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       # taz.de -- Berliner Monitoring Jugendgewalt: Die Hemmschwelle sinkt
       
       > Jugendgewalt nimmt nach langer Zeit wieder zu. Autoren warnen vor
       > schnellen Deutungen und fordern gezielte Prävention.
       
   IMG Bild: Auch die Zahl der Gewalt- und Rohheitsdelikte an Grundschulen nimmt zu
       
       Jugendliche, die in einer U-Bahn-Station beinahe einen Obdachlosen
       anzünden; Jugendgruppen, die sich am Alex bis aufs Blut bekriegen: In der
       öffentlich-medialen Wahrnehmung gewinnt das Thema Jugendgewalt an
       Bedeutung. Nicht ganz zu Unrecht, wie der am Dienstag vorgestellte 4.
       Bericht „Berliner Monitoring Jugendgewaltdelinquenz 2017“ zeigt:
       Tatsächlich steigt die Jugendgewalt in Berlin wieder an. Von 2006 bis 2015
       war sie dagegen kontinuierlich zurückgegangen.
       
       Allerdings ist die öffentliche Wahrnehmung verzerrt, denn die Zahlen sind
       weiter auf einem sehr niedrigen Niveau. So waren 2016 nur 1,8 Prozent der
       8- bis 21-Jährigen als Tatverdächtige für Rohheitsdelikte registriert.
       „Aber jeder ist einer zu viel“, erklärte Innenstaatssekretär Christian
       Gaebler (SPD) bei einer Fachtagung, auf der der Bericht vorgestellt wurde.
       Daher werde der Senat finanzielle Hilfen für Gewaltprävention weiter
       ausbauen: Die Bezirke würden zusätzlich je 135.000 Euro für ausgewählte
       Projekte bekommen, so Gaebler.
       
       Der Bericht „Berliner Monitoring Jugendgewaltdelinquenz“ wird seit 2013
       jährlich von der damals gegründeten „Arbeitsstelle Jugendgewaltprävention“
       der Landeskommission Berlin gegen Gewalt erstellt. Er zeigt die Entwicklung
       von Jugendgewalt auf, untersucht bestehende Präventionsangebote und gibt
       Handlungsempfehlungen für die weitere Arbeit.
       
       ## Faktor soziale Lage
       
       Der neuerliche Anstieg geht laut Studie vor allem auf das Konto der
       „Nichtdeutschen“, bei „Deutschen“ sowie „Deutschen mit
       Migrationshintergrund“ seien die Deliktzahlen weiter rückläufig. Allerdings
       seien diese Kategorien mit Vorsicht zu genießen, so Miriam Schroel-Hippel
       von der Arbeitsstelle. Wissenschaftlich ist die Einteilung Tatverdächtiger
       nach Herkunft umstritten, unter anderem, weil Menschen, die „nichtdeutsch“
       aussehen, öfter unter Tatverdacht geraten. Dennoch hält der Bericht
       „vorläufig“ fest, dass 2015 und 2106, als viele Flüchtlinge nach Berlin
       kamen, auch die Zahl der jungen nichtdeutschen Tatverdächtigen stieg – 2016
       auch überproportional. Das weise „auf entsprechende Präventionsbedarfe
       hin“, halten die Autoren daher fest.
       
       Wenig überraschend zudem, dass in armen „Bezirksregionen“ – der Bericht
       teilt die Bezirke in 138 Regionen auf – die Jugendgewalt höher ist als in
       wohlhabenden Wohngebieten. „Die soziale Lage einer Region bildet den
       zentralen Einflussfaktor für Jugendgewalt“, sagte Schroer-Hippel.
       
       Weitere negative Faktoren seien unter anderem häusliche Gewalt oder
       Schulabstinenz – vulgo chronisches Schwänzen. Unter den Bezirken liege seit
       vielen Jahren Mitte an erster Stelle: Hier gebe es Regionen mit hoher
       Sozialbelastung wie auch solche „mit viel Publikum“ wie den Alex, die
       ebenfalls „Raumtypen mit hoher Gewaltbelastung“ seien.
       
       Ein gesondertes Kapitel widmet der Bericht der Gewalt an Schulen. Zum einen
       fänden hier 40 Prozent der gemeldeten Delikte statt, so Albrecht Lüter,
       zweiter Studienautor. Zum anderen sei Schule aber auch „zentraler Ort der
       Prävention: Hier werden alle erreicht – zumindest theoretisch“. Auch an
       Schulen wurde 2016 ein „deutlicher Anstieg“ verzeichnet. Für die Forscher
       auffällig: Während Schulgewalt bei Jugendlichen weiter zurückgeht, nimmt
       sie bei Kindern zwischen 8 und 14 Jahren zu: „Vor allem an Grundschulen“,
       betonte Lüter. „Hier ist Prävention also ein großes Thema.“
       
       Eine Zunahme der Gewaltvorfälle an Schulen konstatiert nicht nur die
       Polizeistatistik. Auch der Senatsbildungsverwaltung würden immer mehr
       Delikte aus den Schulen gemeldet, erklärte Lüter. Das seien vor allem Fälle
       mit „niedrigem Gefährdungsgrad“ wie Beleidigung oder Drohung. Aber auch
       schwere körperliche Gewalt und Übergriffe auf Lehrkräfte nähmen zu. Daher
       könne man den Anstieg der Zahlen auch nicht nur mit einer gestiegenen
       Sensibilität der Schulen erklären.
       
       Wohl eher trifft hier zu, was in der Öffentlichkeit auch für die
       Erwachsenenwelt konstatiert wird. Gaebler brachte es auf den Punkt: „Die
       Hemmschwellen werden abgebaut.“
       
       21 Nov 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Susanne Memarnia
       
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