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       # taz.de -- Rebellenclub von früher bis heute: Eine Geschichte ohne Helden
       
       > Mit einer Ausstellung setzt sich der FC St. Pauli mit der eigenen
       > Vergangenheit auseinander – und räumt auf mit dem Klischee vom Antifa-
       > und Arbeiterverein
       
   IMG Bild: Sogar schon ohne Fans: Klare Ansage auf St. Pauli
       
       Der Weg in die Vergangenheit führt über die Gegenwart: Im Eingangsbereich
       trifft der Besucher erst mal auf Fotografien, die zeigen, was das aktuelle
       Image des FC St. Pauli prägt: durchgestrichene-Hakenkreuz-Transparente im
       Fanblock, antifaschistische Spruchbänder und – klar – die
       Totenkopfflaggen.
       
       Der Blick 30 Jahre zurück zeigt dann schon ein anderes Bild:
       Hamburg-Fahnen, als vorherrschende Kopfbedeckung Schiebermützen aus dem
       Fanshop – der noch anders geheißen haben wird – und Transparente, frei von
       solchen politischen Inhalten. Und nochmal 15 davor: Graue Hüte, graue
       Mäntel, steife Seriosität im Stadion am Millerntor.
       
       „Antifaschismus liegt nicht in der DNA dieses Vereins“, sagt Christoph
       Nagel, der die Ausstellung „Fußball in Trümmern. FC St. Pauli im ‚Dritten
       Reich‘“ kuratiert hat. Der Antifaschismus, wie wir ihn heute kennen, der
       das Image des derzeitigen Fußball-Zweitligisten ganz wesentlich mitprägt,
       hat seinen Ausgang in den späten 1980er-, frühen 1990er-Jahren: Damals
       entdeckte die Hausbesetzerszene rund um die nahe Hafenstraße das Millerntor
       für sich, politische Parolen hielten Einzug, und ein Bild begann sich zu
       formen: das vom politisch und sozial engagierten Verein, in dem ausländer-,
       frauen-, schwulen- oder behindertenfeindliche Äußerungen keinen Raum haben.
       
       Die Macher der Ausstellung rücken aber nicht das Klischee vom
       traditionellen Antifaschismus des Vereins gerade. Sie räumen auch auf mit
       der so anschlussfähigen Mär von seinen angeblich proletarischen Wurzel.
       Denn der FC St. Pauli entstand Anfang des 20. Jahrhunderts nicht als
       Arbeitersportverein, er ist ein Spross der bürgerlichen, national gesinnten
       Turnerbewegung.
       
       „Der FC St. Pauli war ein vorsichtig und geschickt agierender
       Mitläufer-Verein“, fasst Kurator Nagel zusammen, was die ausgestellten
       Exponate facettenreich belegen. „Der Verein hat nichts getan, was ihn
       politisch angreifbar gemacht hätte, er hat sich aber auch nicht besonders
       offensiv im Sinne der NS-Machthaber verhalten.“
       
       Das zeigt beispielhaft der Umgang mit dem „Arierparagraphen“, der Juden aus
       den Sportvereinen ausschloss: Viele Vereine übernahmen diese Regelung
       bereits 1933, der Klub vom Millerntor erst 1940 – da war er zur Pflicht
       geworden. Und noch etwas ist Nagel wichtig: „Der Verein und seine
       Repräsentanten haben in der NS-Zeit keinen nachweisbaren oder gar
       organisierten Widerstand gegen die Machthaber ausgeübt.“
       
       So gibt es auch „keine einzige Heldengeschichte“ unter den sieben St.
       Paulianern, die den roten Faden der Ausstellung bilden: Sieben Lebensläufe
       von Funktionären, Spielern, Klubmitgliedern sollen exemplarisch aufzeigen,
       wie einzelne St. Paulianer im Nationalsozialismus agierten. „Wir wollten
       die Geschichte nicht abstrakt erzählen, sondern anhand von Menschen, die
       man sich auch ansehen kann“, sagt Nagel.
       
       Dieser Ansatz ermuntert Besucher, sich immer wieder zu fragen: „Wie hättest
       du dich eigentlich verhalten?“ Parallel zur Ausstellung wurden ergänzende
       Materialien für den Schulunterricht ab Klasse neun erarbeitet, regelmäßig
       werden Workshops und Führungen für Schulklassen angeboten.
       
       ## Gründer tauchen ab
       
       Zu den sieben Porträtierten gehört der langjährige Klubpräsident und
       „Vereinsführer“ Wilhelm Koch: Der trat 1937 in die NSDAP ein, wo er sich
       dann zwar nicht engagierte. Aber er pflegte trotzdem gute Drähte zum Regime
       – zum Wohle des Vereins. Da sind auch die Brüder Lang, die in den
       1930er-Jahren zum FC St. Pauli stießen, weil sie dort als Juden noch Sport
       treiben durften, als das anderswo schon nicht mehr ging. Sie bauten die bis
       heute enorm erfolgreiche Rugby-Abteilung auf – und verschwanden plötzlich
       von der Bildfläche. Der Klub unterstützte sie nicht etwa – ganz im
       Gegenteil: Die beiden wurden aus den Vereinsannalen getilgt, schnell und
       beinahe spurlos.
       
