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       # taz.de -- Debatte Gesellschaftlicher Fortschritt: Nach dem Ende der Erlösungsutopien
       
       > Die totalitären Regime des 20. Jahrhunderts sind Geschichte. Nach dem
       > Konkurs der Erlösungsfantasien sind wir auf uns selbst zurückgeworfen.
       
   IMG Bild: Misstrauen muss man auch den neuen Erlösungsfantasien entgegenbringen
       
       Der amerikanische Politologe Francis Fukuyama hat im Frühjahr 1989, noch
       vor dem Mauerfall, einen Aufsatz mit dem Titel „The End of History“
       publiziert. Darin entfaltete der Autor die These vom endgültigen Sieg des
       Liberalismus, hier verstanden als die Kombination von Demokratie,
       Kapitalismus und Wohlfahrtsstaat. Insofern könne man nach dem Untergang von
       Faschismus und Kommunismus vom „Ende der Geschichte“ sprechen.
       
       Dieser These wurde sofort massiv widersprochen: „Geschichte“ werde es
       selbstverständlich immer geben und ein „Ende der Geschichte“ sei daher eine
       ganz unsinnige Vorstellung. Andere wandten ein, dass der westliche
       Liberalismus Krieg und Ungleichheit in bislang ungekanntem Ausmaß mit sich
       gebracht habe und als Höhe- und Abschlusspunkt der Geschichte daher denkbar
       ungeeignet sei.
       
       Diese etwas kurzatmigen Kritiken gingen aber an Fukuyamas Anliegen vorbei.
       Denn sein Argument war interessanter. Es gab im 20. Jahrhundert mit dem
       Kommunismus und dem Nationalsozialismus zwei Erlösungsutopien, die mit
       allen Mitteln eine vollkommene Umgestaltung der Welt anstrebten, der
       Nationalsozialismus nach den Gesetzen der Natur, der Kommunismus nach jenen
       der Geschichte.
       
       Gegenbild war in beiden Fällen die moderne, bürgerlich-liberale
       Industriegesellschaft, deren Zerstörung Voraussetzung für die Errichtung
       jener konfliktfreien Endzeitutopie ist. Nach dem Untergang dieser beiden in
       vielerlei extrem unterschiedlichen Utopien gebe es, so Fukuyama, keine
       universale Ideologie mehr, die beanspruche, die fundamentalen
       Herausforderungen der Moderne bewältigen zu können. Neue ideologische
       Systeme wie der islamische Fundamentalismus seien dazu weder willens noch
       in der Lage.
       
       Fukuyama bezweifelte nicht, dass es auch in Zukunft Armut, Ungerechtigkeit,
       Rassismus, Krisen oder Kriege geben werde. Es sei allerdings kein
       Ordnungssystem mehr erkennbar, das die globalen Probleme besser lösen könne
       als der liberale, demokratische Kapitalismus.
       
       ## Ein Anlass zur Hoffnung
       
       Nimmt man den triumphalistischen Ton heraus, der dieser These trotz aller
       Differenzierungen des Autors eigen ist, so wird sichtbar, dass mit dem Sieg
       des Westens auch ein Dilemma verbunden war. Denn mit dem endgültigen
       Scheitern der im frühen 20. Jahrhundert entwickelten radikalen Alternativen
       zum liberalen System konnten hinfort die großen Probleme der Menschheit
       nicht mehr mit der stimulierenden Hoffnung auf die total andere Alternative
       angegangen werden, sondern nur innerhalb der Parameter des vorhandenen
       Ordnungssystems.
       
       Nach einem Jahrhundert der exzessiven politischen Gewalt war dies gewiss
       eher Anlass zur Hoffnung als zur Trauer, zumal in Deutschland. Gleichwohl
       bedeutete diese Einsicht auch, hinfort die begrenzten Reichweiten
       politischer Veränderungsmöglichkeiten zu akzeptieren. Die Vorstellung vom
       „letzten Gefecht“, vom endgültigen Sieg des Guten über das Böse, hatte sich
       als irreale Erlösungsromantik entlarvt.
       
       Hinzu kam ein zweiter Aspekt. Der Sowjetkommunismus war unübersehbar an
       seiner Starrheit zugrunde gegangen. Er war ein Produkt des
       schwerindustriellen Zeitalters. Auf das Bedürfnis nach Freiheit,
       Individualisierung und Konsum hatte er keine Antworten, in einer Welt
       jenseits von Schwerindustrie und Arbeiterklasse keinen Platz.
       
