Zu einem günstigeren Preis? „Das war in jedem Fall so.“
       Bei welchen Positionen genau European Homecare günstiger war, ist nicht zu
       erfahren.
       
       Birgit Naujoks vom Flüchtlingsrat NRW hat eine Vermutung: „Das Einzige,
       woran man sparen kann, ist Personal.“ Der Personalschlüssel werde von
       Betreibern zwar formal eingehalten, aber die Mitarbeiter wiesen niedrigere
       Qualifizierung auf als von European Homecare, kurz EHC, angegeben.
       
       Pressesprecher Klaus Kocks schreibt auf Anfrage der taz: „EHC ist wegen
       seines Qualitätsmanagements zum qualitativen Marktführer dieser
       Anbietergruppe geworden; das kontrollieren in Deutschland Hunderte von
       Gebietskörperschaften tagtäglich.“ Eine abweichende Praxis würde sofort und
       an vielen voneinander unabhängigen Stellen bemerkt.
       
       Dass die staatlichen Kontrollen, auf die European Homecare sich bezieht,
       oft nicht ausreichend sind, zeigt die Arbeit von Juliane Pink. Sie ist
       Beraterin für Betroffene von rechtsmotivierter und rassistischer Gewalt in
       Dresden und hat den Fall der Familie Mehmeti betreut. Von Januar bis Anfang
       September 2017 haben sie und ihre Kollegen insgesamt 130 Beratungen
       durchgeführt. Pink schätzt, dass nur 20 Prozent der Fälle, die sie betreut,
       zur Anzeige gebracht werden. Dabei geht es um Körperverletzung, Bedrohung
       oder Nötigung – vor allem durch Sicherheitspersonal. Oft werden die
       Betroffenen unter Druck gesetzt: Sie kenne Fälle, in denen Zimmer
       regelmäßig durchsucht wurden oder Essen rationiert wurde.
       
       Seitdem European Homecare Betreiber der Erstaufnahmeeinrichtung in Dresden
       ist, könnten sie, ihre Kollegen und der Flüchtlingsrat die Unterkunft nicht
       mehr ohne Anmeldung betreten: „Im Moment erreichen uns deshalb weniger
       Vorfälle, in den letzten zwei Monaten gar keine mehr“, sagt Pink.
       
       ## Ein Berliner Heimleiter war ständig betrunken
       
       Wenn es doch mal zu einer Anzeige gegen Sicherheitspersonal kommt, haben
       die Kläger schlechte Karten. Oft ist nicht nur die Beweislage schwierig,
       den Bewohnern der Unterkünfte wird auch nicht geglaubt. „Ein
       Securitymitarbeiter hat in einem Ermittlungsverfahren einen ganz anderen
       Stand als Geflüchtete. Den Eindruck haben wir“, sagt Juliane Pink, „und den
       gewinnt man auch immer wieder, wenn man sie zur Polizei begleitet.“ So
       folge bei Körperverletzung meistens nichts, manchmal eine Entlassung und
       nur ganz selten ein Gerichtsurteil.
       
       Ein weiteres Beispiel dafür, dass staatliche Kontrollen in den letzten
       Jahren nicht ausreichend waren, ist der Fall der mittlerweile geschlossenen
       Notunterkunft in der Berliner Gürtelstraße. Maria Wehle hat bis zur
       Schließung im Dezember 2016 dort gearbeitet – und ist seitdem psychisch und
       körperlich so angeschlagen, dass sie vorerst gar nicht mehr arbeiten kann.
       
       „Ich habe nur noch 40 Kilo gewogen, das hat mich schon sehr mitgenommen“,
       sagt sie bei einem Treffen Ende Mai. Auch Monate nach Ende ihrer
       Beschäftigung sieht man ihr die Erschöpfung noch an. Nur zögerlich hatte
       sie einem Interview zugestimmt.
       
