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       # taz.de -- Politikerin über Kurden in der Türkei: „Wir sind erschöpft von der Gewalt“
       
       > Leyla Imret wurde 2014 Bürgermeisterin der Stadt Cizre im Südosten der
       > Türkei. Nach einem Jahr enthob die AKP-Regierung sie des Amtes.
       
   IMG Bild: Zerstörungen in der südosttürkischen Stadt Cizre
       
       Leyla Imret wuchs bei Verwandten in Bremen auf. Aus Sicherheitsgründen
       hatte ihre Mutter sie als Kind dorthin geschickt, nachdem ihr Vater 1991
       bei Gefechten in der Südosttürkei getötet wurde. Knapp zwei Jahrzehnte
       später entschließt sie sich, wieder in die Türkei zurückzukehren. Im Zuge
       der verheißungsvollen Kurdenpolitik der AKP-Regierung wird die 26-jährige
       Leyla Imret 2014 in ihrer Heimatstadt Cizre zur Bürgermeisterin gewählt. 
       
       Seit Ende 2015 herrscht in Cizre der Ausnahmezustand, wochenlang gibt es in
       der Stadt weder Wasser, Strom noch Lebensmittel. Bei Gefechten zwischen dem
       türkischen Militär und der bewaffneten kurdischen Arbeiterpartei PKK
       sterben etliche Zivilisten, vor allem weil die türkische Luftwaffe jene
       Keller beschießt, in denen Bürger*innen Schutz suchen. Bürgermeisterin
       Imret wird im September 2015 des Amtes enthoben und mehrmals festgenommen.
       Nach dem Putschversuch im Sommer 2016 taucht sie unter. Jetzt ist sie in
       Deutschland. Dies ist das erste Interview mit Leyla Imret nach ihrer
       Ausreise aus der Türkei. 
       
       taz: Frau Imret, in „Dil Leyla“, einem gerade erschienenen Dokumentarfilm
       über Sie von Aslı Özarslan, sagen Sie: „Würde ich aus Cizre fliehen, würde
       ich mich damit für schuldig erklären. Aber ich habe nichts getan.“ Wieso
       sind Sie nun in Deutschland?
       
       Leyla Imret: Ich bin nicht geflüchtet. Ich betrachte das als Rückzug.
       Tatsächlich hatte ich niemals vor, das Land zu verlassen. Selbst nach
       meiner dritten Verhaftung wollte ich bleiben.
       
       Was hat Sie dazu veranlasst, doch zu gehen? 
       
       Ich vertraue der türkischen Justiz nicht mehr. Nach dem Putschversuch
       wurden etliche Bürgermeister*innen verhaftet, und mir wurde klar, dass der
       Befehl von weit oben kommt. Du kannst dich nicht mehr auf das Gewissen des
       Richters verlassen.
       
       Was wird Ihnen konkret vorgeworfen? 
       
       Ich werde dafür angeklagt, eine alternative Regierung betrieben zu haben.
       
       Sie sind zu den Kommunalwahlen 2014 erstmals als Kandidatin der BDP, der
       regionalen Schwesterpartei der prokurdisch-linken HDP, angetreten. Mit 83
       Prozent der Stimmen wurden sie zur Bürgermeisterin der Stadt Cizre gewählt.
       Ein Jahr später, im September 2015, hat die Regierung Sie Ihres Amtes
       enthoben. 
       
       Ja, ich erhielt eine Mitteilung vom Innenminister, in der stand, dass ich
       seit drei Wochen nicht mehr im Amt sei. Eine Begründung gab es nicht. Nur,
       dass die Amtsenthebung für zwei Monate galt. Diese wird bis heute alle zwei
       Monate um je zwei Monate verlängert.
       
       Haben Sie Ihr Amt niedergelegt, nachdem Sie dieses Schreiben erhalten
       haben? 
       
       Nein, mein Stellvertreter übernahm offiziell meinen Posten und erklärte
       mich wiederum zu seiner Stellvertreterin. Auf diese Weise bin ich aktiv
       geblieben.
       
       Also inoffiziell waren Sie weiterhin als Bürgermeisterin tätig. Wie sah das
       im Alltag aus? 
       
