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       # taz.de -- Kolumne Der rote Faden: Die Gegenwärtigkeit des Vergangenen
       
       > Über Jamaika wird mit NS-Vokabular berichtet und Kuwait Airways muss
       > keine Israelis befördern. Was war das bloß für eine Woche?
       
   IMG Bild: Ja, das ist 2017: Rechtsextremer Aufmarsch in Warschau
       
       Der Holocaust wurde quasi am Kaffeetisch beschlossen. „Ich lade Sie daher
       zu einer solchen Besprechung mit anschließendem Frühstück (…)“, steht in
       einem [1][Brief] von SS-Obergruppenführer Heydrich, verschickt Ende
       November 1941. Das Einladungsschreiben zur Wannseekonferenz kann man
       besichtigen, es ist ausgestellt in jenem Zimmer, in dem sie dann 1942
       stattfand. Durch Fenster aus Edelholz schaut man auf den See, an der Wand
       kleben noch ein paar Reihen der alten Delfter Fliesen, vor der Terrasse
       blühen tatsächlich noch einige hartnäckige Rosen.
       
       Es ist ein Ort, dessen Äußeres nicht sofort verrät, welches Verbrechen hier
       geplant wurde, obwohl dessen Monstrosität so enorm ist, dass sie sich in
       jede Parkettritze ausgedehnt haben muss. Sie spüren, verstehen, erinnern
       muss man schon selber, die Gegenwärtigkeit des Vergangenen.
       
       Offenbar kann man sich dem, wie auch immer, entziehen, jedenfalls scheuchte
       mich bei meinem dieswöchigen Besuch ein (deutscher) Rentner mit
       Digitalkamera beiseite, der seine Frau knipste und knipste und knipste,
       welche in scheinbarer Konzentration auf den Schaukasten mit dem
       [2][Konferenzprotokoll] herniedergesunken war.
       
       Um das ewige Gelaber der Rechten von einer Vergangenheit, die doch nun
       wirklich mal vorbei sei, nicht nur als zutiefst verdorbenes Wunschdenken,
       sondern als schlicht falsch zu erkennen, brauchte man in dieser Woche indes
       gar nicht bis an den Wannsee zu fahren. Ein Blick in die Nachrichten
       reichte.
       
       ## Beförderung von Israelis sei „nicht zumutbar“
       
       Angefangen mit dem polnischen Unabhängigkeitstag am letzten Samstag, an dem
       über 60.000 Menschen unter roten Rauchschwaden durch Warschau marschierten
       und „ein weißes Europa“ forderten.
       
       Am Donnerstagmittag, während ich im [3][Haus der Wannseekonferenz] vor
       einer Ausstellungswand stand und zu begreifen versuchte, dass laut einem
       Fernschreiben vom Juli 1943 für einen Zyklon-B-Transport nach Auschwitz dem
       jeweiligen Lkw-Fahrer vom Lagerkommandanten eine entsprechende
       Sondergenehmigung mitzugeben war – als sei zu jenem Zeitpunkt das Töten
       noch etwas gewesen, das immerhin eine bürokratische Hürde zu nehmen gehabt
       hätte –, verkündete das Landgericht Frankfurt am Main ein Urteil, nach dem
       es der Airline Kuwait Airways „nicht zumutbar“ sei, einen israelischen
       Passagier zu befördern und so gegen die Gesetzgebung jenes Staats zu
       verstoßen, in dessen Besitz sie sich befindet.
       
       Man muss sich das bewusst machen: Das Land, in dem die Vernichtung
       sämtlichen jüdischen Lebens einst oberstes Ziel sämtlichen Handelns war;
       dessen Kanzlerin die Sicherheit Israels als Teil der deutschen Staatsräson
       sieht; in diesem Land wird per Gerichtsbeschluss signalisiert: Wer Juden
       diskriminieren will – denn um nichts anderes geht es in der Sache,
       wenngleich sich das Gericht peinlicherweise an den argumentativen Strohhalm
       klammert, es ginge hier ja um Staatsangehörigkeit und nicht Religion –,
       kann das gern tun, bitte, danke, Nächster.
       
       Man könnte ja nun einfach Start- und Landeerlaubnis entziehen. Aber wo
       kämen wir denn da hin, solche Verluste in Kauf zu nehmen, gerade jetzt, da
       Siemens knapp 7.000 [4][Arbeitsplätze abbaut], weil: Energiewende verpennt?
       Es ist schließlich dasselbe Land, in dem jetzt eine Partei im Parlament
       sitzt, auf deren Veranstaltung kürzlich ein Teilnehmer [5][in Hörweite
       eines WDR-Reporters] sagte: „Was haben wir denn mit den Juden gemacht? Da
       gab es ja auch Möglichkeiten (…) Die Flüchtlinge gehen ja nicht
       freiwillig.“
       
       ## „Nacht der langen Messer“ war 1934
       
       Vielleicht erklärt ein Blick auf unsere Sprache, warum das Vergegenwärtigen
       manchen so schwerzufallen scheint. Die Berichterstatter über die aktuellen
       Koalitionssondierungen hatten es in Sachen Wortwahl nie leicht, und
       vermutlich war es pure Erleichterung, endlich eine knalligere Metapher als
       karibische Nationalbeflaggung und kiffende Kanzlerinnen gefunden zu haben,
       als von Süddeutscher Zeitung bis zur Talkshow von Michel Friedman und sogar
       bei den Abgeordneten selbst die Bezeichnung „Nacht der langen Messer“ für
       die letzte Verhandlungsrunde auftauchte.
       
       Kann man natürlich ziehen, den Vergleich zwischen Regierungsbildung im Jahr
       2017 und der Ermordung von geschätzt 1.000 Menschen 1934, mittels der
       Hitler seine letzten innenpolitischen Gegner beseitigen ließ. Kann man aber
       auch lassen. Ich selbst kannte den Ausdruck bisher auch nicht – aber dass
       eine solche Formulierung entweder aus Indiana-Jones-Drehbüchern stammen
       muss oder eben aus Hitlers Irrsinnsbaukasten, kann man sich doch bitte
       irgendwie denken. Und dann kurz googeln.
       
       Um ähnlichen Sprachunfällen vorzubeugen: An diesem Samstag vor 98 Jahren
       setzte Hindenburg die „Dolchstoßlegende“ in die Welt, die
       (Sozial-)Demokraten die Schuld an der Niederlage im Ersten Weltkrieg
       zuschob. Hitler machte daraus wenig später antisemitische Propaganda.
       
       Im Zweifelsfall also einfach mal an den [6][Wannsee] fahren. Für
       Bundestagsabgeordnete sind Bahnreisen sogar kostenlos.
       
       19 Nov 2017
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] http://www.ghwk.de/fileadmin/user_upload/pdf-wannsee/dokumente/luther_einladung_dezember1941_barrierefrei.pdf
   DIR [2] http://www.ghwk.de/fileadmin/user_upload/pdf-wannsee/dokumente/protokoll-januar1942_barrierefrei.pdf
   DIR [3] http://www.ghwk.de/
   DIR [4] /!5461006/
   DIR [5] http://www1.wdr.de/fernsehen/stellungnahme-westpol-afd100.html
   DIR [6] http://www.ghwk.de/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Johanna Roth
       
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