       Geführt wurde die Notunterkunft in der Gürtelstraße vom Berliner Verein zur
       Förderung von Arbeit, Forschung und Bildung e. V., kurz AFB. Leiter war
       Farhad V., ein Mann, der häufig betrunken war, Bewohner bedroht oder sogar
       angegriffen hat – so beschreiben es Maria Wehle und Thomas Barthel,
       Vorstand des Vereins „Friedrichshain Hilft“, der dort aktiv war.
       
       Bereits am 16. März 2016 wendet sich Friedrichshain Hilft schriftlich an
       das Landesamt für Gesundheit und Soziales, das damals noch zuständig für
       Flüchtlinge war, um die Behörde auf die Missstände in der Unterkunft
       aufmerksam zu machen.
       
       In der E-Mail steht: „Wir sind nicht länger gewillt, mit einem Heimleiter
       zusammenzuarbeiten, der ein offensichtliches Alkoholproblem und dieses auch
       im Dienst nicht im Griff hat, der dazu neigt, Bewohnerinnen und Bewohner im
       angetrunkenen wie im nüchternen Zustand anzubrüllen und zu beschimpfen.“
       
       In dem Schreiben heißt es weiter, dass Farhad V. versucht habe, einer
       weiblichen Bewohnerin das Kopftuch herunterzureißen und Tücher, die als
       Sichtschutz befestigt waren, zu entfernen. Die Bewohnerinnen hätten sich
       „häufig massiv belästigt“ gefühlt. Alle Versuche der taz, Farhad V. oder
       seinen Arbeitgeber, den Verein AFB, für eine Stellungnahme zu erreichen,
       blieben erfolglos.
       
       „Ich hab immer bis zwölf Uhr nachts gearbeitet, ihn oft nachts betrunken
       mitbekommen“, sagt Maria Wehle. Weil sie noch immer Angst vor Farhad V.
       hat, wurde ihr Name in diesem Text geändert. Wehle hat keine Ausbildung zur
       Sozialarbeiterin und war vor ihrer Anstellung ehrenamtlich in der
       Unterkunft tätig. Laut Wehle wollte Farhad V. eine Betreuung rund um die
       Uhr – hatte aber viel zu wenige Mitarbeiter dafür.
       
       Das Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten, das im August 2016 die
       Zuständigkeit vom Landesamt für Gesundheit und Soziales übernommen hat,
       schickt Mitarbeiter der Qualitätskontrolle in die Unterkunft, doch Maria
       Wehle und Friedrichshain Hilft berichten übereinstimmend, dass diese mehr
       oder weniger angekündigt waren und niemals abends kamen.
       
       Wehle sagt: „Ich hätte mir gewünscht, dass sie nicht nur zu ihren
       Bürozeiten kommen, wo er auch meistens nüchtern war.“ Weil ihre Schicht
       immer erst um 16 Uhr begann, sei sie nicht von den Mitarbeitern des
       Landesamts für Flüchtlingsangelegenheiten befragt worden. Dessen
       Pressesprecher dementiert diese Darstellung: Kontrollen fänden zu
       unterschiedlichen Tageszeiten und unangekündigt statt.
       
       Farhad V. lässt sich laut Wehle und Friedrichshain Hilft von den Bewohnern
       unterschreiben, dass alles in Ordnung ist. „Das hat er mit dem
       Schreckensgespenst verbunden, dass das Heim sonst geschlossen wird und dann
       vielleicht alle nach Tempelhof kommen“, sagt Wehle. Der ehemalige Flughafen
       ist eine der größten Massenunterkünfte Deutschlands.
       
       Das Landesamt kommt so zu dem Schluss, dass es keine Probleme gibt.
       Gleichzeitig spitzt sich die Situation in der Unterkunft in den folgenden
       sechs Monaten zu. Wehle sei zeitweise allein für 200 Menschen zuständig
       gewesen, während Farhad V. in der nahe gelegenen Kneipe „festgetackert“
       gewesen sei. Sie gibt Essen aus, kümmert sich um Kinder, schlichtet
       Streitereien. Sie denkt immer wieder daran zu kündigen, will aber die
       Bewohner nicht mit V. allein lassen.
       