       Im November 2015 wurde ich in Diyarbakır verhaftet, wegen eines falsch
       zitierten Vice-Interviews. Doch ich habe dem Richter das Originalinterview
       vorgelegt und sie ließen mich am selben Tag wieder gehen. Danach konnte ich
       mich frei bewegen und ging zum Arbeiten sogar ins Rathaus. Ich habe ein
       Kulturzentrum für Jugendliche mit aufgebaut und eine Kampagne für eine
       umweltbewusste Stadt initiiert. Meine Meinung war der Gemeinde wichtig,
       denn für die Bevölkerung war ich nach wie vor die Bürgermeisterin. Selbst
       der Gouverneur wusste von diesem Vorgehen. Auch er hat mich als gewählte
       Person betrachtet. Jeder wusste, dass meine Absetzung eine politische
       Entscheidung war.
       
       Ende 2016, ein Jahr nach Ihrer Amtsenthebung, setzte die türkische
       Regierung in etlichen kurdischen Städten Zwangsverwalter ein. Auch in
       Cizre, wo ihr Co-Bürgermeister endgültig abgesetzt wurde. Wo waren Sie zu
       dem Zeitpunkt? 
       
       Ich wurde einen Tag zuvor festgenommen. Die Polizei stand um 3 Uhr morgens
       mit einem Haftbefehl vor meiner Haustür. Das hat mich überrascht, denn
       wenige Wochen später sollte ich sowieso eine Gerichtsverhandlung haben. Sie
       haben meine Wohnung auf den Kopf gestellt und mich in Untersuchungshaft
       gesteckt. Gegen Mittag kam ein Polizist in meine Zelle und sagte: „Der
       Gouverneur ist der neue Bürgermeister.“ Da wusste ich, weshalb sie mich
       verhaftet hatten.
       
       Und warum? 
       
       Die AKP hatte immer wieder die Zwangsverwaltung angekündigt, aber wir waren
       zuversichtlich, dass ihnen das nicht so einfach gelingen würde. Wir würden
       nicht ohne Widerstand gehen. Die Regierung wusste, dass ich sehr beliebt in
       der Bevölkerung bin. Drei Tage später wurde ich, ohne dem Richter
       vorgeführt zu werden, entlassen. Also erst als sie sicher waren, dass es
       keinen Aufstand gibt. Dasselbe passierte in 28 weiteren Provinzen.
       
       Der Zwangsverwalter saß nun in Ihrem Büro? Was haben Sie gemacht? 
       
       Da ich nicht mehr ins Rathaus konnte, habe ich vom Parteibüro aus
       weitergearbeitet.
       
       Wie ist die Regierung damit umgegangen? 
       
       Das hat ihnen nicht gepasst. Anfang Dezember kamen sie zum vierten Mal in
       meine Wohnung, um mich zu verhaften, doch ich war nicht zu Hause. Und als
       ich davon erfuhr, bin ich nicht mehr zurückgegangen.
       
       Wo sind Sie hin? 
       
       Ungefähr zehn Tage später habe ich Cizre verlassen, über inoffizielle Wege
       gelangte ich nach Basur-Kurdistan (autonome Region Kurdistan in Nord-Irak).
       In Erbil bin ich zur deutschen Botschaft gegangen. Als mir dort bestätigt
       wurde, dass ich ausreisen kann, bin ich von Sulaimaniyya nach Deutschland
       geflogen.
       
       Wie ist hier Ihr Aufenthaltsstatus? 
       
       Ich habe eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung. Als ich in die Türkei
       gezogen bin, hätte ich alle sechs Monate nach Deutschland einreisen müssen,
       um diesen Status nicht zu verlieren. Aber die türkische Regierung erlegte
       mir ein Ausreiseverbot auf. Über meinen Anwalt erkämpfte ich, dass mein
       Aufenthaltsstatus nicht verfällt.
       
       Wie geht es Ihnen jetzt? 
       
       Ich fühle mich immer noch als Bürgermeisterin, auch wenn ich nicht vor Ort
       bin. Und ich bin nicht allein hier. Andere HDP-Abgeordnete sind auch in
       Deutschland. Wir reden mit Parteien und Stiftungen und möchten, dass die
       Türkei wieder Friedensgespräche mit der PKK aufnimmt. Dies kann nur mit
       internationalem Druck erfolgen. Während der Friedensverhandlungen vor drei
       Jahren waren die Menschen voller Hoffnung. Kein Polizist, kein Soldat, kein
       Guerilla ist gestorben. Um die Türkei zu demokratisieren, muss die
       Kurdenfrage gelöst werden. Das sagt unsere Partei seit Jahren: Es gibt
       keine andere Lösung.
       