       Da ist ein Herbert Müller, der sich weigerte, in die Hitlerjugend
       einzutreten, aber später ein Rädchen in der deutschen Rüstungsmaschinerie
       wurde. Und da ist auch Peter Jürs: Er bewahrte mittels gefälschter Papiere
       junge Männer davor, in die Wehrmacht einberufen zu werden und am Krieg
       teilzunehmen.
       
       Für diese Dienstleistungen kassierte er ordentlich, zahlte aber am Ende
       auch selbst: Wegen „Wehrkraftzersetzung“ kam er ins Konzentrationslager
       Neuengamme, bei dessen Evakuierung durch die SS er den Tod fand. Biografien
       aus einer Zeit, in der offener Widerstand den Tod bedeutete und Anpassung
       hieß, schuldig zu werden und jedes humanistische Ideal zu verraten.
       
       So gibt es wirklich keine Heldengeschichte, dafür aber die eines
       eindeutigen Täters: Otto Wolff, ab 1930 NSDAP-Mitglied und später
       Standartenführer der SS – und aktives Mitglied des FC St. Pauli. Er war
       maßgeblich an der „Entjudung“ zahlreicher Hamburger Unternehmen beteiligt,
       trieb die Enteignung jüdischen Besitzes voran. Noch heute trägt ein von ihm
       mitbegründetes Versicherungsunternehmen seinen Namen.
       
       In der Ausstellung nun finden sich zwei Zitate über Wolff: Der zeitweilige
       Hamburger Kultursenator Hans-Harder Biermann-Ratjen (FDP) nannte ihn 1951
       einen „der schlimmsten und brutalsten Schergen des absoluten Antisemitismus
       in der Wirtschaft“. Und die Vereinszeitung des FC St. Pauli schrieb, mehr
       als 20 Jahre später: „Der FC. St. Pauli bekam besonders während des letzten
       Krieges die hilfs- und segensreiche Hand unseres lieben Otto zu spüren.“
       
       Diese Würdigung charakterisiert die lange unterbliebene Aufarbeitung der
       „dunklen Zeit“ durch die deutschen Sportvereine insgesamt und speziell den
       FC. St. Pauli. Der hannoversche Sport-Historiker Lorenz Peiffer, der die
       Archive vieler Fußball-Klubs durchforstete, spricht von einer „kollektiven
       Amnesie“ in den Vereinen, die oftmals bis heute andauere. Der FC St. Pauli
       sei einer der „ganz wenigen Vereine“, die sich seiner Geschichte offensiv
       stellten, so Peiffer – aber auch das erst seit einigen Jahren.
       
       Ein Meilenstein der Aufarbeitung war, dass die Mitglieder des Vereins 1998
       mit großer Mehrheit beschlossen, dass die Spielstädte der Profimannschaft
       nicht mehr „Wilhelm Koch-Stadion“ heißen solle, sondern „Millerntor“. Ein
       zuvor bei dem Historiker Frank Bajohr in Auftrag gegebenes Gutachten hatte
       dem 36 Jahre amtierenden Vereinspräsidenten Koch zwar bescheinigt, dass er
       nicht politisch im Sinne der Nationalsozialisten aktiv war.
       
       Aber für die meisten Mitglieder war es trotzdem unerträglich, „ihr“ Stadion
       nach einem NSDAP-Mitglied benannt zu sehen. Ein anderer Meilenstein: Als
       erster Deutscher Verein untersagte der FC 1991 in seiner Stadionordnung
       ausdrücklich das Rufen und Zeigen rechter und rassistischer Parolen.
       
       ## NS-Vergangenheit war lange kein Thema
       
       In der offiziellen Festschrift zum 75-jährigen Vereinsjubiläum – das war
       1985 – fehlt noch jede kritische Befassung mit der Zeit zwischen 1933 und
       1945. In dem Buch, das Nagel 2010 zusammen mit Michael Pahl zum
       100-jährigen Bestehen des Vereins vorlegten, nimmt diese Aufarbeitung
       hingegen breiten Raum ein – und vieles davon findet sich in der aktuellen
       Ausstellung wieder. Es ist übrigens die vierte temporäre Ausstellung, die
       das in Gründung befindliche Vereinsmuseum in der Stadion-Gegengerade
       konzipiert hat.
       
       Für das Thema gebe es zwei Gründe, sagt Nagel: „Gerade als Verein, der so
       klare Kante gegen Rechts zeigt wie der FC St. Pauli heutzutage , müssen wir
       uns natürlich für unsere eigene Geschichte während des Nationalsozialismus
       interessieren, Das Thema das für uns besonders wichtig.“ Er nennt aber auch
       die AfD, Erdoğan und Trump als Chiffren für eine Rückwendung zu
       totalitären, nationalistischen Ideologien und Herrschaftsmodellen. Dagegen,
       so Nagel, gelte es Zeichen zu setzen.
       
       Voraussichtlich 2020 soll das von der Basis zunächst gegen die damalige
       Vereinsführung erkämpfte und selbst finanzierte Museum auch den
       Dauerbetrieb eröffnen; für Nagel „das größte von Fans angestoßene Projekt
       im deutschen Fußball“. Während der Bauphase soll es weitere temporäre
       Ausstellungen geben.
       
       14 Nov 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Marco Carini
       
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