       Dagegen hatte sich der demokratische Kapitalismus als außerordentlich
       dynamisch und wandlungsfähig erwiesen. Tatsächlich hatten die liberalen
       Gesellschaften der 1980er Jahre mit denen der 1920er nur noch wenig
       Ähnlichkeit. Die Veränderungen des Staatssozialismus hingegen hatten sich
       seit 1917 im Wesentlichen auf das Ausmaß seiner Gewalttätigkeit beschränkt.
       Das bestärkte das Argument, dass offene Gesellschaften wie die
       westlich-liberalen am ehesten in der Lage sein würden, auf Neues flexibel
       zu reagieren.
       
       ## Ökologische Risiken
       
       Allerdings war schon bald nach 1989/90 erkennbar, dass dem Sieg des
       demokratischen Kapitalismus Probleme eingeschrieben waren, die Fukuyama
       nicht einbezogen hatte. Vor allem beruht die kapitalistische Wirtschaft auf
       Wachstum, und das schien die Lösungskompetenz des westlichen Modells zu
       begrenzen. „Würde die gesamte Weltbevölkerung dieselbe Anzahl an
       Kühlschränken und Autos besitzen wie die Menschen in Nordamerika und
       Westeuropa, wäre dieser Planet unbewohnbar“, schrieb einer der Kritiker
       Fukuyamas. Je erfolgreicher der weltweite Kapitalismus war, desto
       bedrohlicher würden die damit verbundenen ökologischen Risiken.
       
       Auf der anderen Seite war aber auch kein anderes politisches Prinzip
       erkennbar, das eher als die liberale Demokratie in der Lage wäre, auf diese
       Problematik zu reagieren, ohne die demokratischen Freiheiten zu
       demontieren.
       
       Die Utopie der endgültigen Erlösung aus den Widersprüchen der modernen
       Gesellschaft ist nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts ein
       Kinderglaube. Die Utopie eines Zustands ohne offene, pluralistische,
       Widersprüche zulassende Gesellschaft ist ein totalitärer Gedanke. Zudem
       fehlt einer solchen Gesellschaft im Krisenfall – und dieser Fall, so hat
       sich historisch gezeigt, ist immer – die Fähigkeit, Lösungen zu finden,
       wenn sich der utopische Zustand durch die Widrigkeiten des Lebens nicht
       einstellen will. Denn sie hat ja die Widersprüche, den Ideenpluralismus
       beseitigt, aus dem heraus nur Alternativen entwickelt werden könnten.
       
       Solche Konzepte gibt es auch heute, etwa Islamismus und den neuen
       Nationalismus. Zweifellos sind dies massentaugliche politische Ideologien,
       und sie sind nicht deshalb weniger gefährlich, weil sie den klassischen
       Erlösungsutopien nicht entsprechen. Die Vorstellung, im Dschihad zum
       Märtyrer zu werden, ähnelt den Vorstellungen mittelalterlicher Kreuzritter.
       Mit einer Utopie als einer besseren hiesigen Zukunft hat sie wenig gemein.
       
       ## Der neue Nationalismus ist nicht neu
       
       Das gilt auch für den neuen Nationalismus, der weitgehend der alte ist. Es
       gibt nichts daran, was wir nicht schon in den 1920er oder 1950er Jahren
       gekannt hätten. In Deutschland sind die Neonazigruppen nicht neo, die
       rechtsradikalen Intellektuellen imitieren die konservative Revolution und
       warnen den Volkstod durch Einwanderung herbei. Aber eine Utopie? Man soll
       das alles nicht unterschätzen, aber im Wesentlichen sind das
       distinktionsbeflissene Radikalismen ohne gestalterische Kraft.
       
       Die Utopien unserer Zeit sind weniger utopisch. Sie verweisen nicht mehr
       auf das völlig Andere. Nach dem Konkurs der Erlösungsfantasien sind wir auf
       uns selbst zurückgeworfen, auf die Bedingungen, die wir vorfinden, auf die
       Prosaik der Gegenwart. Hat eine Gesellschaft aber gar kein Zutrauen mehr in
       den Gedanken, dass auch die ganz großen Probleme lösbar sind, so enthebt
       sie sich ihrer Zukunftsfähigkeit. So gesehen sind Visionen für eine
       Gesellschaft geradezu überlebensnotwendig, Visionen, die eine Zukunft
       beschreiben, die jenseits der Zwänge und systematischen Logiken der
       Gegenwart steht.
       