       „Am Ende war das Glück, dass er auch morgens betrunken war und wir dann
       beim Landesamt jemanden erreicht haben“, sagt Maria Wehle. Im Herbst 2016
       schlägt eine Ärztin Alarm, die in der Unterkunft aktiv ist. Friedrichshain
       Hilft schickt ein weiteres Beschwerdeschreiben an das Landesamt, dann
       handelt die Behörde. Sie beraumt ein Mediationsgespräch an, in dem Farhad
       V. mit sofortiger Wirkung den Dienst quittiert. Kurze Zeit später wird die
       Unterkunft geräumt. Rechtliche Konsequenzen gibt es weder für den Betreiber
       noch für den Heimleiter.
       
       Warum ist das Land Berlin nicht früher und energischer vorgegangen?
       Hinweise auf Fehlverhalten und Vertragsbruch durch den Betreiber gab es
       spätestens seit dem ersten Beschwerdebrief im März 2016. Das Landesamt für
       Flüchtlingsangelegenheiten sagt hierzu: „Die Qualitätssicherung verfügt
       über Außendienstmitarbeiter, die regelmäßig die gut 100 Unterkünfte des
       Landesamts kontrollieren. Wir gehen allen Hinweisen binnen kürzester Frist,
       oftmals bereits am nächsten Tag nach. Sollten dabei Mängel auftreten, wird
       dem Betreiber eine Frist eingeräumt, binnen der er die Missstände abstellen
       kann.“
       
       Die Einhaltung der getroffenen Vereinbarungen werde kontrolliert: „Für den
       Fall, dass der Betreiber nicht in der Lage ist, die Missstände zu
       beseitigen, droht im äußersten Fall die Kündigung des Vertrags.“ Eigentlich
       müssten Kontrollen noch weiter gehen – sie müssten grundsätzlich
       stattfinden und nicht anlassbezogen. Genügt es wirklich, nur auf
       Problemmeldungen von Bewohnern zu reagieren, die oft ziemlich
       eingeschüchtert sind?
       
       Ein Instrument, das mit dem Anspruch entwickelt wurde, Unterkünfte
       ganzheitlich und ohne Anlass zu evaluieren, ist der sächsische Heim-TÜV. Er
       wurde bereits 2011 vom Büro des Ausländerbeauftragten des Landes Sachsen,
       Geert Mackenroth, entwickelt. Der [2][dazugehörige Fragebogen] verlangt
       explizit auch Auskünfte zu Übergriffen durch Angestellte der Unterkunft
       oder Sicherheitsbeamte und beinhaltet detaillierte Fragen zu Spannungen
       zwischen Bewohnern und Heimleitung.
       
       ## Keine verbindlichen Mindeststandards
       
       Verwunderlich allerdings: Das letzte Mal, dass dieser Heim-TÜV auf
       Gemeinschaftsunterkünfte angewandt wurde, war 2013. Eine Evaluierungsrunde
       2017 in Sachsen beschäftigte sich nur mit der dezentralen Unterbringung.
       Wenn es die Instrumente schon gab, warum hat man sie dann seit 2015 nicht
       angewandt?
       
       Aus der Geschäftsstelle des sächsischen Ausländerbeauftragten heißt es
       dazu, dass der Heim-TÜV für die vier Mitarbeiter schlicht nicht
       durchführbar gewesen sei, schließlich habe es zu Hochzeiten bis zu 160
       Unterkünfte gegeben.
       
       In vielen Bundesländern gibt es keine Mindeststandards für
       Gemeinschaftsunterkünfte. In Nordrhein-Westfalen wurden diese zeitweise
       aufgehoben, die Vertragsstrafe ausgesetzt. Erst im Januar 2017 wurde sie
       wieder eingeführt, das heißt, das Land kann jetzt wieder Sanktionen
       verhängen, wenn der Betreiber den vertraglich zugesicherten Leistungen
       nicht nachkommt. Davor war ein Einschreiten erst dann möglich, wenn es
       strafrechtlich relevant wurde.
       
