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       # taz.de -- Die Wahrheit: Kraken, erstaunlich in Ekstase
       
       > Die lustige Tierwelt und ihre gar ernste Erforschung geht in die 42.
       > Runde. Nun ist der Oktopus dran.
       
   IMG Bild: Krake „Octi“ aus Neuseeland gibt nicht auf – Futter naht in der Flasche!
       
       Die Krakenforschung in Europa und Amerika geht von einem Bild aus, das
       diese Weichtiere als besonders fremdartig und bedrohlich zeigt – bis hin zu
       Phantasmen wie in „Octopussy“ und „Stasi-Krake“. Wohingegen dieser
       Kopffüßler in Japan als eher trinkfreudig und sexbesessen gilt.
       
       Der französische Soziologe Roger Caillois hat dies in seinem „Versuch über
       die Logik des Imaginativen“ thematisiert: „Der Krake scheint aufrecht zu
       gehen wie ein Mensch. Sein kapuzenförmiger Kopf und die riesigen Augen
       erinnern an die als sadistisch verschrienen, in Kutten gehüllten Folterer
       einer geheimnisumwitterten Inquisition. Dieses Hirntier, um nicht zu sagen,
       dieser Intellektuelle, beobachtet immerzu, während er agiert. Diese
       Besonderheit, die offenbar sein innerstes Wesen zum Ausdruck bringt, läßt
       sich sogar bei Hokusais wollüstigen Kraken feststellen: Er beugt sich über
       den Körper der nackten Perlentaucherin, die er in Ekstase versetzt, und
       läßt sie nicht aus den Augen, als verschaffe es ihm zusätzlichen Genuß,
       ihre Lust zu beobachten.“
       
       In Deutschland überraschte der im „Sea Life Oberhausen“ lebende Krake
       „Paul“ die Öffentlichkeit, als er während der Fußball-WM 2010 als Orakel
       den Ausgang aller Spiele mit deutscher Beteiligung korrekt „voraussagte“.
       Seitdem jeder Fußballverein, der es sich leisten kann, einen
       Atlantik-Kraken in seinem Aquarium hält, hat sich der Preis zwar mehr als
       verzehnfacht, dafür hat sich aber das Image dieses rückgratlosen, jedoch
       sehr neugierigen Weichtieres enorm verbessert.
       
       Wie üblich zogen die Intellektuellen schnell nach. Den Anfang machte die
       Krakenforschung des Philosophen Vilem Flusser, der das Leben der kleinen
       Tiefseekrake Vampyroteuthis infernalis halluzinierte. Er bewegte sich dabei
       in der europäischen Tradition der spekulativen Philosophie, indem er für
       den Kraken eine spiralförmige Existenzweise entwarf, ja einen ganzen
       Neospiralismus.
       
       Dieser ist dann nicht mehr weit vom menschlichen entfernt, wie ihn zum
       Beispiel der „Rote Baron“ mit seinen sich immer höher schraubenden Flügen
       ohne Sauerstoff unternahm, wobei seine Notizen zunehmend unlesbarer wurden.
       Man spricht hier vom „Richthofen-Syndrom“.
       
       ## Sackgasse der Evolution
       
       Darüber hinaus haben beide – Oberflächenmensch und Tiefseekrake – noch dies
       gemeinsam: „Sie sind Sackgassen der Evolution“ laut Flusser. Der habe zudem
       „ein Wesen ausgewählt, bei dem es nicht ausgeschlossen ist, daß es über das
       verfügt, was unsere Philosophen die Fähigkeit zur Weltanschauung nennen,
       denn sein tierisches Volumen und jener Teil, der die neuronischen
       Verknüpfungen beinhaltet, ist groß genug“, schreibt der Kybernetiker
       Abraham Moles in einer Rezension der „Philosophiefiktion von Vilem
       Flusser“.
       
       Das Berliner Naturkundemuseum war nicht der erste Ort, der Flussers
       „Abhandlung“ eine Veranstaltung widmete, dazu zeigte man Vampyroteuthis
       infernalis in einem Glas mit Alkohol. Das braun verschrumpelte Tier wurde
       1903 während der deutschen „Valdivia-Tiefsee-Expedition“ gefangen. Der
       Expeditionszeichner meinte damals, „unser Herrgott hat anscheinend alle
       Dummheiten, die er gemacht hat, in die Tiefsee verbannt“.
       