       Dafür gibt es Beispiele. Die Emanzipation der Frauen aus der Herrschaft der
       männlichen dominierten Gesellschaft transzendierte die systemischen Logiken
       ihrer Entstehungszeit, und zwar sowohl derjenigen der Jahre um 1900 als
       auch ihrer zweiten Entstehung in den 1960er und 1970er Jahren. Die Vision
       der Frauenbewegung war in den zeitgenössischen Debatten über den,
       marxistisch gesprochen, Hauptwiderspruch nicht eingeschrieben. Sie griff
       die bestehende Gesellschaft von eine Seite an, auf die sie nicht
       vorbereitet war.
       
       ## Seveso, Tschernobyl und Fukushima
       
       Das gilt auch für die frühe ökologische Bewegung. Die Vision, besser: die
       Dystopie einer ökologischen Katastrophe ungeahnten Ausmaßes stand ja lange
       Zeit im Geruch einer Wahnidee von Baumschützern und Körnergurus, bis durch
       Seveso, Tschernobyl oder Fukushima die Dramatik der Situation erkannt
       wurde.
       
       Eine Utopie in diesem Sinne ist nicht einfach die Vorstellung von der
       Verbesserung der bestehenden Zustände, sondern die Konzeption einer
       anderen Gesellschaft jenseits des zeitgenössisch wahrgenommenen
       Hauptkonflikts der Gegenwart.
       
       Betrachten wir die Widersprüche unserer Gegenwart und nehmen aktuelle
       Phänomene wie den Islamismus, Massenmigration, den wieder erstarkten
       Nationalismus zusammen, ist zu fragen: Gibt es eine Vision, die diesen
       Entwicklungen entgegenzustellen ist und die über sie hinausgreift?
       
       Wir können Islamismus und Massenmigration als zwei zugespitzte
       Ausdrucksformen der katastrophalen Zustände im globalen Süden verstehen,
       die nach jahrzehntelangen Versprechungen ohne Aussicht auf Verbesserung
       eine miserable Gegenwart und Zukunft für die Menschen dort bedeuten. Wir
       können den wieder erstarkenden Nationalismus im globalen Norden als
       Abwehrreaktion auf Massenmigration und andere Auswirkungen dieser Misere
       begreifen.
       
       ## Ausgleich zwischen Norden und Süden
       
       Die Utopie eines Ausgleichs zwischen Norden und Süden, der nicht nach den
       Bedingungen des Nordens und nicht allein nach den kurzfristigen Wünschen
       des Südens organisiert, sondern nachhaltig und gerecht ist, der keine
       endgültige Bereinigung von Widersprüchen verspricht, sondern eine immer
       weiter zu verbessernde Option mit Vorteilen für beide Seiten, wäre ein
       starkes Beispiel für die Aktualität von Utopien.
       
       So gibt es eine doppelte Aktualität von Utopien. Angesichts der
       tatsächlichen und der eingebildeten Bedrohungen, der schreienden weltweiten
       Differenzen zwischen Besitzenden und Armen können sich neue Varianten der
       Erlösungsutopien herausbilden, deren zerstörerische Kraft uns noch in
       schrecklicher Erinnerung ist. Das ist nicht sehr wahrscheinlich, aber auch
       nicht ausgeschlossen.
       
       Die andere Utopie wäre eine, die weite, unerreichbar scheinende Ziele
       formuliert und dadurch Kräfte akkumuliert, die sich in der bloßen
       Verwaltung des Bestehenden nie mobilmachen ließen. Und die doch um
       Begrenztheit und Widersprüchlichkeit solcher Konzepte weiß und sie
       einkalkuliert.
       
       Wir sind gut beraten, beiden Protagonisten zu misstrauen. Jenen, die große,
       weite Ziele ablehnen, weil sie unrealistisch seien und schon deshalb
       falsch. Und jenen, die uns erzählen, wenn dieser ersehnte Zustand erreicht
       sei, wären wir erlöst.
       
       1 Jan 2018
       
       ## AUTOREN
       
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