       Nach den Misshandlungsfällen in Burbach wurde in Nordrhein-Westfalen
       außerdem ein 8-Punkte-Plan zur Einstellung von Sicherheitskräften
       eingeführt: verbindliche Standards, die unter anderem den Einsatz von
       Subunternehmen untersagen und Bewerber verpflichten, ein polizeiliches
       Führungszeugnis vorzulegen. „Insgesamt hat sich da einiges getan“, sagt
       Birgit Naujoks vom Flüchtlingsrat NRW. Was aber noch fehlt – und nicht nur
       in Nordrhein-Westfalen – ist Transparenz. „Ich glaube, dass immer noch
       nicht der Wille da ist, alles von Grund auf aufzuarbeiten und an die
       Öffentlichkeit zu bringen.“
       
       Ausschreibungen für Betreiber sind meistens nicht öffentlich, genauso wenig
       die Einstellungskriterien von Sicherheitskräften. Damit bleibt die Tür für
       Geschäftemacherei weiter offen.
       
       ## Was zählt? Preis oder Qualität?
       
       Betreiber und Behörden müssten offensiver mit Fehlern umgehen, fordern die
       Flüchtlingsräte. Dafür müsste auch innerhalb der Unterkünfte eine
       Atmosphäre herrschen, die den Bewohnern Raum für Beschwerden gibt. Ein
       Großteil dieser Angebote ist aber noch nicht niedrigschwellig genug, und
       viele Geflüchtete fürchten die Konsequenzen, wenn sie eine Machtperson wie
       einen Sicherheitsmann oder einen Heimleiter melden.
       
       In Nordrhein-Westfalen gibt es mittlerweile eine überregionale
       Beschwerdestelle, die direkt am Flüchtlingsrat angedockt ist. Sie ist aber
       nur für die vom Land finanzierten Unterkünfte zuständig; was auf kommunaler
       Ebene passiert, erreicht sie nicht. Das ist symptomatisch für einen
       Flickenteppich aus Lösungsversuchen mit vielen Löchern und keinerlei
       einheitlichen Standards.
       
       Vielerorts versucht deshalb der Staat wieder mehr Aufgaben an sich zu
       nehmen. Das Land Berlin etwa errichtet Immobilien für Unterkünfte nun
       selbst. Die Betreiber aber haben nach wie vor ein großes Drohpotenzial: Als
       die Berliner Integrationssenatorin Elke Breitenbach von der Linkspartei im
       Juli 2017 ankündigte, die Zusammenarbeit mit dem umstrittenen
       Flüchtlingsheimbetreiber Gierso zu beenden, drohte das Unternehmen, die
       Unterkünfte umgehend zu schließen und 900 Bewohner auf die Straße zu
       setzen.
       
       Man ließe sich nicht erpressen, hieß es von Breitenbach, die Menschen
       wurden eilig anderweitig untergebracht.
       
       Selbst wenn sich ein Umdenken abzeichnet und der Staat wieder mehr
       übernimmt, er wird auf privatwirtschaftliche Unternehmen und
       Wohlfahrtsverbände angewiesen bleiben, um Geflüchtete unterzubringen. Und
       so ergeben sich immer wieder neue Probleme im Zusammenspiel von Staat und
       Betreibern, die nur durch klare Kontrollmechanismen behoben werden können.
       
       In vielen Bundesländern wurde kürzlich die Gewichtung von Preis zu Qualität
       in den Ausschreibungen geändert. Waren es in Berlin beispielsweise 40
       Prozent Preis und 60 Prozent Qualität, sind es jetzt 70 Prozent Qualität
       und nur noch 30 Prozent Preis. Als Qualitätskriterien gelten etwa
       qualifizierte Mitarbeiter, Brandschutz sowie Jugend- und
       Kinderschutzmaßnahmen.
       
       Für die Flüchtlingsunterkunft am ehemaligen Flughafen Tempelhof hat sich
       unter diesen Bedingungen allerdings kein einziger Betreiber beworben.
       Vermutlich, weil es sich für sie nicht lohnt: 2019 sollen die Container
       wieder abgerissen werden.
       