       Sie sind also gegen den bewaffneten Kampf? 
       
       Wir sind ausdrücklich gegen den bewaffneten Kampf.
       
       Sie haben erzählt, in Cizre sei es heute fast schlimmer als während der
       bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen der PKK und dem türkischen
       Militär in den 90er Jahren. Wie sollen junge Menschen noch an eine
       politische Lösung glauben? Besteht da nicht die Gefahr einer
       Re-Radikalisierung? 
       
       Die Menschen sind erschöpft von der Gewalt. Die Hoffnung auf Frieden war
       sehr groß. Deshalb hatte die HDP eine breite Unterstützung und war so
       erfolgreich. Die Lösung ist einfach: Der Dialog muss wieder aufgenommen
       werden. Der Schlüssel dafür liegt in İmralı, dort, wo PKK-Mitbegründer
       Abdullah Öcalan seit 1999 in Einzelhaft sitzt.
       
       Wird die HDP sich von Öcalan je lösen können? Viele türkische Wähler*innen
       sehen ein großes Problem darin, dass die HDP immer noch mit der PKK
       zusammenhängt. 
       
       Die PKK ist eine bewaffnete Organisation. Und die HDP ist eine politische
       Partei. Aber ja, es gibt einen großen Respekt gegenüber Öcalan. Wir werden
       als Mitglieder einer Terrororganisation angeklagt, weil wir Öcalan nicht
       als Terroristen bezeichnen. Aber letztendlich war es die AKP-Regierung, die
       Öcalan während der Friedensverhandlungen 2013–2015 als politische
       Führungsperson anerkannte.
       
       2015 wurde bei der Newroz-Feier in Diyarbakır ein Brief von Öcalan
       öffentlich auf Türkisch und Kurdisch verlesen, die türkische Presse
       berichtete darüber. 
       
       Ja, das war eine Anerkennung. Die Regierung kann uns also nicht dafür
       verurteilen. Sie wissen ganz genau, dass das Verhandeln mit Öcalan der
       einzige Weg für den Frieden ist. Die türkische Regierung wirft der
       kurdischen Bewegung vor, sie wolle das Land spalten. Aber das stimmt nicht.
       Wir sind für einen konföderalistischen Staat, in dem alle Menschen
       unabhängig von ihrem ethnischen oder religiösen Hintergrund gleichgestellt
       sind.
       
       Wie ist es derzeit in Cizre? 
       
       Es herrscht noch der Ausnahmezustand. Man sagt, dass die Zeit alle Wunden
       heilt, aber manche Wunden kann man nicht heilen. Viele Familien haben ihre
       Häuser und ihre Kinder verloren. Wie will man denen helfen? Ich habe
       während der Ausgangssperre mit einer Mutter gesprochen, deren Kind bei
       Gefechten getötet wurde. Statt ihren eigenen Verlust zu betrauern, tröstete
       sie mich. Das Volk von Cizre hat so viel durchgemacht, und es wünscht sich
       heute nichts mehr als Frieden.
       
       Es gibt immer wieder den Vorschlag, dass die EU-Beitrittsgespräche mit der
       Türkei abgebrochen werden sollen. Ist das der richtige Weg für eine
       Demokratisierung? 
       
       Das sind wichtige Schritte, aber sie greifen zu kurz. Die Inhaftierung von
       gewählten Vertreter*innen des Volkes ist antidemokratisch. Ich fände da ein
       härteres Vorgehen angebracht.
       
       Zum Beispiel? 
       
       Es sollte nicht nur um deutsche Staatsbürger und inhaftierte Journalisten
       wie Deniz Yücel gehen. Bürgermeisterämter wurden zwangsbesetzt, Politiker
       inhaftiert und Städte zerstört. Deutschland verkauft immer noch Waffen an
       die Türkei. Mit diesen werden dort Städte zerstört. Eine weitreichende
       Maßnahme wäre, Wirtschaftsbeziehungen zu stoppen. Leider passiert das
       nicht.
       
       27 Nov 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ebru Tasdemir
   DIR Canset Icpinar
       
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