       Der Krake und wir werden uns nie begegnen, denn er implodiert in unserem
       himmlischen Universum, und wir werden in seinem höllischen erdrückt. Aber
       das Museum zeigte noch einen Film, den ein US-Millionär aus seinem kleinen
       U-Boot heraus über das kaum fußballgroße Tier gedreht hatte, das in 1.000
       bis 4.000 Meter Tiefe in ewiger Dunkelheit lebt. Deswegen hat es neben
       seinen zwei Augen, die lidbewehrt und mit unseren nahezu identisch sind,
       auch noch zwei Leuchtorgane, ebenfalls mit Lidern, zudem zwei dünne, aber
       sehr lange Spiralfühler und zwei ohrenartige Flossen. Es hat keine Tinte
       zum Verspritzen, dafür kann es bei Gefahr ein Lichtfeuerwerk ausstoßen und
       sich mit seinen Häuten zwischen den Fangarmen komplett ummanteln.
       
       Zwei italienische Neurobiologen stellten mit bei Neapel gefangenen Kraken
       Intelligenztests an, die für Schlagzeilen sorgten, denn sie behaupteten,
       dass das Gehirn dieser Weichtiere ähnlich „hochdifferenziert wie das von
       Menschen“ sei. Obwohl ganz anders aufgebaut, besitze es die Fähigkeit des
       „Beobachtungslernens“. Der Meeresforscher Jacques-Yves Cousteau hatte zuvor
       gemeint: „Wenn ein Taucher die Augen eines großen Kraken auf sich gerichtet
       sieht, empfindet er eine Art Respekt, so als begegne er einem sehr klugen,
       sehr alten Tier.“
       
       ## Kraken-Knutschflecke
       
       In Amerika brachte das New England Aquarium in Boston die Krakenforschung
       voran, indem eine Gruppe ehrenamtlicher und festangestellter Mitarbeiter
       sich als „Mittwochsclub“ regelmäßig um die Becken von drei Kraken scharte.
       Sie streichelten ihre Köpfe und ließen ihre Arme von deren Tentakeln
       umringeln, wobei die Saugnäpfe daran „Knutschflecken“ hinterließen.
       
       Die Naturforscherin Sy Montgomery hat darüber ein Buch veröffentlicht:
       „Rendezvous mit einem Oktopus“. Dazu hat sie den Stand der internationalen
       Krakenforschung umrissen; das „Oktopus-Laboratorium“ am Middlesbury College
       in Vermont besucht und das Aquarium in Seattle, wo jährlich eine
       „Octopus-Blind-Date“-Veranstaltung stattfindet, die Massen von Besuchern
       anzieht. Dabei werden zwei im Pazifik gefangene Kraken getrennt in einem
       Becken gehalten.
       
       Am Valentinstag wird die Trennscheibe entfernt – und alle sind gespannt, ob
       sie sich auffressen oder verpaaren. Bei den Kraken, die nur drei bis vier
       Jahre leben, ist die Verpaarung der Höhepunkt ihres Lebens und zugleich ihr
       Tod. Die Männchen sterben kurz danach und die Weibchen langsam während der
       Brutpflege, sie können jedoch den männlichen Samen sehr lange zurückhalten.
       
       Sy Montgomery lernte auch tauchen, um anschließend vor einer mexikanischen
       und einer polynesischen Insel Kraken in Freiheit zu beobachten. Dabei wagte
       sie in ihrer Begeisterung immer noch steilere Thesen und nennt zum Beispiel
       das Verfolgen eines Krakenweibchens durch ihre Tauchgruppe eine „Magical
       Mystery Tour – ihr Farbwechsel gilt uns“.
       
       Montgomerys Bestseller ist ein amerikanischer „philosophical mix“ aus
       körperlichem Experiment, christlicher Mystik und wissenschaftlichen „hard
       facts“. Unser bestsellernder Ökoförster Peter Wohlleben, der auch
       seelsorgerisch unterwegs ist, behauptet auf einem Cover: „Wer dieses Buch
       gelesen hat, versteht die Seele der Ozeane.“ Das ist völliger Quatsch!
       
       20 Nov 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Helmut Höge
       
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