       13 Nov 2017
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.youtube.com/watch?v=pX-mzPmCIrA
   DIR [2] https://sab.landtag.sachsen.de/dokumente/sab/Fragebogen_16052013.pdf
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Yasmin Polat
   DIR Pascale Müller
       
       ## TAGS
       
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       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Qualität von Berliner Wohnheimen: Jeder darf sich beschweren
       
       Bei der „Berliner unabhängigen Beschwerdestelle“ können HeimbewohnerInnen
       Missstände beanstanden. Aber hält der „Heim-TÜV“, was er verspricht?
       
   DIR Misshandelte Flüchtlinge in Burbach: Erste Urteile gegen Wachleute
       
       Das Gericht verurteilt drei Wachleute zu einer Geld- bzw. Bewährungsstrafe.
       Die Verurteilten seien Teil eines Bestrafungssystems in der Unterkunft
       gewesen.
       
   DIR Misshandelte Flüchtlinge in Burbach: Folter im Flüchtlingsheim
       
       Tritte, Schläge, Arrest: Wachleute hatten 2014 in Burbach Geflüchtete
       gequält. Nun begann der Prozess gegen 29 Angeklagte in Siegen.
       
   DIR Flüchtlingsheim in Burbach: Eingesperrt und gedemütigt
       
       Monatelang sollen Wachleute BewohnerInnen eines Flüchtlingsheims gequält
       haben. Nun beginnt der Mammutprozess in Siegen.
       
   DIR Kölner Hotel als Flüchtlingsunterkunft: Millionenvertrag mit Lokalpolitikerin
       
       Kaum noch Flüchtlinge, aber viel Geld für deren Unterbringung. Köln
       streitet über den Vertragsabschluss mit einer Hotelbetreiberin aus den
       Reihen der CDU.
       
   DIR Flüchtlinge in Containern: Überflüssiger Ausnahmezustand
       
       In einigen niedersächsischen Kommunen müssen Geflüchtete in Containern
       leben, obwohl Plätze in Wohnungen frei sind.
       
   DIR Gewalt gegen Flüchtlinge: Täglich mehr als vier Straftaten
       
       Die ostdeutschen Bundesländer sind Spitzenreiter: Bundesweit gab es 2017
       rund 1700 Straftaten gegen Geflüchtete – nicht selten sind sie extrem
       brutal.
       
   DIR Kommentar Unterbringung Geflüchteter: Noch schlimmer geht immer
       
       Notunterkünfte waren mal Notbehelfe. Inzwischen gelten sie als normal. Denn
       es gibt noch prekärere Unterkünfte.
       
   DIR Angriff auf afghanisches Kind in Sachsen: Rassist nach Hass-Attacke angeklagt
       
       In Sachsen hatte ein Mann einen afghanischen 15-Jährigen beschimpft und
       geschlagen. Nun wird er wegen Körperverletzung angeklagt.
       
   DIR Vorwurf der Gruppenvergewaltigung: Neun Jahre Haft für Robinho
       
       Der 33-jährige Brasilianer soll bereits 2009 einer Frau gegenüber
       gewalttätig gewesen sei. Gegen das jetzige Urteil will er in Berufung
       gehen.
       
   DIR Verdacht gegen Berliner Security-Dienste: Flüchtlinge in Prostitution vermittelt
       
       Ein Zuhälter-Netzwerk in Berliner Flüchtlingsheimen? Ein ZDF-Beitrag deckt
       auf, dass Sicherheitsleute offenbar den Erstkontakt vermitteln.
       
   DIR Überwachungssoftware für Geflüchtete: Der gläserne Flüchtling
       
       Bremen, Hamburg und Schleswig-Holstein setzen bei der Unterbringung von
       Flüchtlingen auf eine Überwachungssoftware. Kritiker sehen massive
       Datenschutzverstöße
       
   DIR Angebliche Übergriffe im Flüchtlingsheim: „Wir nehmen die Vorwürfe sehr ernst“
       
       Geflüchtete Frauen werfen Security-Mitarbeitern in Köln schwere sexuelle
       Übergriffe vor. Die Polizei ermittelt – bislang ergebnislos.